Wenn ihr Dirigent(in) wärt.

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Kings.Singer
Inventar
#1 erstellt: 17. Jul 2010, 14:04
Hallo, liebe Forenmitglieder.

Ich versuche mal etwas musikalisch-praktisch mit euch in die Diskussion zu kommen. Hier wird oft über Vor- und Nachteile gewisser Aufnahmen und Zugänge zur Musik diskutiert, hin und wieder über die Zeitgeschichte und die Hintergründe der Musik. Was es kaum gibt, sind Meinungsaustausche darüber, wie ihr persönlich ein Werk interpretieren würdet. Dabei habe ich gerade in den letzten zwei Jahren gemerkt wie unglaublich wichtig es ist, sich selbst eine Meinung darüber zu bilden was für ein Werk das Beste ist und dabei nicht nur Autoritäten zu Rate zu ziehen, sondern sein eigenes Bauchgefühl.
Und meiner Meinung nach braucht es dazu weder Kenntnis des Notentextes noch profunde musikalische und musikwissenschaftliche Kenntnisse. Rezeption und Bewertung von Musik ist höchst subjektiv und eine Meinung bilden kann sich auch derjenige, der (im praktischen Sinne) höchst unmusikalisch ist und "nur" zuhört.

Vielleicht glückt der Versuch ja.


Ich möchte den Stein mal ins Rollen bringen, indem ich ein Werk zur Diskussion stelle, das wahrscheinlich jeder von euch kennt (und der eine oder andere vielleicht sogar schon über hat - das ist allerings keinesfalls schlecht, umso leichter fällt es Stellung zu beziehen):
Bolero von Ravel.

Wenn ihr Dirigent(in) wärt, wie würdet ihr den Bolero dirigieren?


Viele Grüße,
Alexander.


P.S. Die Fragestellung ist bewusst relativ offen, damit jeder etwas beitragen kann.
Kreisler_jun.
Inventar
#2 erstellt: 17. Jul 2010, 14:13

Kings.Singer schrieb:

Ich möchte den Stein mal ins Rollen bringen, indem ich ein Werk zur Diskussion stelle, das wahrscheinlich jeder von euch kennt (und der eine oder andere vielleicht sogar schon über hat - das ist allerings keinesfalls schlecht, umso leichter fällt es Stellung zu beziehen):
Bolero von Ravel.

Wenn ihr Dirigent(in) wärt, wie würdet ihr den Bolero dirigieren?


Gar nicht.



JK jr.
xutl
Inventar
#3 erstellt: 17. Jul 2010, 14:20
Ich auch nicht

Der Bolero ist so bekannt, den sollte jeder einigermaßen brauchbare Musiker "im Schlaf" vernünftig spielen können

Und überhaupt, was will der immer mit dem Rücken zu mir stehende Hampelmann eigentlich

Der trägt doch keinen Ton zur Musik bei
Joachim49
Inventar
#4 erstellt: 17. Jul 2010, 20:20
Der Bolero scheint mir nun auch nicht gerade ein Beispiel für interpretatorische Deutungsvielfalt zu sein. Jedenfalls habe ich nie gehört, dass ein Dirigent exzessive Rubati, plötzliche Tempowechsel oder überraschende dynamische Pointen einsetzt. Gleichmässiges tempo von Beginn bis Ende. Leise anfangen, laut aufhören. Cosi van tutte.
Freundliche grüsse
Joachim
Hörbert
Inventar
#5 erstellt: 17. Jul 2010, 20:29
Hallo!

Wie sagte Günter Wand zu einem Journalisten der ihn Fragte wie er Beethovens 6. zu Dirigieren gedenke, eher wie Toscanini oder wie Furtwängler? "Wie Beethoven." So sehe ich das auch.

MFG Günther
Kings.Singer
Inventar
#6 erstellt: 18. Jul 2010, 11:45
Hi.

Der Konsens von "Ich würde das Werk gar nicht aufführen" bis "Dirigent erscheint mir unnütz" überrascht mich doch etwas. Wenn man nun nicht gerade ein perfekt eingespieltes Profiorchester vor sich sitzen hat, ist das Vorhaben nicht zu dirigieren doch ziemlich mutig. Gerade dann wenn es lauter und die Besetzung immer fetter wird.

Und überhaupt: Wenn ihr Dirigent(in) wärt, würdet ihr euch damit zufrieden geben, wenn man euch lediglich als für Tempowechsel und Rubato verantwortlich bezeichnet? Sobald ein Stück ein ziemlich gleichbleibendes Tempo vorsieht, ist ein Dirigent verzichtbar... So kann man es zumindest in eure Beiträge hinein lesen.

Gerade deshalb habe ich den Bolero ausgesucht. Er stellt an den Dirigenten eine hohe Aufgabe sich adäquat ins Ensemble einzubringen.

Viele Grüße,
Alex.
Kreisler_jun.
Inventar
#7 erstellt: 18. Jul 2010, 12:39
Mich interessiert das Stück sehr wenig und ich habe keine Ahnung, was für technische Schwierigkeiten ein Dirigat bietet. Aufgrund des Desinteresses habe ich auch keine Neigung, mich in die Partitur zu vertiefen und zu überlegen, worin diese Schwierigkeiten bestehen könnten, selbst wenn ich das als Laie überhaupt beurteilen könnte.

viele Grüße

JK jr.
AladdinWunderlampe
Stammgast
#8 erstellt: 18. Jul 2010, 14:15
Ohne in die Partitur geschaut zu haben ein paar Gedanken zu dirigentischen Aufgaben im Bolero:

1. Über 15-19 Minuten ein Grundtempo beizubehalten ist als Aufgabe nicht zu unterschätzen. Erfahrungsgemäß tendieren auch routinierte Musiker dazu, gerade bei solchen technisch vermeintlich einfachen, repetitiven Stücken allmählich nach vorne zu treiben. (In dieser Hinsicht ist der Blick auf den ganz anderen Bereich lateinamerikanischer Percussion-Gruppen aufschlussreich: Auch hier ist der Time-Keeper an der Cowbell, der vermeintlich nicht viel anderes tut als gleichmäßige Viertel zu schlagen, in der internen Hierarchie am höchsten positioniert - höher auch als die für Außenstehende oft virtuos ins Auge springenden Conga-Spieler.)

