Bruckner, Anton: Sinfonie Nr. 3 - Erstfassung 1873

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teleton
Inventar
#1 erstellt: 21. Jun 2005, 08:32
Hallo Bruckner-Freunde,

von den meisten Dirigenten wird zur Aufführung der Sinfonie Nr.3 meistens die Drittfassung von 1888/89 verwendet, oder machmal auch die Zweitfassung von 1877. Aus meiner Sicht liegt das wohl daran, das die Drittfassung kurzweiliger und aufgeräumer beim Hörer ankommt als die Urfassung.
Die Bearbeitungen und starken Kürzungen wurden von Brucknerschülern und dem Meister Bruckner selbst vorgenommen.
Erst 1977, 103 Jahre nach Beendigung der Komposition, wurde die Originalfassung 1873 von Leopold Novak veröffentlicht. Es ist ein glücklicher Umstand, daß diese Originalfassung in der Abschrift erhalten geblieben ist, die Richard Wagner mit folgenden Worten gewidtmet ist: „Dem unerreichten, weltberühmten, erhabeben Meister der Dicht-und Tonkunst“.
Der erste Satz hat riesige Ausmaße und enthält u.a. Wagner-Zitate aus dem zweiten Akt der Oper Lohengrin. Der 2.Satz, auch länger als gewohnt, enthält extrem schwierige Sykopierungen, die in den späteren Fassungen entfernt wurden und die wohl auch dazu führten, das die Wiener PH damals die Sinfonie als unspielbar zurückwiesen. Der 3.Satz Scherzo ist in seiner Form unverändert geblieben. Der 4.Satz wurde in Auftrag und in Zusammenarbeit Bruckners von seinem überaus geschätzten Schüler Franz Schalk für die spätere Fassung fast vollständig neu komponiert. Schalk kürzte das Stück nicht nur beträchtlich, sondern er und sein Meister übertrug, zu ihrem Nachteil für den Satz, die unregelmäßigen Muster in regelmäßige viertaktige Gruppen.

Diese Urfassung, ohne die umfangreichen Veränderungen, wollte ich nun einmal kennenlernen und entschied mich für die in der Kritik nicht schlecht beurteilte Fassung mit Georg Tintner / Royal Scottish National Orchestra auf NAXOS (Aufnahme 1998 DDD).
Was ich da zu hören bekam hat mich schockiert (wie seinerzeit der Test mit Harnoncourts Brahms-Sinfonien); wie Tintner am Detail herumbosselt, ohne jegliche Spannung, ausgelöst durch ein viel zu langsames Tempo; Steigerungen kommen absoltut ohne Emphase, einfach langweilig. Das soll Bruckner sein? Nein, die Sinfonie zerfällt in ihre Bestandteile ! Dennoch mal interessant wie die Urfassung aufgebaut ist, aber Bruckner (unter Tintner) war das bei weitem nicht.
Erst die nachfolgend aufgelegte DG-Karajan-Aufnahme der Sinfonie Nr.3 (1888/89) hat meine Bruckner-Welt wieder in Ordnung gebracht !

