Gehe zu Seite: |vorherige| Erste Letzte

Darwin Jahr 2009 - Musikwerke, Mythen, Spiritualität, Naturwissenschaften

+A -A
Autor
Beitrag
Kings.Singer
Inventar
#51 erstellt: 11. Apr 2009, 21:21
Hi.

Über das Stadium unreflektiert an "satzhafte Information" aus der Bibel zu glauben, sind die christlichen Großkirchen hinweg.

Ebenso möchte ich dahin gehend relativieren, dass Wissenschaft und Glaube eben nicht völlig voneinander getrennte Dinge sind. Dazu will ich an Papst Johannes Paul II. erinnern, der in seiner Enzyklika (also ein kirchlich-lehramtliches Dokument, das nach seiner Veröffentlichung zwar differenzierteren Betrachtungen unterzogen, aber grundsätzlich von der Kirche nicht mehr verworfen werden darf) "Fides et Ratio" von 1998 aussagt, dass beide Dinge in der Geschichte auch voneinander profitiert haben (sie haben sich "gegenseitig befruchtet").

Problematisch ist es nur, wenn beide Seiten ihre (positiven) Gemeinsamkeiten nicht erkennen. Und dies ist meiner Ansicht nach in der Art und Weise viel zu sehr im Geist unserer Zeit verwurzelt. Dieses Schwarz-Weiß-Denken.

Aber kann man die Menschen deshalb überhaupt verurteilen?
Differenzierte Sichtweisen kann man doch nur erlangen, indem man "über den Tellerrand" hinaus blickt. Wer tut das schon? Wem wird das überhaupt ermöglicht?

Viele Grüße,
Alex.


[Beitrag von Kings.Singer am 11. Apr 2009, 21:23 bearbeitet]
op111
Moderator
#52 erstellt: 12. Apr 2009, 13:59

Sir_Henry0923 schrieb:
Ich kann nicht verstehen, dass beide Seiten, Naturwissenschaftler und Theologen einander befehden ob der jeweiligen Richtigkeit ihrer Weltanschauung.

Das war leider nicht immer so, denken wir nur mal an Galileo Galilei, Giordano Bruno etc.
Die moderne, seit der Aufklärung - zumindest in der westlichen Welt - entwickelte Haltung hat sich, wenn man die aktuellen Konflikte in der Welt betrachtet, offensichtlich leider noch nicht in allen Köpfen entwickelt.
Die gewaltsame Durchsetzung religiöser Dogmen ist längst noch nicht Vergangenheit.
Martin2
Inventar
#53 erstellt: 13. Apr 2009, 11:28
Hallo Franz,

das ist zweifellos richtig, jedoch auch nur ein Teil der Analyse. Der Rassenwahn der Nazis oder auch der Stalinistische Terror und andere Phänomene sind sicher keine religiösen Phänomene.

Wir befinden uns allerdings bei solchen Analysen auf wackligem Grund, weil Analyse gesellschaftlicher Phänomene eine Analyse menschlicher Phänomene ist und der Mensch ist nie klar zu fassen. Nur - gleichgültig ob Du eine solche Analyse teiltst oder nicht - solltest Du schon sehen, daß gerade die politischen Katastrophen des frühen 20. Jahrhunderts auch vor dem Hintergrund eines Nachlassens von Religion gesehen worden sind. Jedenfalls ist religiöse Intoleranz nicht das einzige, was mir Angst macht, auch wenn sie im Zuge islamischen Fundamentalismus im moment im Vordergrund steht.

Gruß Martin
Klassikkonsument
Inventar
#54 erstellt: 14. Apr 2009, 15:00
Hallo Henry,


Sir_Henry0923 schrieb:
in der Wissenschaft geht es nicht darum zu fantasieren, sondern deduktiv oder induktiv Modelle zu entwickeln, die unsere Welt erklären. Dann ist aber jeweils das Experiment notwendig, um die Theorien zu falsifizieren. Ist das nicht möglich, ist das Modell bestätigt, was aber keinesfalls bedeutet, dass es nicht später durch andere Modelle ersetzt oder erweitert werden kann.