2. Das Grundtempo des Bolero ist in den meisten mir bekannten Aufnahmen zügiger als von Ravel angegeben. Die musikalische Spannung auf bei dem von Ravel geforderten lasziv-mäßigen Tempo aufzubauen, scheint mir dagegen nicht ganz einfach zu sein.

3. Viele Durchführungen des Bolero-Themas warten mit aparten Instrumentenmischungen auf - man denke etwa an die in Quintparallelen geführten Holzbläser-Mixturen. Hier gilt es einerseits die beteiligten Instrumente dynamisch so auszutarieren, dass aus ihnen eine Art synthetisches Meta-Instrument resultiert, und andererseits auch die Phrasierung und Artikulation so anzugleichen, dass immer der Eindruck entsteht, es spiele eigentlich nur ein Musiker. Gerade, weil die Musik strukturell so überschaubar ist, wird hier jede Ungenauigkeit ohrenfällig.

4. Das piano eines Fagotts klingt anders als das einer Violine und das mezzoforte einer Trompete anders als das einer Harfe. Wenn man über eine gute Viertelstunde eine kontinuierliches und organisches Crescendo realisieren will, nutzt es daher nichts, die Instrumente einfach "nach Vorschrift" spielen zu lassen, zumal die einzelnen Musiker an ihren Plätzen stets ein sehr verzerrtes Bild vom klanglichen Gesamteindruck bekommen; daher muss der Dirigent hier sehr sorgfältig an der dynamischen Einbettung der einzelnen Durchführungen des Themas in die übergeordnete Steigerungsdramaturgie arbeiten, damit beispielsweise das mezzoforte der Holzbläser nicht leiser ist als das piano der Posaune.

5. Die überraschende Wendung nach C-Dur in den letzten Takten des Werkes wird nicht nur dynamisch und instrumentatorisch sondern durch kleine agogische Modifikationen hervorgerufen. Entsetzlich wäre es, wenn hier das Orchester rhythmisch nicht zusammen wäre; zumal ein verwackelter Schlussakkord würde die gesamte vorgängige Steigerungswirkung kaputtmachen.



Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 19. Jul 2010, 00:21 bearbeitet]
enkidu2
Inventar
#9 erstellt: 19. Jul 2010, 00:17
Wenn man vom Bolero verschiedene Interpretationen gehört hat, weiß man, wie schwierig es offensichtlich sein kann, dass Werk so zu dirigieren, ohne dass der Spannungsbogen dabei abreißt. Der Bolero ist also schon ein ziemlich schwieriges Beispiel.

Da ich vom Partiturlesen nichts verstehe und auch vom Dirigieren nicht, würde ich höchstens einem Dirigenten zurufen, er möge doch etwas schneller oder langsamer spielen lassen bzw. das ganze etwas dramatischer oder tänzerischer anlegen, je nachdem, was gerade angesagt ist. Mit Partiturtreue hätte ich es nicht so, man sollte schon ausloten, was da noch so im Notentext steckt.

Und selbst wenn die Musiker so spielen würden, wie ich es wollte, wüsste ich nicht, ob mir das ganze am Ende als Hörer behagen würde. Die Summe aller Lieblingszutaten muss nicht unbedingt ein tolles Menü ergeben.

Von daher misch ich mich nicht ein, sondern wähle immer wieder gerne aus dem Angebot aus.

Es grüßt enkidu2, der es für klüger hält, nur Hörer zu sein.
Joachim49
Inventar
#10 erstellt: 22. Jul 2010, 15:28
Die überaus kompetente Antwort Aladdins hat wahrscheinlich manche entmutigt hier weiterzuschreiben (natürlich ist das nicht als Kritik gemeint). Ich könnte mir aber vorstellen, dass Alexanders Frage auf einem level diskutierbar bleibt, das weitere Teilnahme am thread anspornen könnte. Etwa die Frage: würdet ihr historisches Instrumentarium bevorzugen (Jos van Immerseel etwa würde den Bolero (und hat dies auch getan) nur mit französischen Holzblasinstrumenten aufführen, die sich ja vom Klang der deutschen etwa unterscheiden sollen. Auch in modernen Klangkörpern werden oft historische Instrumente verwendet (zB die Pauken und Trompeten in Herreweghes Beethoven mit der Antwerpener Philharmonie (= Royal Flemish Ph.).
Würdet ihr zu grosser oder eher kleiner Besetzung neigen? Würdet ihr Beethovens Metronomangaben nach Möglichkeit anstreben, oder sie a priori als zu schnell ablehnen. Würdet ihr versuchen streng im Takt zu bleiben (fall die Partiturangaben nicht abweichen) oder würdet ihr bremsen und Gas geben auch wenn's nicht in der Partitur steht? Würde es euch reizen ein Stück bewusst langsam zu buchstabieren. Hat die Partitur immer das letzte Wort?

Ich weiss nicht, ob dies Alexanders Intentionen waren. Hier ein paar meiner Antworten: Bis Beethoven (inkl.) würde ich historisches Instrumentarium bevorzugen, oder eine Mischung. Jedenfalls würde ich probieren die HIP-Erkenntnisse zu berücksichtigen. Daraus folgt: eher kleine Besetzung. Musik muss atmen: ein kantables Seitenthema darf langsamer gespielt werden, auch wenn's die Partitur nicht fordert. Temposchwankungen sind erlaubt, so wie ja auch der Atemrhythmus nicht in allen Situationen konstant bleibt.
Der goldenen Mittelweg ist oft langweilig. Beethoven also entweder betont fetzig (a la Scherchen / zinmann / Norrington) oder betont langsam. Aber nicht so zwischendrin.
Kein Dauervibrato bei den Streichern, aber auch keine Totalenthaltung.
Vielleicht hilft's dem thread weiter, es sei denn dass Alexander ihn lieber in einer anderen Richtung will.
Freundliche Grüsse
Joachim


[Beitrag von Joachim49 am 22. Jul 2010, 15:30 bearbeitet]
Tommy_Angel
Inventar
#11 erstellt: 23. Jul 2010, 12:33
Nur ma so: die frühen Haydn Symphonien waren für 13 Musiker geschrieben, mehr hatte Esterhazy überhaupt nicht. Eine Aufführung mit den Berliner Philharmonikern kann daher garnit ans Original ranreichen, auch wenn es bestimmt sehr hörenswert ist. Und die Behauptung, Haydn oder Beethoven hätten, wenn sie ein solches Orchester gehabt hätten, eben auch so interpretiert, geht ins Leere. Sie hatten halt keins.

