Kriterien für interpretationsresistente Werke

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Kaddel64
Hat sich gelöscht
#1 erstellt: 13. Jan 2009, 14:04
Angeregt durch Franks These im "Living Stereo"-Thread, Respighis Römische Trilogie sei "eher interpretationsresistent" (mit der er sicher nicht allein steht und die ich hier auch gar nicht anzweifeln will), halte ich die Frage nach Kriterien für eine solche wenig schmeichelhafte qualitative Einstufung durchaus für erörternswert.

Dahinter steckt offenbar die Einschätzung, eine bestimmte Komposition sei quasi "unverwüstlich" und ihre adäquate Aufführung kein Kunststück, unter der Voraussetzung, man gehe mit der notwendigen Spiel-, Gesangs- oder Dirigiertechnik zu Werke, lasse ein gutes Maß an Geschmackssicherheit walten und kenne sich einigermaßen in der Interpretationsgeschichte der musikalischen Epoche aus. Im Umkehrschluss sei es unmöglich, dem Werk durch interpretatorische Ideen ein eigenes Gepräge zu verleihen.

In unregelmäßigen Abständen tauchen solche geringschätzigen Bewertungen im Forum auf, meistens in Kombination mit konkreten Beispielen. Wenn ich diese auch in vielen Fällen gefühlsmäßig unmittelbar nachvollziehen kann, so würde es mir doch schwer fallen, allgemeingültige Regeln oder einigermaßen objektive Kriterien zu definieren, nach denen Musik als "interpretationsresistent" einzustufen wäre.

Ganz oben auf der Liste der immer wieder genannten Musik stehen großorchestrale Stücke, die im Verdacht stehen, ihre Beliebtheit beim "Mainstream-Publikum" sei auf einfach gestrickte Formen, üppige Melodien und ein hohes Maß an orchestralem "Bombast" zurückzuführen:
- R. Strauss, Tondichtungen im allgemeinen, die "Alpensinfonie" im speziellen.
- Holst, "Planets"
- Respighi, "Pini di Roma / Fontane di Roma / Feste Romane"
- NRK, "Scheherazade"

Andererseits werden sogar Solokonzerte genannt, also Werke, deren Reiz ja gerade in der individuellen Gestaltung durch den Solisten liegt...:
- Vivaldi, "Le quattro staggioni"
- Mozart, Konzerte für mehrere Klaviere

Und gewiss würde niemand auf die Idee kommen, die großen Sinfoniker, die Opernspezialisten oder Klaviersonaten- und Streichquartettschreiberlinge hier einzuordnen...

Alles Geschmackssache, rein subjektives Geplänkel, Wichtigtuerei? Oder lassen sich aus meiner oben begonnenen Beispielsammlung Rückschlüsse auf Kriterien ziehen? Wie seht ihr's?
Martin2
Inventar
#2 erstellt: 14. Jan 2009, 18:37
Ich glaube nicht an interpretationsresistente Werke. Allerdings gibt es Werke, die so verdammt gut sind, daß sie selbst in einer ziemlich lausigen Interpretation noch riesigen Eindruck machen, zumal, wenn man nichts besseres kennt.

Den Gedanken der Interpretationsresistenz kann ich schon deshalb nicht ernst nehmen, weil zum Beispiel das Tempo immer eine riesige Rolle spielt. Kann sein, daß dann ein Stück bei einem etwas falschen Tempo trotzdem noch wirkt. Und auch sonst falscher Interpretation. Aber wenn man diesen Maßstab anlegt, gibt es eigentlich fast keine gute Musik, die nicht in irgend einer Weise auch interpretationsresistent wäre.

Kurz gesagt: Ich glaube an die ganze Sache mit der Interpretationsresistenz nicht. Allerdings mag es Sachen geben, die so bekannt sind, daß zum Beispiel beim Tempo kaum jemand daneben liegt. Aber auch bei angeblich interpretationsresistenten Werken ist das bessere der Feind des guten oder sogar schlechten.

Gruß
Martin
op111
Moderator
#3 erstellt: 14. Jan 2009, 22:45

Martin2 schrieb:
Ich glaube nicht an interpretationsresistente Werke.


Geht mir genauso- Irgendein längst vertorbener Großkritiker wurde nicht müde zu betonen, ein Haydn-Menuett sei schwerer zu interpretieren als ein fetter Richard Strauss-Schinken.
Vermutlich sollte das seine Geschmackspräferenzen stützen.

Die große Anzahl langweiliger Alpensinfonien, zäher Zarathustras und Schlafmittel-Sheherazades zeigt, daß deren Ausführung alles andere als problemlos ist.
Kreisler_jun.
Inventar
#4 erstellt: 15. Jan 2009, 18:57
Jedenfalls wurden und werden Haydn-Menuette häufiger im falschen Tempo (zu langsam) gespielt als Strauss-Schinken...

Ich sehe das aber sonst genauso. Kaputt kriegt man alles und es ist auch kein Qualitätsmerkmal, wenn ein Werk eine "Vergewaltigung" eher übersteht als ein anderes. Ich glaube, die Idee in dem anderen thread war, daß die Vielzahl und Präzision der Vortragsangaben z.B. bei Mahler oder Strauss weniger Spielraum läßt als es bei Händel oder Mozart der Fall ist, sondern "einfach nur" umgesetzt werden muß. Aber das scheint mir nicht stichhaltig, denn zum einen ist die Umsetzung dieser Angaben ja nicht exakt festgelegt, zum andern kann man sie schlicht ignorieren.

viele Grüße

JK jr
Mellus
Stammgast
#5 erstellt: 18. Jan 2009, 21:43
Eine Komposition wird wohl nur dann interpretationsresistent sein, wenn sie gar keiner Interpretation (d.i. Aufführung) bedarf. Elektronische Musik, die als fertiges Werk auf einem Datenträger gespeichert ist, sollte in diesem Sinne interpretationsresistent sein.

Das gilt natürlich nur, wenn dem elektronischen Werk keine Partitur o.Ä. zu Grunde liegt. Denn dann steht die Aufführung und damit Interpretation dieser Partitur im Prinzip allen Musikern offen.

Interpretationsabhängigkeit liegt also wohl in der Natur der Sache Musik: Solange Komposition und Aufführung zwei unterschiedliche Stadien des musikalischen Schaffens sind, kann es so etwas wie Interpretationsresistenz nicht geben.

Wie sich Sonderfälle wie Cages "4,33" zur Interpretation verhalten, darüber bin ich mir nicht ganz im Klaren. Ich tendiere aber dazu, "4,33" als interpretationsabhängig einzuschätzen. Schließlich soll es ja drei Teile haben, was Interpretationsspielraum eröffnet. Zudem geschieht in den 4 Minuten und 33 Sekunden eine ganze Menge anderes und von Aufführung zu Aufführung verschiedenes.

Viele Grüße,
Mellus
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