Ich meinte bloß, dass man ganz ohne Phantasie, Fiktion (im Sinne von Konstruktion als subjektiver Tätigkeit) nicht auskommen wird. Kant nennt sowas auch "produktive Einbildungskraft". Mit Phantasie allein wird man in den Naturwissenschaften sicher nichts ausrichten können.

Ein Klassiker der Wissenschaftsgeschichte ist das Lehrgedicht von Parmenides, in dem er seinen Begriff vom Sein darstellt.
Der ist sicherlich überholt, aber immerhin eine Frühform des Satzes vom Widerspruch, wenn er nicht gar schon eine Denkfigur beschreibt, die man später im Massenerhaltungssatz wiederfindet.

op111
Moderator
#55 erstellt: 14. Apr 2009, 18:09
Hallo Martin,

Martin2 schrieb:
jedoch auch nur ein Teil der Analyse ... und andere Phänomene sind sicher keine religiösen Phänomene.

eine umfassende Analyse aller globalen Phänomene zu liefern, hatte ich selbstverständlich nicht beabsichtigt.
Dennoch ist der religiöse Fundamentalismus für mich ein beängstigendes Phänomen.

Aber sehen wir einfach mal ab von den globalen weltpolitischen Problemen.

Wenden wir uns allgemeinen Überzeugungen, für die es keine Indizien gibt und die sich deshalb auch nicht beweisen lassen, zu - religiöse Dogmen sind da nur eine Untermenge.

Ich weiß nicht, wer von euch schon einmal Foren über HiFi-Voodoo&Tuning besucht hat oder gar Diskussionen unter Fans auf Hifimessen beobachtet hat.
Meine Wahrnehmung ist, dass einige Verfechter wissenschaftlich/technisch nicht begründbarer Tuningmassnahmen und eindeutig esoterischer Zubehörteile dazu neigen, vehemente Streitigkeiten vom Zaun zu brechen.
Dies meist schon, wenn sich vermeintlich auch nur der leiseste Zweifel an ihrer Überzeugung zu regen scheint, sei es nur durch die zaghafte Frage "Wie funktioniert das?"

Dagegen ruft in meiner Wahrnehmung der Diskurs über "reale" Sachthemen, wie die korrekte Korrektur des Bafflesteps, optimale Filtercharakteristiken o.ä., viel seltener Handgreiflichkeiten aus.


AladdinWunderlampe schrieb:

Davon abgesehen besitzen doch naturwissenschaftliche Theorien oftmals gerade für diejenigen, die sie von außen wahrnehmen, ein relativ großes poetisches Potential: Vorstellungen wie die des Urknalls, der schwarzen Löcher, des Cyberspace (der aber vermutlich eher durch die Kultur- als durch die Naturwissenschaften geistert), der gentechnischen Optimierung der Menschheit sind doch mittlerweile längst zu modernen Mythen geworden, die in allen möglichen Künsten aufgegriffen worden sind.


Dennoch scheinen die mehr "spirituellen" Themen deutlich stärkere Anziehungskraft zu besitzen und nicht nur in profanen Dingen (wie CD-Sprays) heftigere Emotionen hervorzurufen.
Demnach werde ich auf das Oratorium "Die Evolution" noch länger warten müssen.


[Beitrag von op111 am 14. Apr 2009, 19:06 bearbeitet]
AladdinWunderlampe
Stammgast
#56 erstellt: 15. Apr 2009, 01:51
Liebe Geisterseher und -leugner,

ein Problem dieser Diskussion scheint mir zu sein, dass in einigen Beiträgen Begriffe wie Mythos, Religiosität, Spiritualität weitgehend gleichbedeutend verwendet werden, obwohl sie nicht bedeutungsgleich sind.

So sind beispielsweise Mythen durchaus nicht notwendigerweise durch den Bezug auf irgend etwas Spirituelles charakterisiert. Wie nicht erst Roland Barthes bemerkt hat, wird der "Mythos [...] nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht. Es gibt formale Grenzen des Mythos, aber keine inhaltlichen." (Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 85.) Deshalb kann Barthes über "Mythen des Alltags" schreiben. Und deshalb können eben auch wissenschaftliche Erkenntnisse mythisiert werden.