Was will uns der Autor damit sagen?

Schon allein die Größe des Orchesters witrd von der Zeit der Komposition bestimmt.

War nur ma so ein Beispiel...


[Beitrag von Tommy_Angel am 23. Jul 2010, 12:33 bearbeitet]
Joachim49
Inventar
#12 erstellt: 23. Jul 2010, 13:22
Hallo Tommy Angel,
Was folgt aus deinem Hinweis auf die historische Grösse der Besetzung? Man muss dies ja auch im Zusammenhang mit der Grösse (und eventuell den akustischen Bedingungen) der damaligen Aufführungsorte sehen. Man kann an der kleinen Besetzung festhalten, aber kann man dann in unseren heutigen Konzertsälen spielen? Die Haydn'sche Originalbesetzung, aber in einem Saal für 1000 Zuhörer wäre auch eine Fälschung. Konsequenterwese dürfte man die Musik dann nur mit Originalinstrumenten, in der ursprünglichen Besetzung und in den (eventuell rekonstruierten) historischen Räumlichkeiten spielen. So etwas kann man (und hat man) für CD-Aufnahmen realisiert, aber im Konzertleben ist es nicht realistisch.
Freundliche grüsse
Joachim
Kreisler_jun.
Inventar
#13 erstellt: 26. Jul 2010, 19:52
Die "Pariser" Sinfonien waren dagegen für ein Orchester mit ungefähr moderner Besetzungsstärke, inklusive verdoppelte Holzbläser komponiert bzw. wurden von einem solchen erstaufgeführt.

Die Eroica wurde von einem Orchester mit weniger als 30 Musikern uraufgeführt, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass solche minimalen Besetzungen Beethovens oder Haydns Ideal gewesen wären. Freilich muss man auch vorsichtig sein, die üppigen Besetzungen wie sie in Paris (oder teils noch extremer bei Haydns Schöpfung oder Beethovens 9.) vorkamen als Norm zu sehen. Eher sollte man davon ausgehen, dass die Komponisten mit recht unterschiedlichen Besetzungsstärken rechneten und daher gar nicht so spezifisch für diesen Parameter komponiert haben.

JK jr.
flutedevoix
Stammgast
#14 erstellt: 29. Jul 2010, 20:07
Besetzungsstärke ist ein heikler Punkt:

1.) Historische Aufführungsräume waren i.d.R. kleiner (zumindest "weltliche Räume") was eine kleinere Besetzung ermöglicht aber nicht zwangsläufig bedingt.

2.) Bis zur Zeit Mozarts und Beethovens standen die Komponisten meist in Diensten eines Fürsten, einer Kirche, einer Stadt: Die Komponisten kannten also die Aufführungsgegebenheiten sehr genau, insbesondere die Besetzungsstärken. Daß diese Faktoren berücksichtigt wurden, wissen wir aus zahlreichen Widmungen an Instrumentalisten etc. Das heißt, heutige Interpreten sollten sich die Entstehungsumstände schon sehr genau ansehen und die Komposition auf eine mögliche Besetzungsstärke abklopfen. Von der Werkstruktur her gehen oft einfach keine großen Besetzungen um der Durchhörbarkeit gerecht zu werden.

3.) Zeitgenössische Instrumente haben ein anderes Klangbild und vor allem Obertonverhalten, was große Auswirkungen nicht nur auf die Lautstärke sondern in besonderem Maße auch auf die Verschmelzungsfähigkeit der Instrumente hat. Vierfaches Holz mit barocken oder klassischen Instrumenten ist etwas ganz anderes als mit unseren heutigen! Das hat natürlich auch seine Rückwirkung auf die Besetzungsstärke.

Ich denke, wichtig ist, die historischen Fakten zu kennen und aufgrund dieser Basis seine Interpretation zu erarbeiten und den jeweiligen Verhältnissen anzupassen.
Ein ganz simples Beispiel: In einer halligen gotischen Kirche muß man zwangsläufig langsamere Tempi nehmen als in einem trockenen Kammermusiksaal


[Beitrag von flutedevoix am 29. Jul 2010, 20:09 bearbeitet]
Kaddel64
Hat sich gelöscht
#15 erstellt: 30. Jul 2010, 14:27

Kreisler_jun. schrieb:
Die "Pariser" Sinfonien waren dagegen für ein Orchester mit ungefähr moderner Besetzungsstärke, inklusive verdoppelte Holzbläser komponiert bzw. wurden von einem solchen erstaufgeführt.

Die relativierende Einschränkung ("bzw. erstaufgeführt") ist gar nicht notwendig. Haydns Pariser Sinfonien waren Auftragswerke, die kompositorisch eigens auf die üppige Besetzungsstärke in Paris (u.a. 40 Violinen, 10 Kontrabässe) hin angelegt sind.


flutedevoix schrieb:
Ich denke, wichtig ist, die historischen Fakten zu kennen und aufgrund dieser Basis seine Interpretation zu erarbeiten und den jeweiligen Verhältnissen anzupassen.

Die historische Besetzungsstärke und den Aufführungsort zu kennen sind zwei Aspekte. Sie allein sagen aber noch wenig aus über die Klangfülle, die damit erzielt werden konnte, wenn man den Grad der musikalischen Ausbildung und die spieltechnischen Fertigkeiten der Musiker nicht kennt. Von Berlioz, dem man hinsichtlich seiner Besetzungsvorstellungen gerne eine gewisse Maßlosigkeit unterstellt, ist überliefert, dass er sich - etwa 50 Jahre nach Haydns Pariser Erfahrungen - begeistert äußerte über die Klangfülle, die deutsche Orchester im Gegensatz zu seinem Pariser Orchester zu entwickeln im Stande waren. So reichten ihm für die Aufführung seiner Symphonie fantastique in Frankfurt, Stuttgart oder Weimar nur mehr etwa 45 bis 50 Musiker aus, während er in Paris mit mindestens 120 Musikern seine Klangvorstellungen gerade einmal annähernd realisieren konnte!