Vorige Woche fiel mir in einem Bonner CD-Laden die CD der Erstfassung 1873 mit
Eliahu Inbal /Frankfurter RSO auf Teldec/APEX (Aufnahme 1983 DDD) in die Hände. Sogleich sah ich mir die Spielzeiten an – das mußte was anderes, besseres als das Tintnersche Zerfallsprodukt sein - für 4,90€ war die APEX-CD ein Glückskauf:
Am Abend hörte ich mir diese Urfassung der Sinfonie Nr.3 mit Inbal an, schon die ersten Takte des ersten Satzes ließen auf eine „richtige“ Bruckner-Welt schließen – und --- der Rest war auch in Ordnung. Die Inbal-Aufnahme und die Urfassung haben mich wirklich ergriffen. Man hat quasi eine neue Bruckner-Sinfonie vor sich, die gegenüber den Spätfassungen deutlich mehr Stoff zu verarbeiten hat.
Die Durchführung und das Finale im 1.Satz sind energisch Interpretiert und die Frankfurter scheinen an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit zu kommen, was die Aufnahme spannend macht. Zwar merkt man im Vergleich zu Karajan, insbesondere beim unveränderten 3.Satz, wo die Glocken hängen (Karajan und die Berliner PH sind weitaus präziser), aber die Frankfurter sind eben keine Berliner PH.
Insgesamt aber eine tolle Empfehlung für die Urfassung, in der so viel Neues steckt, das hier bei Inbal angemessen umgesetzt wird. Schon lange vorher war die frühe Sinfonie f-moll (ohne Nr.) mit Inbal und den Frankfurtern auf Teldec für mich ein positiver CD-Kauf.

Hier die Spielzeiten, die verdeutlichen, welche Zerfallwirkung ein zu langsames Tempo auslösen kann:
1.Allegro........Tintner..30:34...........Inbal..24:00
2.Adagio....................20:37...................18:53
3.Scherzo...................06:47...................06:07
4.Allegro.....................19:22...................16:37
Gesamtzeit..................77:32...................65:30

Das sind über 12Minuten Spielzeitunterschied für die ganze Sinfonie! Wenn man die ohnehin nicht gerade kurzweilige Urfassung so aufdröselt, kann das nichts werden.
Nicht das ich was gegen langsamere Tempi habe - es gibt in der Diskographie andere positive Beispiele für Interpretationen mit langen Spielzeiten (z.Bsp. Bernstein´s spätere DG-Aufnahmen der Brahms-, Sibelius- und Tschaikowsky-Sinfonien(außer Nr.6)), die genial umgesetzt wurden.
Die Klangqualität beider Aufnahmen (Teldec und Naxos) ist auf einem guten Klangniveau mit natürlicher Abbildung des Orchesters.
embe
Stammgast
#2 erstellt: 21. Jun 2005, 09:58
Hallo Wolfgang,
seit kurzer Zeit höre ich die SACD von Tudor mit Nott und den Bambergern.
Die schlägt klanglich zumindest beide von dir genannten Aufnahmen.
Interpretatorisch ist das Geschmackssache, Nott ist jedenfalls flott.
Was Brucknergott Cohrs wohl über die Aufnahme schreibt?
Gruß
embe
op111
Moderator
#3 erstellt: 21. Jun 2005, 10:19

embe schrieb:
seit kurzer Zeit höre ich die SACD von Tudor mit Nott und den Bambergern.
Was Brucknergott Cohrs wohl über die Aufnahme schreibt?


Hallo Brucknerfans,

der "Brucknergott" B. Cohrs hat schon was gesagt:


http://www.klassik-heute.de/besprechungen/16171.shtml

A. Bruckner: Sinfonie Nr. 3 d-Moll (Wagner-Sinfonie, 1. Fssg. 1873)
Bamberger Symphoniker, Jonathan Nott (Leitung)
Tudor 7133
(CD/SACD stereo/surround 63' 2003)

Künstlerische Qualität: 9
Klangqualität: 8
Gesamteindruck: 9

Also sprach der "Brucknergott":


... Nach der insgesamt gescheiterten Interpretation durch Kent Nagano hat sich nun Jonathan Nott mit seinen Bamberger Symphonikern des Kolosses angenommen und auf Anhieb einen Treffer gelandet: Mit nur wenigen Einschränkungen (Finale!) würde ich dies die bislang wohl überzeugendste Interpretation des Werkes nennen.