Das Prinzip "Prinzip" des Mythos bestimmt Barthes folgendermaßen: "er [der Mythos] verwandelt Geschichte in Natur." (ebenda, S. 113). In antiken Mythen wird diese Naturalisierung des Geschichtlichen oftmals durchaus nicht mit spiritueller oder religiöser, sondern mit politischer Intention betrieben; Vergils "Aeneis" ist - wie viele andere Mythen - als Gründungsmythos des römischen Reiches angelegt; Vergils Intention, den zeitgenössischen Kaiser Augustus als den schicksalhaft vorbestimmten Heilsbringer darzustellen, lässt minutiös bis in formale Details des zwölfbändigen Versepos verfolgen.

Und auch Richard Wagner handelt im Ring des Nibelungen nichts sonderlich Spirituelles ab; vielmehr nutzt er den Mythos als Form, um (unter anderem) eine Art Urgeschichte des Kapitalismus zu schreiben, wie er ihn - durch die Brille Feuerbachs, Bakunins und (später) Schopenhauers gelesen - in der Industriegesellschaft zu erkennen glaubte.

Am Falle Wagners kann man übrigens ein Element des Mythos erkennen, dass den (monotheistischen) Religionen gerade entgegengesetzt ist: Zu den formalen Eigentümlichkeiten des Mythos gehört das unbekümmerte Verbinden und Umschreiben überlieferter Motive. Um nochmals Bartes zu zitieren: "Der Mythos ist weder eine Lüge noch ein Geständnis. Er ist eine Abwandlung." (ebenda, S. 112)

Hans Blumenberg hat demgemäß den Ursprung des Mythos mithilfe zweier entgegengesetzter Kategorien bestimmt: "als Terror und als Poesie - und das heißt: als reiner Ausdruck der Passivität dämonischer Gestalten oder als imaginative Ausschweifung anthropomorpher Aneignung der Welt und theomorpher Steigerung des Menschen." (Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt am Main 2001, S. 331) Und es ist dieses "poetische" Element, das den Mythos laut Blumenberg gerade in Opposition zur Dogmatik monotheistischer Schriftreligionen bringt: "Das Verbot des Dekalogs (Exodus 20,7), den Gottesnamen unnütz zu gebrauchen, ist die eigentliche und strikte Gegenposition zu aller Mythologie und ihrer Leichtigkeit, mit der unfixierten Gestalt und Geschichte des Gottes und der Götter umzugehen. Nicht von ungefähr geht Mythologie in Dichtung über, und verwandelt dieser Übergang rückwirkend sein 'Material'. [...] Dadurch erscheint alles am Mythos als Kontrast: seine Leichtigkeit, seine Unverbindlichkeit und Plastizität, seine Disposition für Spielbarkeit im weitesten Sinne, seine Ungeeignetheit zur Markierung von Ketzern und Apostaten." (Hans Blumenberg: ebenda, S. 335) Man vergleiche damit den Streitfall des Konzils von Nicäa, bei dem die Unterscheidung, die Ketzer von Rechtgläubigen trennte, letztlich an einem einzigen Buchstaben hing...

Was sollte einen Künstler also hindern, wissenschaftliche Ansätze, Theoreme oder Ergebnisse als Material für mythische Entwürfe zu verwenden? Tatsächlich gibt es - nicht nur im Bereich vermeintlich "avantgardistischen Wahns", sondern ganz selbstverständlich gerade auch im Bereich der populären Literatur und des Films - Berge von Kunstprodukten, die derartige Neuzusammenstellungen, Umschreibungen, poetische Fortspinnungen und Überformungen von wissenschaftlichen Elementen zu modernen Mythen betreiben - man nennt sowas "Science fiction". Und gerade der von Martin bespöttelte Mythos einer "gentechnischen Optimierung des Menschen" hat - teils als Heilserwartung, teils als Horrorvorstellung - längst Einzug in die Vorstellungswelt nicht nur jener Zeitgenossen gehalten, bei denen der Wegfall tradierter religiöser Bindungen ein wie auch immer spirituelles Vakuum hinterlassen hat.