Wenn ich Dirigent wäre und mir auch sonst alle Mittel zur Verfügung stünden, hielte ich es wohl nach Möglichkeit mit Günter Wand: "Beethovens Sechste dirigieren wie Beethoven".8)
Kreisler_jun.
Inventar
#16 erstellt: 30. Jul 2010, 15:38
Meiner Ansicht nach ist es aber eine falsch verstandene Form von "Originalitis" Uraufführungsbedingungen rekonstruieren zu wollen. Haydn hatte bei Eszterhazy nur ein sehr kleines Orchester, Streicher ca. 4-3-2-1-1 oder so. Aber viele für dieses Orchester geschriebene Werke kursierten in ganz Europa und wurden an anderen Orten von teils viel stärker besetzten Ensembles musiziert. z.B. in Paris, die haben die Sinfonien ja nicht auf Verdacht bestellt ;), Haydn spielt vermutlich im Kopfsatz der #85 sehr deutlich auf #45 an, weil dieses Werk dort sehr beliebt gewesen ist.

(Dazu kommt allerdings auch ein gewisser stilistischer Wandel von den ganz frühen Sachen wie 6-8 mit den konzertanten Einlagen über deutlicher orchestral konzipierte Werke bis eben hin zu den "Parisern und Londonern.)

Daher glaube ich, dass Besetzungsfragen seinerzeit keine allzugroße Rolle spielten, sondern dass das je nach den Gegebenheiten ziemlich flexibel gehandhabt wurde.

70 Jahre früher sind von Corellis Concerti grossi Aufführungen in massiver Besetzung belegt (was nur sehr wenige Aufnahmen versuchen zu imitieren), aber ganz sicher wurden die Werke viel häufiger in halbprivatem Rahmen mit minimaler Besetzung gespielt.
flutedevoix
Stammgast
#17 erstellt: 30. Jul 2010, 18:07
Vielleicht köneen wir uns ja auf folgendes einigen:
Grundsätzlich funktionieren alle Werke mit den "Uraufführungs-Besetzungsstärken". Die hatte der Komponist ja schließlich bei der Komposition im Sinn. Darüber hinaus ist es möglich größere oder kleinere Besetzungsstärken zu wählen, wenn dies das Werk zuläßt.

Abseits dieses Statements möchte ich noch einmal auf die Frage des Instrumentariums eingehen. Meiner Erfahrung nach hat die Wahl der Instrumente schon eine entscheidende Bedeutung. So klingen z. B. Französische Holzblasonstrumente um 1900 anders als z. B. Deutsche, sie sind etwa bei gleichem Anblasverhalten leiser. Das könnte auch ein Erklärungsansatz für das Berlioz-Beispiel sein. Daneben sind natürlich Akustik, Orchesteraufstellung, Intonation und Artikulation auch wichtige Parameter der Orchesterlautstärke.

Wie in allen Fällen ist Information die wichtigste Voraussetzung, um zu einer schlüssigen Interpretation zu kommen. Ich kann nicht einfach sagen, ich habe 120 Musiker und lasse die einfach mal jedes x- beliebige Werk spielen. Das kann nicht funktionieren.


[Beitrag von flutedevoix am 30. Jul 2010, 18:22 bearbeitet]
Kaddel64
Hat sich gelöscht
#18 erstellt: 30. Jul 2010, 19:22
Ich bringe mal etwas anderes ins Spiel:

Als ausführender Musiker in einem Orchester oder Chor möchte ich mich vom Dirigenten wirklich geführt wissen. Ich will von ihm beispielsweise an der Gestik den Grad der Steigerung eines Crescendo ablesen können, ohne dass dieses zuvor ausgiebig diskutiert worden ist. Einsätze, Abschläge, agogische und dynamische Wechsel und vieles mehr müssen sichtbar und unmissverständlich zu deuten sein. Der Dirigent muss in der Lage sein, das Orchester auch dann zusammenzuhalten, wenn es auseinanderzulaufen droht. Eine solche gestische Führung ist nicht ersetzbar durch stundenlange Vorträge des Dirigenten über seine Interpretationsvorstellung - so wichtig wie diese daneben auch sind.

Der rein handwerklich-gestische Bewegungsablauf beim Dirigieren ist sicher zum Teil Begabung, aber in gewissem Maß eben auch erlernbar und Voraussetzung für ein fein austariertes Dirigat und eine in sich geschlossene und überzeugende Interpretation.

Warum erwähne ich das? Weil es in der Praxis leider keine Selbstverständlichkeit ist, dass der Dirigent sein Handwerk aus dem Effeff beherrscht. Ohne Namen nennen zu wollen, gibt es auch in der allerersten Riege der Stardirigenten Persönlichkeiten, unter denen ich nicht würde musizieren wollen, weil mir ihre - vorsichtig ausgedrückt - "unkonventionelle Zeichengebung" schlicht unverständlich bleibt. Wäre ich Dirigent, würde ich so nicht arbeiten wollen. Wie einem solchen Dirigat dann trotzdem wahrhafte und höchst erhebende Musik entspringen kann, ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel.
Kings.Singer
Inventar
#19 erstellt: 11. Aug 2010, 19:08
Hallo zusammen!

Nach einer langen aber leider erforderlichen Phase der Inaktivität in diesem Forum, will ich mich doch auch mal wieder zu Wort melden.

Ich denke die Sache mit Ravel wurde hier aus den verschiedensten Sichtweisen dargestellt und ist damit auch abgegrast. Natürlich habe auch ich mir dazu Gedanken gemacht, die ich hier abschließend mitteilen möchte:
Gerade im Anschluss an Kaddels letzten Beitrag möchte ich auch für den Bolero die Devise ausgeben, dass sich das Dirigat daran auszurichten hat, wie sehr die Musiker aufeinander eingespielt hat.

> Der Dirigent als Tempogeber
Vor allem in großen Orchesterapparaten ist ein Dirigent mit seinen Tempoanweisungen unabkömmlich. Wer sich allerdings aufeinander eingespielt hat und ein Werk schon hin und wieder zusammen gespielt hat, wird eine gewisse Spielweise irgendwann automatisiert haben. Gerade hier kann man in den Proben ganz toll ansetzen und nicht nur darauf achten, was der Dirigent anzeigt, sondern auch umso intensiver aufeinander hören. Ich erinnere mich an einen Ausschnitt aus Francks Seligpreisungen, in dem die Harfe Sechzehntel zu spielen hat und irgendwann kamen Harfe und Chor nicht zusammen, egal wie sehr sich Dirigent um deutliche Handzeichen bemühte. Irgendwann brach er ab und dirigierte die Passage gar nicht mehr - wir waren nun gezwungen intensiv auf die Harfe zu hören und auf deren Fingerbewegungen zu schauen. Und schon waren die Takte perfekt zusammen musiziert!
Das selbe lässt sich sicherlich auch auf den Bolero anwenden. Wer auf die Trommel hört, wird niemals ein falsches Tempo spielen. Und da die Instrumente zu Beginn ja meist solistisch in ihrer Stimmgruppe spielen, haben wir ja wenig Störgeräusche und eine große räumliche Distanz zwischen gewissen Instrumenten wird relativiert.