Nott ist eher auf der schnellen Seite mit 63.12 Gesamtspielzeit liegt er eine Viertelstunde unter George Tintner (Naxos 8.553454, 77.34). Seine Tempo-Auffassung orientiert sich eher an der von Roger Norrington, vermeidet aber insbesondere dessen extreme Tempo-Schwankungen im ersten Satz. ...

soweit Benjamin G. Cohrs (Klassik heute, 11.02.2005), vollst Text siehe Link oben

amazon.de

Über Nott mitreden kann ich nicht, ich kaufe keine SACDs,
ich habe bisher nur die "alte" Inbal-Aufnahme dieser Fassung im Regal, die mir gar nicht so schlecht gefällt.

"Classics Today" favorisiert die Aufnahmen von
Tintner, Wildner und Nagano: Interpretation 10

Royal Scottish National Orchestra
Georg Tintner, Naxos, 10/10

Symphony No. 3 (1877 & 1889 versions); Adagio (1876)
New Philharmonic Orchestra of Westphalia
Johannes Wildner, Naxos 10/9

Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Kent Nagano, Harmonia Mundi, 10/10


Gruß
Franz


[Beitrag von op111 am 21. Jun 2005, 10:28 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#4 erstellt: 21. Jun 2005, 20:12
Lieber Teleton,

ich sehe die Dinge etwas anders als Du. Ich besitze auch die 2 Versionen der Urfassung mit Tintner und Inbal. Ich ziehe den Tinter vor. Gewiß läßt er sich bei Bruckner viel Zeit, aber das ist wohl auch angebracht.

Der Tintner hat einige Preise eingeheimst und er ist mir auch von Brucknerianern in einem Brucknerforum wärmstens empfohlen worden.

Im übrigen wird die Erstfassung der 3. auch von Robert Simpson, dem bekannten englischen Komponisten, als die beste aller Versionen angesehen. Ich denke man ist mit der Tinterversion gut bedient. Du hörst die Sinfonie da wirklich endlich in der monumentalen, weitgefaßten Gestalt, in der sie ursprünglich konzipert worden ist. Nur bei der Coda des Finales gefällt mir der Inbal besser. Da hätte Tinter Speed geben müssen.

Herzliche Grüße
Martin
teleton
Inventar
#5 erstellt: 23. Jun 2005, 07:47
Hallo martin2,

ich freue mich mal wieder von Dir zu hören, auch wenn wir jetzt nicht einer Meinung sind und ein unterschiedliches Bruckner-Bild haben. Aber das ist OK, ich akzeptiere Deine und die brucknerianersche Meinung; Dir gefällt die Tintner-NAXOS-Aufnahme eben gut.
Warscheinlich würde mir die von Franz J. empfohlene Aufnahme mit NOTT auch gut gefallen, denn der liegt mit 63:17 Minuten für die ganze Sinfonie Nr.3(1873) noch mal 2Minuten unter meiner jetzt favorisierten Inbal-Teldec-Aufnahme.

Nein, ich hatte im Bruckner-Thread ja schon geschrieben, das mich die Bruckner-Sicht Jochums im Vergleich zu den Karajan-Aufnahmen nicht so begeistert hat.
Erst als ich Bruckner auf DG-CD´s mit Karajan kennenlernte, war ich derart positiv überrascht, was man noch mehr als Jochum aus den Bruckner-Sinfonien herausholen kann - das ist mein Bruckner, so spannend und dramatisch muß er klingen.
Und wenn jetzt ein Tintner kommt und einen so langweiligen, langsamen, auseinanderfallenden Bruckner präsentiert, dann kann ich mich damit damit einfach nicht anfreunden, da er sooooooooooooooo weit von Karajan´s Brucknersicht entfernt ist.
Du schreibst es ja selber, über das Finale der 3.Sinfonie(1873), aber für mich gilt dieser Satz für die ganze Sinfonie:

Da hätte Tinter Speed geben müssen.
Vorstadtkinopianist
Ist häufiger hier
#6 erstellt: 23. Jun 2005, 09:32
Für mich ist der Bruckner-Zyklus mit Tintner der beste, den man derzeit hören kann. Große und gut komponierte Musik braucht ein adäquates Zeitmaß, um alles hörbar zu machen.
Die Dritte von 1873 kann mir nicht ausgedehnt genug sein.