Was ich am Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion spannend finde, sind übrigens nicht Fragen wie die nach der Jungfrauenschaft Mariens oder wie Gott es denn nur geschafft haben soll, die Welt in sieben Tagen zu erschaffen; von der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn bis zur historisch-kritischen Methode gibt es ja diverse exegetische Verfahren, die sich um eine Differzierung verschiedener Bedeutungsebenen biblischer Texte bemühen. Interessanter finde ich die Frage, ob ein Verfahren wie die historisch-kritische Exegese, die sich ja - wenn ich recht verstehe - methodisch wesentlich auf historischer und philologischer Basis bewegt, nicht dazu führt, dasjenige, was aus religiöser Perspektive als göttliche Offenbarung verstanden werden sollte, in ein rein kulturelles Phänomen aufzulösen? Andererseits: Was könnte man aus einer wissenschaftlich akzeptierbaren Perspektive sachlich gegen sie einwenden, um das "Religiöse" zu retten? Oder verstehe ich hier etwas total falsch? Vielleicht weiß ja Kings.Singer als Fachmann hierzu etwas zu sagen?



Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 15. Apr 2009, 16:21 bearbeitet]
AladdinWunderlampe
Stammgast
#57 erstellt: 15. Apr 2009, 11:43
Übrigens hat der Philosoph Jürgen Habermas in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels - Glauben und Wissen - Möglichkeiten diskutiert, wie ein Dialog zwischen Anhängern religiöser Bekenntnisse und Verfechtern einer sich als aufgeklärt begreifenden Vernunft ohne dogmatische Verhärtungen (auf beiden Seiten) möglich und fruchtbar sein könnte.


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 15. Apr 2009, 11:51 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#58 erstellt: 15. Apr 2009, 20:40
Hallo Aladdin,

Dein Beitrag definiert für mich nicht klar, was mit Mythos überhaupt gemeint sein soll. Wikipedia definiert, daß der Mythos einen Geltungsanspruch beinhaltet und diese Feststellung erscheint mir wichtig. Das unterscheidet den Mythos vom bloßen Märchen - das Märchen ist bloße Fiktion, das keinen Geltungsanspruch beinhaltet, sondern "gar nicht wahr ist", der Mythos aber beinhaltet einen solchen Geltungsanspruch, auch wenn es dort sicherlich jederlei Grauzonen und Übergänge gibt.

Als zweites wird man aber feststellen müssen, daß der Geltungsanspruch des Mythos nicht der einer wissenschaftlichen Theorie oder von erfahrenem Wissen ist. In der Tat siedelt der Mythos im nicht überprüfbarem, legendenhaften.

Griechische Mythen etwa beinhalten viel von dem, was im antiken Griechenland an religiösen Vorstellungen tatsächlich geglaubt worden ist. Heute wird an diese Mythen nicht mehr geglaubt - niemand opfert dem Gott Apoll oder glaubt an die Geschichten vom alten Seegott Neptun - insofern sind diese Mythen abgestorben. Was allerdings problematisch ist, ist wenn man den Begriff des Mythos geradezu mit diesem Begriff des Abgestorbenen verbindet, so als seien diese Mythen geradezu erfunden worden, um irgendwelchen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts als Vorlage zu dienen.

Wobei ich daran glaube, daß der Mythos auch als abgestorbener Mythos noch einen Gehalt des Mythischen enthält.

Aladdins Beitrag macht mir jedenfalls überhaupt nicht klar, was er eigentlich unter dem Mythischen verstehen will - er nimmt den Geltungsanspruch von Mythen letztenendes nicht ernst - wofür auch seine Zitate sprechen. Mythos ist eben durchaus mehr als Poesie - Mythos hat einen Wahrheitsanspruch, Poesie hat ihn nicht. Auch sein Ausspielen des Mythos gegen die Religion kann ich nicht nachvollziehen. Wobei dieses Ausspielen sicherlich auch in einer christlichen Tradition steht, die Religion gegen Mythos ausspielte. Darauf lasse ich mich aber nicht ein. Auch die christliche Religion enthält letztenendes Mythen, die einen Wahrheitsanspruch erheben, wie andere Religionen auch und nur deshalb weil man sie für wahr hält und andere Mythen nicht, den eigenen Glauben als Religion, den anderen dagegen als anrüchigen Mythos darzustellen, kann man begrifflich nicht tun. Anderseits gibt es dann auch wieder Gegner der christlichen Religion, die die Bibel als "Märchenbuch" darstellen, auch dies trägt zur begrifflichen Verwirrung bei. Ein Mythos ist eben kein Märchen, er beinhaltet einen Wahrheitsanspruch, den man selbstverständlich verneinen kann, aber daraus speist sich die ewige begriffsverwirrende Ansprechung des Mythos als Märchen.