Warum also dirigieren?

> Der Dirigent als Interpret
Gerade was Dynamik und Agogik angeht, kann eine gute Absprache in den Proben eine Phrasierungsarbeit während des Konzerts erübrigen (was ja sicherlich keine völlig neue Weisheit ist ). Außerdem haben wir wie gesagt anfangs den Effekt, dass viele Instrumentengruppen nur solistisch vertreten sind - da kann man als Dirigent seinen Musikern auch mal vertrauen und sie machen lassen.

Warum also dirigieren?


So könnte man meiner Meinung nach die Reihe fortführen. Aber immer unter der Prämisse, dass sich die Musiker und damit ihre Eigenheiten und Vorlieben kennen (dazu muss man kein Profi sein!). Denn der Bolero birgt, wie Alladin geschrieben hat, doch einige interpretatorische Schwierigkeiten, denen sich jeder Dirigent gegenüber sieht. Je besser er seine Musiker und sie sich untereinander kennen, umso besser lassen sich diese bewältigen. Und falls der Dirigent dadurch sogar verzichtbar wird, kann er durch das Ausbleiben seines Dirigats wunderbar die innere Spannung des Stücks erhöhen und steigern, indem er die Musiker gewähren lässt, die nur auf sich und die anderen Hören können, um das Werk korrekt und gut zu spielen!


Exemplarisch dafür möchte ich das Video von Christoph Eschenbach (den ich ja sonst eher weniger positiv auf dem Schirm habe) anführen. Zumindest von Einstudierung und Dirigat her (wenn er denn mal dirigiert), scheint mir sein Bolero toll gelungen zu sein:
Teil 1
Teil 2


Viele Grüße,
Alexander.
Martin2
Inventar
#20 erstellt: 18. Aug 2010, 00:11
Wenn ich Dirigent der Berliner Philharmoniker wäre, hätte ich Geld genug, um nach China und Indien zu fliegen - was ich immer schon mal machen wollte - und hätte Schlag bei den Frauen, was ich eventuell ausnutzen würde.

Gruß Martin
Kings.Singer
Inventar
#21 erstellt: 18. Aug 2010, 08:45
Hi.

... Schöne Überleitung! Weil mir momentan kein Werk in den Sinn kommt, über das wir hier diskutieren könnten, möchte ich gerne fragen:

Wenn ihr Dirigent wärt, wer würdet ihr sein wollen?
Es gibt die unterschiedlichsten Dirigententypen, Philosophien und Arbeitsrichtungen.
> Man könnte ein großer Star sein wie Furtwängler, Karajan, Solti, Bernstein, Rattle usw.
> Man könnte sich der historischen Aufführungspraxis verpflichten wie Leonhardt, Harnoncourt, Gardiner oder McCreesh usw.
> Man könnte einer der "jungen" und aufstrebenden sein wie Dudamel oder Thielemann usw.
> Man könnte Musik enger an Philosophie bis hin zu Esoterik knüpfen wie Celibidache usw.

Man könnte sich aber auch wesentlich mehr spezialisieren:
> Forschen und a capella Chormusik dirigieren wie van Nevel oder Peres.
> Leiter eines Kammermusikensembles sein wie Reinhard Goebel (wobei das wohl am wenigsten mit klassischem Dirigieren zu tun hat)

Welche Interpretationsansätze würdet ihr jeweils verfolgen?


Viele Grüße,
Alex.


[Beitrag von Kings.Singer am 18. Aug 2010, 08:46 bearbeitet]
flutedevoix
Stammgast
#22 erstellt: 18. Aug 2010, 09:31

> Man könnte ein großer Star sein wie Furtwängler, Karajan, Solti, Bernstein, Rattle usw


Ich halte einen wie auch immer gearteten Starkult für verdächtig. Der Star in der klassischen Musik, zumindest wenn sie wie in 99% aller Fälle nachschöpferisch (komisches Wort, ich weiß) ist, ist und bleibt der Komponist. Denn ohne diesen würden wir Musiker (und Dirigenten sind schließlich auch welche und keine vom Himmel gefallene Götter) ja gar nicht wissen, was wir spielen sollen




> Man könnte sich der historischen Aufführungspraxis verpflichten wie Leonhardt, Harnoncourt, Gardiner oder McCreesh usw.


Keine Frage, ich würde mich vermutlich in dieser Richtung ansiedeln. Schließlich sind diese Dirigenten dafür bekannt, daß sie sich schließlich erstmal in ein Werk vertiefen und ihrer Interpretation ausgehend von diesen Informationen erarbeiten. Das schließt eben auch eine soziokulturelles Wissen um die Entstehungszeit der Werke ebenso ein wie das Wissen um die Aufführungspraxis dieser Zeit und Notenquellen, die nich Balast von Herausgebergenerationen beschwert sind.




> Man könnte einer der "jungen" und aufstrebenden sein wie Dudamel oder Thielemann usw.

Das ist ja nun keine Eigenschaft eines Dirigenten, sondern eine momentaner Zustand. Außerdem strebt Thielemann ja nicht mehr auf, sondern ist zumindest medial schon am Zenit seiner Schaffenskrft angekommen. Künstlerisch allerdings, finde zumindest ich, muß da noch etwas nachkommen, damit der diesem Bild gerecht wird. Ob er es schaftt? Mal sehen!
Dudamel dagegen finde ich höchst interessant und das ganz ohne Bezug auf sein Projekt in Bolivien zu nehmen. Das ist eine sehr interessante Künstlerpersönlichkeit, von der wir vermutlich noch viel erwarten dürfen.




> Man könnte Musik enger an Philosophie bis hin zu Esoterik knüpfen wie Celibidache usw.

