David Murray "Sacred Ground"

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fef
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#1 erstellt: 24. Okt 2007, 14:28
Ich muss ein wenig Werbung für die neue CD von David Murray, „Sacred Ground“, machen – denn ich find, dass sie einige essentielle Qualitäten des Jazz mit wirklich herausragender Meisterschaft vermittelt. Da sind Musiker beteiligt, die in jungen Jahren mit ihrer Art einen viel beachteten Einstieg schafften und mittlerweile ihren Beitrag zu einer großen Kunst weiterentwickelt haben: Andrew Cyrills Schlagzeug-Spiel ist der pure Genuss. Nirgendwo sonst hab ich Cassandra Wilson mit so subtilem Ausdruck singen gehört wie in den beiden Stücken dieser CD. David Murray spielt raffinierter, ausdrucksreicher, kunstvoller als je zuvor – ein Meister im Rang der ganz großen Saxofonisten der Jazz-Geschichte.

Man wird die Qualitäten dieser CD vielleicht nicht schätzen, ja nicht einmal wahrnehmen, wenn einen das nicht anspricht, was die Meister der Jazz-Geschichte zu einem guten Teil ausgemacht hat: der Sound und Beat aus Louis Armstrongs Trompete, Charlie Parkers und Coltranes Saxofonen, Elvin Jones Trommeln … der Sound und Beat aus einer überwiegend afro-amerikanischen Subkultur, die manche heute gerne in der Vergangenheit verschwinden lassen wollen.

In der Vergangenheit verschwunden ist auch die Erinnerung an eine Vertreibung von Afro-Amerikanern in der amerikanischen Geschichte, auf die sich einige Stücke der David-Murray-CD beziehen. - Auch wenn eine Musik noch so kunstvoll ist: Wenn man sie vom Leben der Menschen loslöst, die sich mit der Musik ausdrücken, so verliert sie viel an Bedeutung. Vieles im heutigen Jazz wirkt auf mich wie eine Art mehr oder weniger geistvolles Geklimper – vor allem, wenn die überzeugenden Sounds und Rhythmen fehlen. David Murray erzählt hingegen wahre Geschichten, die bewegen, weil sie essentielle menschliche Belange betreffen. Und er macht das mit einer hoch kultivierten, traditionsreichen Erzählkunst. Nicht in dieser eingefrorenen Art, wie man es oft in Schulen lernt: durch ein Abschauen, Imitieren und Konservieren. Das Blues-Feeling in Cassandra Wilsons Gesang und David Murrays Saxofon-Sound ist keineswegs von gestern, nicht weniger „modern“ als irgendwelche elektronischen Beats – nur eben hoch entwickelt durch eine reiche Tradition. Diese feinen Qualitäten des Jazz sind hier so lebendig, weil sie von den Musikern mit Leib und Seele gelebt werden – David Murray, Cassandra Wilson, Andrew Cyrill usw., die SIND das, was sie spielen. Und das macht diese CD so gut, dass man sie nicht übersehen sollte - wenn man Jazz liebt; den Jazz, den manche lieber in der Vergangenheit sehen würden.

Ich find es sehr überzeugend, wie David Murray seine ursprünglichen „Free-Jazz“-Überblas-Techniken nun immer mehr in ein äußerst ausdrucksvolles „Singen“ verwandelt hat, das gerade auf dieser CD weit mehr an die überschlagenden Stimmen im Gospel und an die Shouts des Blues erinnert als an avantgardistisches Kreischen. Ich stell mir vor, dass die CD eigentlich viele Jazz-Hörer ansprechen müsste, denn man muss einerseits absolut kein Freund des „Free Jazz“ sein, um sie zu mögen. Es ist keine schwierige, schräge Musik und auch rhythmisch ist sie nicht kompliziert. Und andererseits spielt David Murray so sehr in seiner speziellen Art, und zwar so gut, dass auch die Hörer, die ihn seit seiner „Free“-Zeit schätzen, wohl einfach beeindruckt sein müssten.

Der uralte Tango-Rhythmus des Stückes „Believe In Love“ klingt nun tatsächlich nach altem Schinken, aber Andrew Cyrill macht das so bezaubernd, dass es nicht nur amüsant, sondern auch ein Genuss ist. Und damit komm ich zu noch einem starken Plus-Punkt der CD: Sie erschöpft sich nicht im traurigen und empörenden Thema der Vertriebenen und Vergessenen. Sie hat auch viel von der Lebenszugewandtheit und Lebensfreude, die den Jazz bereits vor Louis Armstrong so unwiderstehlich machte. Sie hat eine reichhaltige emotionale Palette und ich stell mir auch deshalb vor, dass sie eine CD für eine breitere Hörerschaft sein müsste.

Mir hat sie jedenfalls so viel Hör-Genuss bereitet, dass ich mich verpflichtet fühle, ein klein wenig zur Werbung für sie beizutragen – zumal es David Murray offenbar vorzieht, auf einem kleinen Label seine eigenen Vorstellungen zu verwirklichen, statt sich an ein großes Label anzupassen, das dann auch für die nötige Werbung sorgen würde.

Im folgenden YouTube-Video sieht man Cassandra Wilson das letzte Stück der CD singen. Der Dichter Ishmael Reed hat den Text des Liedes extra auf sie abgestimmt – anknüpfend an die Cassandra der griechischen Mythologie. Cassandra Wilsons Lässigkeit, Raffinesse, der sehr subtile Ausdruck und Charme und schließlich das Solo von David Murray – das ist in meinen Augen: eine gute, alte, unkomplizierte Sache auf aktuelle Weise sehr, sehr gut gespielt:
http://www.youtube.com/watch?v=wyX9H5s3izo







Zur Musik von Steve Coleman: http://www.steve-coleman.at.tf/
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