Gruß Martin
Klassikkonsument
Inventar
#59 erstellt: 15. Apr 2009, 23:53
Hallo Martin,


Martin2 schrieb:
Dein Beitrag definiert für mich nicht klar, was mit Mythos überhaupt gemeint sein soll. Wikipedia definiert, daß der Mythos einen Geltungsanspruch beinhaltet und diese Feststellung erscheint mir wichtig. Das unterscheidet den Mythos vom bloßen Märchen - das Märchen ist bloße Fiktion, das keinen Geltungsanspruch beinhaltet, sondern "gar nicht wahr ist", der Mythos aber beinhaltet einen solchen Geltungsanspruch, auch wenn es dort sicherlich jederlei Grauzonen und Übergänge gibt.

Als zweites wird man aber feststellen müssen, daß der Geltungsanspruch des Mythos nicht der einer wissenschaftlichen Theorie oder von erfahrenem Wissen ist. In der Tat siedelt der Mythos im nicht überprüfbarem, legendenhaften.


in Aladdins Ausführungen wird halt versucht, den Mythos nicht über seine Inhalte (Götter, Magie etc.) zu definieren, sondern über seine Behandlung von oder Sicht auf vielleicht beliebige Inhalte.

Ich bin mir nicht sicher, ob ich Science Fiction im vollen Sinne als Mythos bezeichnen würde. Aber jedenfalls scheint in diesem Genre der Wunsch, dass es Wunder gebe, der nüchternen Herangehensweise an die Welt wie man sie von den modernen Wissenschaften kennt, ein Schnippchen zu schlagen: Ereignisse, die in Mythen, Märchen und phantastischen Geschichten auf Magie zurückgeführt werden, werden in der Science Fiction als natürlich erklärbar dargestellt.
Das kann man jedoch als fadenscheinige Schutzbehauptung abtun.

Allerdings bleibt dem Laien die genaue Wirkungsweise moderner Technologie im Dunklen, so dass sie in gewisser Weise der geheimnisvollen Vermittlung erwünschter Wirkungen durch Zauberei gar nicht so unähnlich sieht.

Statt sich nun rational zu dem geheimnisvoll Scheinenden zu verhalten und entsprechend Astrophysik, Informatik und Biologie zu studieren, entschlägt sich das wünschende Bewusstsein all dieser in einem Menschenleben gar nicht zu bewältigenden Mühen und knüpft auch gern an aus den Wissenschaften verlautende Motive Hoffnungen und Befürchtungen ohne lästige Umwege.
Wird das Universum den Kältetod erleiden oder ist es doch in unendlichem Werden und Vergehen begriffen, in dem es sich nach einer Phase der Ausdehnung durch Gravitation wieder zusammenzieht? Vielleicht führt das zu einem neuen Urknall und einem neuen Anfang von allem? Lassen sich die übergroßen Räume und Zeiträume des Universum doch irgendwie vom kurzlebigen Menschen überwinden?
Man muss kein Nerd sein, um diese Fragen spannend zu finden.

Den besonderen Geltungsanspruch des Mythos begründet vielleicht der Wunsch, der in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist.

Viele Grüße


[Beitrag von Klassikkonsument am 15. Apr 2009, 23:56 bearbeitet]
AladdinWunderlampe
Stammgast
#60 erstellt: 16. Apr 2009, 01:24
Hallo Martin,


Du schreibst:


Als zweites wird man aber feststellen müssen, daß der Geltungsanspruch des Mythos nicht der einer wissenschaftlichen Theorie oder von erfahrenem Wissen ist. In der Tat siedelt der Mythos im nicht überprüfbarem, legendenhaften.