Na ja, siehe erster Punkt. Alles in den für die Musik wichtigen Phasen. Da ich weiß, wie sehr sich Celli-Anhänger getroffen fühlen, wenn man ihren Gott herabsetzt: Ich habe Aufnahmen von Cellibidache, die ich sehr mag, ich bin mir aber nicht sicher, ob er bei seinem Tun immer an den Komponisten dachte




Man könnte sich aber auch wesentlich mehr spezialisieren:
> Forschen und a capella Chormusik dirigieren wie van Nevel oder Peres.

Ich finde es gibt viel zu viel interessante Musik aus allen Jahrhunderten, da würde ich mich als Dirigent genauso wenig spezialisieren wollen wie als Instrumentalist ich es tue. Forschen im Sinne einer historischen Aufführungspraxis (bei Stockhausen genauso wie bei Josquin) ist für mich aber immer zentraler Bestandteil des Erarbeitens einer Interpretation!





> Leiter eines Kammermusikensembles sein wie Reinhard Goebel (wobei das wohl am wenigsten mit klassischem Dirigieren zu tun hat)

Vielleicht sind wir da ja an einem zentralen Punkt des Threads angekommen: Was ist Dirigieren überhaupt? Wann und unter welchen Umständen entstand Dirigieren?
Wenn man unter Dirigent die Arbeitsweise eines großen Pultstars versteht, der mit großen Gesten arbeitet, dann ist sich Goebel sehr weit entfernt davon.
Wenn man aber die Funktion des Dirigenten aber als spiritus rector eines wie auch immer gearteten und besetzten Ensembles versteht, der die Einstudierung kanalisiert oder anleitet, dann ist Goebel genauso Dirigent wie ein Bernstein oder Karajan (Übrigens Goebel arbeitet auch mit großen, "modernen" Sinfonieorchestern zusammen!)
Ich möchte keine Hehl daraus machen, daß ich letzterer Auffassung näher stehe, auch wenn man bei einem größer bestzten Orchester natürlich keine Interpretationsdiskussionen durchführen kann
Kings.Singer
Inventar
#23 erstellt: 18. Aug 2010, 11:45
Hi.

Mir ging es bei meiner Stichpunktsammlung auch nicht darum verschiedene Pole des Dirigenten-Seins aufzuzeigen, sondern eben bestimmte Bedeutungsdimensionen des Ganzen. Dass ein Dirigent niemals ohne bestimmte Philosophie bezüglich seines Berufs auskommt, liegt auf der Hand. Also hat auch ein Gardiner oder ein Karajan seine Philosophie - aber Celibidache beeinflusst seine Interpretation unter allen genannten am stärksten von Seiten der Philosophie und Esoterik, wie ich finde. Auch forscht jeder Dirigent natürlich - allein: Die meisten haben es studiert! Doch widmen sich ein Paul van Nevel, ein Marcel Peres oder ein Jordi Savall doch sehr und viel mehr als andere einem forschenden Musizieren.

Außer Acht gelassen habe ich auch, dass es natürlich auch unter den Stars die verschiedensten Ansätze gibt: Toscanini - Furtwänger - Karajan - Klemperer. Diese wiederum wurden von Vorgängern beeinflusst und beeinflussten die, die noch kommen sollten.

Sicher hat Thielemanns Image durch die letzten Entwicklungen einen Schlag bekommen, jedoch wird er sicher noch lange als Shootingstar gesehen - zumindest von der breiten Öffentlichkeit. Anne-Sophie Mutter wurde noch lange nach Karajans Tod als Wunderkind gesehen (oder gar belächelt?) und im Zusammenhang mit ihm genannt. Und natürlich bedeutet es für uns, wenn wir sagen wir wären gern ein Shootingstar, wenn wir Dirigent wären, dass wir gerne noch eher am Anfang unserer Karriere stehen würden, uns einen gefestigten unabhängigen Ruf erarbeiten müssten. Als Altmeister und "Altstar" hätten wir unseren Ruf, unsere enorme Reputation - doch birgt das für mein Idealbild vom Dirigent-Sein auch Gefahren...

Deswegen wieder die Frage: Wo würdet ihr euch also verorten wollen?


Grüße,
Alexander.


P.S. Die jeweils eigene Auffassung was Dirigieren an sich ist, muss dabei natürlich auch mit einfließen. Da gebe ich flutedevoix absolut recht!
Tommy_Angel
Inventar
#24 erstellt: 31. Aug 2010, 20:09
Martin mal lustisch, wassen hier los?
Martin2
Inventar
#25 erstellt: 02. Sep 2010, 22:25
Wenn es um gute Musik geht, kenne ich keinen Spaß. Bei der Vorstellung, Dirigent zu sein, dann schon eher...
Tommy_Angel
Inventar
#26 erstellt: 03. Sep 2010, 09:53
aha...
Martin2
Inventar
#27 erstellt: 04. Sep 2010, 01:38
Hallo Tommy,

ein Klassikforum lebt von denen, die leidenschaftlich und mit Engagemant über klassische Musik schreiben, aber sicher nicht von Personen wie Dir, die hier ab und zu auftauchen, um hier ihr "na ja", "aha" oder "soso" tiefgründig zur Diskussion meinen beisteuern zu müssen.

Gruß Martin


[Beitrag von Martin2 am 04. Sep 2010, 01:39 bearbeitet]
Tommy_Angel
Inventar
#28 erstellt: 07. Sep 2010, 13:25
Mann, bist Du humorlos...
Martin2
Inventar
#29 erstellt: 08. Sep 2010, 16:48
Wenn Du meinst ...
Szellfan
Hat sich gelöscht
#30 erstellt: 28. Okt 2010, 21:17
Hallo, Ihr beiden,
braucht Ihr etwa einen Dirigenten?
Amüsiert, Mike
Szellfan
Hat sich gelöscht
#31 erstellt: 28. Okt 2010, 21:43
... aber ernsthaft,
es ist eine spannende Fragestellung.
So ziemlich jeder hier hat sich doch bestimmt schon dabei ertappt, bei Stücken oder Stellen daraus, die ihn begeistern, sich plötzlich dirigierend vor seiner Anlage wiederzufinden.
Für meinen Teil bin ich dann immer herzlich dankbar, daß die Bits auf der CD mal schön so weiter machen wie bisher und nicht anfangen, das zu tun, was ich da fuchtele.

Ich glaube, die wichtigsten Aspekte wurden schon viel kompetenter vorgetragen als ich das könnte, darum nur ein paar persönliche Gedanken.