Die Worte Tintners in einigen Beiheften der CDs sind anrührend. Er hat die Werke sehr geliebt.
Frdl. Gruß
op111
Moderator
#7 erstellt: 27. Aug 2014, 17:39
Anton Bruckner (1824-1896)
Sinfonie Nr. 3 d-moll "Wagner-Sinfonie" (1. Fassung 1873)
Altomonte Orchester St. Florian,
Remy Ballot

Gramola, DDD, 2013
jpc.de

jpc Produktinfo schrieb:
Das Highlight der St. Florianer Brucknertage 2013 war die vorliegende Erstaufführung der über 100 Jahre unbekannten und nach wie vor sehr unterschätzten Erstfassung der Dritten Sinfonie...


Wer Tintners Aufnahme (77:32 s.o.) schon sehr langsam findet, wie ist dann diese?
1. Gemäßigt, misterioso (32:35)
2. Adagio. Feierlich (23:39)
3: Scherzo. Ziemlich schnell (7:54)
4. Finale: Allegro (24:55)
Summe: 91:03 !!!


[Beitrag von op111 am 27. Aug 2014, 17:41 bearbeitet]
op111
Moderator
#8 erstellt: 27. Aug 2014, 17:47
Ein Erklärung für die himmlischen Längen könnte die Website:
Rémy Ballot Conductor
liefern:

onepoint.fm schrieb:
...At the age of 16, he caught the eye of orchestra conductor Sergiù Celibidache, and simultaneously studied orchestra conducting with the famous maestro in Paris and in Munich...

Hüb'
Moderator
#9 erstellt: 28. Aug 2014, 08:34
Hi,

eine ins absurd Zerfallende zerdehnte high-price Bruckner 3 mit Viertliga Aktivisten braucht doch nun wirklich keine Sau... .

Grüße
Frank


[Beitrag von Hüb' am 28. Aug 2014, 08:34 bearbeitet]
silbendrexler
Ist häufiger hier
#10 erstellt: 28. Aug 2014, 12:21

Hüb' (Beitrag #9) schrieb:

eine ins absurd Zerfallende zerdehnte high-price Bruckner 3 mit Viertliga Aktivisten braucht doch nun wirklich keine Sau...t


Vielleicht können die Viertligisten nicht schneller...?
WolfgangZ
Inventar
#11 erstellt: 28. Aug 2014, 12:42
Ich fand die Trackproben jetzt gar nicht so abwegig - allerdings penetranter Hall! Die Aufnahme brauche ich trotzdem mit Sicherheit nicht.

Wolfgang
silbendrexler
Ist häufiger hier
#12 erstellt: 28. Aug 2014, 13:01
Ich kenne jetzt die Partitur nicht, aber liegt es vielleicht an Wiederholungen in den Kopfsätzen?
Anders kann ich mir solche Tempounterschiede kaum erklären.
Oder aber Herrn Ballots Metronom ist kaputt...
op111
Moderator
#13 erstellt: 28. Aug 2014, 13:27

WolfgangZ (Beitrag #11) schrieb:
- allerdings penetranter Hall!

Vielleicht wurden die Tempi mit Rücksicht auf den Raumhall so langsam gewählt?
Dagegen spricht, daß die am selben Ort entstandene 8. mit den Wienern unter Boulez (DG) eher auf der schnellen Seite ist und dennoch nicht im Hallsumpf ertrinkt.
Also gehe ich von der bewußten Absicht aus.
Ob der problematische Kirchenhall Absicht ist (weihevolle Zelebration) oder auf mangelnden Fähigkeiten des Aufnahmeteams beruht, wage ich nicht zu entscheiden.
Auch ich sehe keinen Anlaß, diesen Tonträger zu kaufen, Tintner ist für mich schon eine Geduldsprobe.
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