Dieser Einschätzung stimme ich zu. Sie widerspricht allerdings nicht meiner Behauptung, dass Mythen in der Lage sind, Elemente wissenschaftlicher Theorien in sich aufzunehmen, denn das Mythische ist ja laut Barthes nicht durch inhaltliche, sondern wesentlich durch formale Aspekte bestimmt. Dies bestätigt übrigens auch der Wikipedia-Artikel "Mythos", den Du zur Stützung Deines Begriffsverständnisses anführst - und zwar nicht für erst für "irgendwelche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts" (von denen bei mir übrigens in diesem Zusammenhang nie die Rede war), sondern gerade für die klassische Antike. Im Wikipedia-Artikel heißt es nämlich ganz analog zu der von mir zitierten Äußerung von Roland Barthes:


In der Antike (vor allem bei Aristoteles) hat „Mythos“ eine erzähltechnische Bedeutung, die von konkreten Inhalten unabhängig ist.


Auch sonst scheint mir die dort vorgenommene Begriffsexplikation weitgehend das Gegenteil von dem zu besagen, was Du für den Begriff des Mythos in Anspruch nimmst: So entspricht Deine Auffassung,


daß der Mythos einen Geltungsanspruch beinhaltet
,

laut Wikipedia gerade nicht dem antiken, sondern ausgerechnet jenem neuzeitlichen Verständnis, das Du genau umgekehrt als als Verfallsform des Mythos-Begriffs charakterisierst, die jenen für Dich zentralen Geltungsanspruch nur noch als "Abgestorbenes" enthalte und ihn somit "nicht ernst" nehme.

Bei Wikipedia heißt es nämlich:


In der Neuzeit hat der Begriff einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren. Er wird in der Gegenwart zumeist für eine Erzählung verwendet, die Anspruch auf Geltung erhebt (Ideologie). [...]


Dagegen ist dasjenige, was Blumenberg als das poetische Moment des Mythos charakterisierte, laut Wikipedia auch schon in der Antike hervorgehoben und gegen mögliche Wahrheitsansprüche des Mythos in Anschlag gebracht worden:


Für Platon ist ein Mythos das Werk eines Dichters, das immer Falsches, aber auch Wahres enthält (Politeia 377a). Er wandte sich gegen die Verblendung der athenischen Bürger durch die Dichter. Die literarische Gattung des so genannten Platonischen Mythos hingegen kann ganz Unterschiedliches umfassen: Ein Gleichnis, eine Metapher oder auch ein Gedankenexperiment. [...] Aristoteles billigt einem Mythos nur die Möglichkeit einer Annäherung an die Wahrheit zu.


Übrigens setzt Blumenberg ebenso wenig wie ich den Mythos mit etwas rein Fiktiven gleich; vielmehr spricht er davon, das Mythos in Dichtung übergehe. Und er benennt - in einer langen Begriffstradition - neben der "Poesie" als zweites Wesenselement des Mythos den "Terror"; gemeinst sein dürfte damit so etwas wie der Schrecken, das Ausgeliefertsein des Menschen an die uneinsehbare Willkür höherer Gewalten. Nur glaubt er, dass dieses unentrinnbare Verhängnis in der Form des Mythos gerade poetisch gebannt werden soll.

(Auch wenn es in diesem Forum bekanntlich gefährlich ist, den Namen des Frankfurter Du-weißt-schon-wer fallenzulassen, sei in diesem Zusammenhang wenigstens kurz daran erinnert, dass Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer "Dialektik der Aufklärung" - der Titel deutet es schon an - den "Mythos" durchaus nicht als bloße dumpfe Gegeninstanz zur vermeintlich lichten "Aufklärung" aufgefasst haben, sondern vielmehr postulierten, dass der "Mythos in die Aufklärung" übergehe [Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, S. 15]; sie exemplifizieren dies an einer Analyse der Homerischen "Odyssee", in deren Zentrum die vielbeschworene "List" des Odysseus steht.)