Walter Legge hat das mal so schön erlebt, es war ein Abendessen angesagt, Gast war auch Toscanini. Legge machte den Vorschlag, man solle beginnen zu singen, denn er selbst konnte das überhaupt nicht gut. So lief auch alles aus dem Ruder- bis Toscanini, quasi nur mit seinen kurzsichtigen Augen, begann, das Ganze zu leiten und plötzlich waren alle zusammen und homogen. Er sprach da von so etwas wie hypnotischen Fähigkeiten Toscaninis.

Ich glaube, daß so etwas, dieses Transportieren von Autorität ohne daß diese tatsächlich in irgendeiner Art gezeigt werden muß, beinah unabdingbar sind.
Nebst allem Wissen und aller Technik, die unbedingt dazugehören.

Sagen wir mal, ich hätte das alles jetzt.
Dann würde ich bis "in den Beethoven hinein" nicht dirigieren wollen im heutigen Sinne, sondern von Cembalo, Pianoforte oder Violine aus leiten.

Ansonsten wäre mein Ideal, tatsächlich alle und alles innerhalb der Proben so vorzubereiten, daß ich bei der eigentlichen Aufführung überflüssig würde. Das zu erreichen, wäre für mich wirklich das Schönste überhaupt. Was ja vor den Boxen durchaus gelingt.

Herzliche Grüße, Mike
Martin2
Inventar
#32 erstellt: 28. Okt 2010, 21:55
Hallo Mike,

also dann mal ganz ernsthaft. Wie ich Werke gerne interpretiert höre, kann man aus vielen meiner Beiträge sicher ersehen. Wäre ich also Dirigent, würde ich sicher aus den Interpretationen anderer zu lernen versuchen, aber eigene Wege gehen, wenn ich das für notwendig halte.

Soweit sogut. Nur anderseits ist die Frage auch etwa derart aufzufassen: Womit würdest Du Dich am liebsten beschäftigen, wenn Du Atomphysiker wärest? Und an diesem Punkt wirds wirklich albern, denn ich habe nicht die geringste Ahnung von Atomphysik und mit meinen Kenntnissen über das Dirigieren sieht es eben ähnlich aus.

Wobei ich sowieso denke ( aber das ist nur eine Vermutung von mir), daß das Dirigieren als Dirigieren vermutlich ziemlich überschätzt ist und die eigentliche Arbeit am Werk vorher passiert, in den Proben. Und in der fortwährenden Auseinandersetzung um Musik.

Von all diesen Dingen weiß ich aber herzlich wenig und so kann ich dann diesen Thread eben doch nicht ernst nehmen.

Gruß Martin
Szellfan
Hat sich gelöscht
#33 erstellt: 28. Okt 2010, 22:38
Hallo Martin,
über Deine Antwort muß ich wirklich etwas länger nachdenken. Nur vorab die kurze Frage, ob ich Dir doch hoffentlich nicht "auf den Schlips getreten" bin mit meinem kleinen Einwurf. Täte mir nämlich leid, ich wollt doch nur das Verbissene etwas lösen.
Also bis später, morgen,
herzliche Grüße, Mike
Joachim49
Inventar
#34 erstellt: 29. Okt 2010, 00:06
Ich bin mir nicht so sicher, ob es ein Ideal ist, dass alles so gut und lang geprobt wird, dass der Dirigent bei der Aufführung überflüssig ist. Dann wäre wahrscheinlich jede Aufführung dieselbe. Ich könnte mir vorstellen, dass ein Abend, wo das Orchester nicht eine perfekt geölte Maschine ist, auch interessant sein kann. Wenn es ein bisschen Spontaneität gibt, etc. Abbado hat man ja oft nachgesagt, er habe nicht so gerne und nicht genug geprobt. Ich kann mir denken, dass unter solchen Umständen auch faszinierende Resultate denkbar sind, da jeder enorm konzentriert sein muss.
Ich übe auch eine Tätigkeit aus, bei der ich gut vorbereitet sein muss (sind aber Soloauftritte). Aber oft habe ich das Gefühl, dass wenn ich perfekt vorbereitet bin, die Sache ziemlich steril wird. Aber wenn ich nur mittelmässig vorbereitet bin, dann spule ich nicht einfach etwas ab, sondern ich muss bei höchster Konzentration aus dem Augenblick heraus "funktionieren". Das Resultat kann oft besser sein. Schlechte Vorbereitung hat in meinem Fall auch den Vorteil, dass ich mehr Zeit habe CDs zu hören
(Es ist ja auch manchmal vorgekommen, dass ein (unbekannter) Dirigent im letzten Moment für jemanden einspringen muss, aber es trotzdem eine gute Aufführung wird).
Ich empfinde manchmal das Musizieren eines weniger perfekten Orchesters spannender, als eine technisch perfekte, aber routinierte Aufführung.
Joachim
Szellfan
Hat sich gelöscht
#35 erstellt: 29. Okt 2010, 06:51
Hallo Joachim,
das würde mit Sicherheit erklären, warum ich eben nicht Kna- sondern Szellfan bin.
Grins, Mike
flutedevoix
Stammgast
#36 erstellt: 29. Okt 2010, 21:23
Hallo,

Finde ich gerade eine spannende Diskussion. Das, was ihr für die Ausnahme haltet, kommt viel häufiger vor als ihr denkt. Ich weiß nicht wie hoch die Quote real ist, aber gefühlsmäßig würde ich sagen, 30% aller Konzerte gehen ohne vorherige gemeinsame Probe aller wichtigen Beteiligten über die Bühne.
Oft sind es in der Tat auch die besseren Konzerte, weil dann alle hellwach sind. Ich bin schon öfters in Solistische Händel- und Bach-Partien eingesprungen ohne das Werk insgesamt gut zu kennen oder je mit Gesangssolisten oder Orchestrr oder Dirigent je geprobt zu haben. Da entscheidet dann wirklich die Qualität, die Präsenz und die Klarheit des Dirigenten.
Szellfan
Hat sich gelöscht
#37 erstellt: 30. Okt 2010, 15:10
...soweit ich weiß, scheint es doch tatsächlich diese Theorie zu geben, daß es zwei Wege gäbe, zu einem überzeugenden Ergebnis zu kommen.
Überspitzt gesagt: die einen machen in den Proben nichts, im Konzert alles und die anderen in den Proben alles und im Konzert nichts.
Mit Sicherheit gibt es dazwischen eine Grauzone.
Und mir stellt sich die Frage, wie es wohl wäre, wenn heute alle Beteiligten nicht diese Jet- Set- Musiker wären, die sie so häufig sind (was ich nicht absolut meine)wenn also, so wie C.Kleiber sich das immer gewünscht hat, zu allen Proben alle da sind und man so im Ensemble arbeiten könnte.
Wird da nicht aus Zeitnot und andren Nöten versucht, eine Tugend zu machen?
Das ist wirklich als Frage gemeint!
Herzliche Grüße, Mike
Kings.Singer
Inventar
#38 erstellt: 30. Okt 2010, 15:48
Hallo.

Genau der Carlos Kleiber war es, an den ich beim Lesen der letzten Beiträge denken musste. Spitz gesagt: Er lag im Klinsch mit Veranstaltern (und Orchestern?), weil er proben wollte.
Ob es nun ideal ist, wie es ist, lässt sich nicht ein für alle mal bestimmen, weil es da verschiedene Meinungen gibt, die sich zwar synchronisieren lassen, aber nicht mit einander zu vereinen sind.

Aus der Praxis heraus bin ich (als Chorsänger) der Meinung, dass es mindestens eine gescheite Generalprobe braucht, um ein befriedigendes Konzerterlebnis zu erhalten. Wenn ich als Gastsänger dabei bin, hat der restliche Chor - wohl gemerkt: Ich spreche nicht von Profichören - zumindest schon einmal das Werk erschlossen. Ich muss mich bei unbekannten Dirigenten dann doch schon einmal darauf einstellen wie dirigiert wird und wohin man am Ende will mit dem Werk. Das ganze ohne Probe zu versuchen erhöht zwar meine Aufmerksamkeit, die sich aber leider oft nicht positiv äußert (Stress bisweilen).
Bei Dirigenten, die mir bekannt sind, reicht mir allerdings auch ein kurzes Ansingen vor dem Auftritt.

Aus der Not eine Tugend machen... Hmm. Warum wird im Profibereich denn eigentlich so wenig geprobt?
Da haben wir, dass man den Profis durchaus vertrauen kann, dass sie Instrument und Werk auch aus dem Stehgreif beherrschen. Mit dem Stressfaktor sollten sie sich über kurz oder lang arrangiert haben und diese Routine vereinfacht dann auch die spontane Kommunikation zwischen den Mitwirkenden.
Dann haben wir immer knapper werdende finanzielle Ressourcen - und ein Vadim Repin oder die Wiener Philharmoniker lassen sich Proben schon etwas kosten. Konzerte tragen sich von alleine sowieso nie - wer will da noch schön viele Proben finanzieren?
Sicherlich gibt es noch mehr Gründe, die man hier in die Waagschale werfen kann. Eine Sache gibt es aber, die sich trotz aller guten Gründe nicht einfach ausräumen lässt: Proben minimieren die Gefahr, dass etwas schief laufen kann (kann es natürlich auch trotz aller guten Proben). Ist es also wirklich professionell nicht zu proben?

Man kann diese Diskussion auch vortrefflich auf eine Metaebene heben. Wie sieht man Musik? Musik ist (abgesehen von der Möglichkeit ihrer Konservierung) stets ein Momentereignis. Im Konzert naht ein Takt, erklingt, und ist im selben Moment schon wieder Vergangenheit. Für den Dirigenten wiederum liegt der Takt, der erklingt, schon vorher in der Vergangenheit - er muss seinen Musikern stets voraus sein. So ein kleines Momentereignis wird von dermaßen vielen Faktoren beeinflusst und von solcher Spontanität geprägt, dass man es nicht haarklein planen kann. Musik würde sonst programmierbar (wurde sie sogar tatsächlich im letzten Jahrhundert). Ein Werk kann einhundert mal annähernd gleich geprobt worden sein und kann im Konzert dann doch wieder ganz anders werden. Wozu also proben?

Viele Grüße,
Alexander.
flutedevoix
Stammgast
#39 erstellt: 30. Okt 2010, 15:55
Es ist schon so, daß es unterschiedliche Musikertypen und damit auch Dirigententypen gibt. Es gibt diejenigen, die alles haarklein proben müssen, um im Moment der Aufführung frei sein zu können und ihre Leistung zu bringen.
Im Gegensatz dazu gibt es Musiker, die den Kick, das Adrenalin des Ungeprobten brauchen, um ihre beste Leistung zu bringen.

Generell würde ich sagen, daß es unmöglich ist, einen Chor, eine Orchester, ein Kammermusikensemble oder ein Solistenensemble ohne lange und intensive Probenarbeit zu einem homogenen Klangkörper zu entwickeln. Das gilt übrigens auch für ein entsrpechendes Verhältnis von Dirigent zu Orchester. Viele Operneinspielungen lassen einen schmerzlich erfahren, wie wichtig das ist. . Eine gewisse Routine ist sehr förderlich.
Zudem muß man einfach Probenzeit haben, um zum Beispiel bestimmte Spielparameter wie Klangbalance, Vibrato oder bestimmte Phrasierungen abzustimmen. Das ist spontan im Konzert unmöglich bis nur bedingt möglich.

Andererseits kann auch nicht so schlimm sein wie Routine. Man höre nur mal unsere Sinfonieorchester mit dem Standard-Repertoire (Mozart - Wagner), das ist ganz einfach oft zum Wegschlafen. Da braucht es schon einen entsprechenden Dirigenten, der es sich leisten kann, das Orchester zunächst an die Wand zu fahren (das geht, ohne das man es wirklich hören kann) und dann mit seinem Dirigat zu fesseln und so zu einer überzeugenden Leistung zu führen.

Wie immer hat alles seine guten und schlechten Seiten. Und es liegt nicht immer am Jetset.
Eine Kleinigkeit aber vielleicht noch, die doch gewisse Aufschlüsse gibt. Wir stimmen oft im Konzert nicht, um aufmerksamer und konzentrierter zu sein. Bei oft gespielten Programmen ein sehr willkommenes Mittel.
Audiodämon
Inventar
#40 erstellt: 23. Nov 2010, 04:48
Den Bolero würde ich nicht dirigieren wollen, aber gerne nach Zappa-Manier mit ner guten Band spielen, aber in voller Länge.
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