Was schließlich das Verhältnis der Mythen zu Religionen betrifft - wobei ich übrigens stets ausdrücklich nur von den monotheistischen Schriftreligionen (also Judentum, Christentum und Islam) gesprochen habe -, so ist das Unterscheidende des poetischen Moments geradezu ins Auge springend:

Keines der großen epischen Werke, in denen die antike Mythologie überliefert ist - weder Hesiods "Theogonie", noch Homers "Illias" und "Odyssee", Vergils "Aeneis" oder gar Ovids "Metamorphosen" - ist jemals als heiliger Text verehrt worden. Jedes von ihnen - und auch jede der zahlreichen kleineren und heutzutage unbekannteren mythischen Schriften - verknüpft und erzählt die geradezu unüberschaubare Fülle mythischer Figuren und Handlungsmotive in anderer Weise. Wenn Du einmal einen Blick in die fünf Bände des "Kleinen Pauly", also des klassischen Nachschlagewerks über die Welt der Antike, wirfst, wirst Du geradezu erschlagen sein von der Vielfalt der Abwandlungen, die jedes mythische Motiv durch die poetische Fabulierlust der antiken Erzähler erfahren hat. Darüber hinaus sind die intrigierenden, betrügenden, mordenden und herumhurenden Götter des griechischen Olymp in einer Weise anthropomorph angelegt, wie es in monotheistischen Religionen unvorstellbar und unerträglich wäre.

Dagegen sind die heiligen Schriften eben dieser monotheistischen Religionen unantastbar; über Jahrhunderte, und teils Jahrtausende wurde hier eine ungeheuere Energie aufgebracht, die rechte Lesart zu tradieren und dogmatisch festzuschreiben, und zu diesem Zweck wurde bisweilen mit erheblichem exegetischem Aufwand auch die Triftigkeit offensichtlich widersprüchlicher Aussagen zu legitimieren versucht.

Der Streit um ein einziges Jota während des von mir bereits genannten ersten Nicäaischen Konzils - homoousios oder homoiousios? - dürfte aus der Sicht eines antiken Mythenerzählers geradezu lächerlich spitzfindig und geringfügig gewesen sein, im Christentum aber führte er zu erbitterten Auseinandersetzungen, Absetzungen, Verbannungen, Exkommunikationen, weil es hier - anders als in den ausufernden mythischen Erzählungen - um zentrale Glaubensinhalte ging. Mythos und Orthodoxie sind strukturell kaum vereinbar.

Das schließt natürlich nicht aus, das auch christliche, jüdische oder islamische Motive in mythischen Erzählungen aufgegriffen werden können; wie bereits gesagt, können Mythen ja beliebige Inhalte in sich aufsaugen. Man denke nur an Friedrich Hölderlin, der etwa in seiner gewaltigen und ergreifenden Elegie "Brot und Wein" in erstaunlicher Weise dionysische und christliche Motive verschränkt oder natürlich auch an an Goethes "Faust II". Aber kaum ein Christ dürfte diese Texte der biblischen Überlieferung gleichsetzen oder gar als Basis seines religiösen Glaubens auffassen. Ungeachtet ihres unvermesslich hohen literarischen Rangs haben sie aus religiöser Perspektive einen anderen Status als eine heilige Schrift.

Da ich aber weiß, dass Du im Zweifelsfall Nietzsche mehr vertraust als mir (oder gar Du-weißt-schon-wem), schließe ich für heute mit einer (wie üblich zugespitzten) Bemerkung aus Nietzsches "Vorarbeiten zu einer Schrift über den Philosophen" (Gesammelte Werke, Band 6, München 1922, S. 31): "Die alten Griechen ohne normative Theologie: jeder hat das Recht, daran zu dichten und er kann glauben, was er will."


Mit herzlichen Grüßen,
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 16. Apr 2009, 09:45 bearbeitet]
Sir_Henry0923
Stammgast
#61 erstellt: 16. Apr 2009, 15:07
Hallo,


In meinem Statement weiter oben wollte ich verdeutlichen, ohne mich in Mythen und dergleichen zu verlieren, dass der Naturwissenschaftler, welcher Couleur er auch sei, bei seiner Arbeit Gott, den Gott oder welche höhere Instanz auch immer, nicht braucht. Die bleiben, mit dürren Worten gesprochen, außen vor. Was allerdings nicht ausschließt, dass ein Naturwissenschaftler auch ein gläubiger Mensch sein kann.

Ich zitiere KingsSinger: "Über das Stadium unreflektiert an "satzhafte Information" aus der Bibel zu glauben, sind die christlichen Großkirchen hinweg."

Hier liegt leider eben das Problem der christlichen Kirchen, sie verlieren sich in der "modernisierten" Exegese der Bibeltexte (von solchem Schwachsinn, wie politisch korrekte Übersetzungen mal abgesehen), indem sie sich naturwissenschaftlichen Erkenntnissen an den Hals werfen und versuchen, Wunder und ähnliches dort festzumachen.

Sie scheitern leider bereits in diesem Versuchsstadium, weil der Naturwissenschaftler gar kein Interesse hat, jedwede religiöse Fragestellungen in seine Arbeit einzubeziehen, eine Synthese von Religion und Wissenschaft ihn überhaupt nicht interessiert. Gottes Wirkung ist unter den Bedingungen des Labors nicht nachzuweisen, er ist keine physikalisch meßbare Größe.

Prompt scheut sich die hohe Geistlichkeit nicht, Wissenschaftlern Feindseligkeit gegenüber den Religionsgemeinschaften und ihren Glaubensgrundsätzen vorzuwerfen. Das ist aber nicht der Fall, denn Gott kann als nicht meßbarer Faktor im Labor keine Berücksichtigung erfahren, mehr noch, seine mögliche Existenz ist in diesem Umfeld schlichtweg verzichtbar; denn in der Wissenschaft geht es um Fakten und Wissen, der Glaube hat in der Kirche seinen Platz.

Ob sich trockene wissenschaftliche Fakten für eine musikalische Verarbeitung eignen, wage ich zu bezweifeln. Das ist mir eine ähnlich irrwitzige Vorstellung wie eine Vertonung des BGB.

Gustav Mahler hat einmal gesagt: "In meiner Musik will ich die Welt zum Klingen bringen." Das meinte er sicherlich nicht in Bezug auf wissenschaftliche Erkenntnisse, wenngleich er an derlei sehr interessiert war.

Grüße

Henry


[Beitrag von Sir_Henry0923 am 16. Apr 2009, 15:10 bearbeitet]
AladdinWunderlampe
Stammgast
#62 erstellt: 17. Apr 2009, 16:57

Sir_Henry0923 schrieb:

Hier liegt leider eben das Problem der christlichen Kirchen, sie verlieren sich in der "modernisierten" Exegese der Bibeltexte (von solchem Schwachsinn, wie politisch korrekte Übersetzungen mal abgesehen), indem sie sich naturwissenschaftlichen Erkenntnissen an den Hals werfen und versuchen, Wunder und ähnliches dort festzumachen.


Ist das wirklich so? Ich persönlich kenne Derartiges bestenfalls von sektiererischen Splittergruppen. Dass heutige Repräsentanten der großen christlichen Kirchen biblische Wunder mit naturwissenschaftlichen Mitteln zu erklären versuchen, ist mir dagegen unbekannt und würde mich ehrlich gesagt auch wundern.


Mit herzlichen Grüßen
Aladdin
Martin2
Inventar
#63 erstellt: 17. Apr 2009, 17:40

AladdinWunderlampe schrieb:

Auch sonst scheint mir die dort vorgenommene Begriffsexplikation weitgehend das Gegenteil von dem zu besagen, was Du für den Begriff des Mythos in Anspruch nimmst: So entspricht Deine Auffassung,


daß der Mythos einen Geltungsanspruch beinhaltet
,

laut Wikipedia gerade nicht dem antiken, sondern ausgerechnet jenem neuzeitlichen Verständnis, das Du genau umgekehrt als als Verfallsform des Mythos-Begriffs charakterisierst, die jenen für Dich zentralen Geltungsanspruch nur noch als "Abgestorbenes" enthalte und ihn somit "nicht ernst" nehme.

Bei Wikipedia heißt es nämlich:


In der Neuzeit hat der Begriff einen erheblichen Bedeutungswandel erfahren. Er wird in der Gegenwart zumeist für eine Erzählung verwendet, die Anspruch auf Geltung erhebt (Ideologie). [...]



Hallo Aladdin,

diese Argumentation kann ich nicht nachvollziehen. Das eine ist der Mythos, das andere ist seine Definition. Gegen Deine Auffassung von "modernen Mythen" argumentiere ich. Wenn ich mich jedoch Begrifflichkeiten bediene, so versteht es sich von selbst, daß ich Mythos so definiert haben möchte, wie er heute definiert wird und nicht wie vor 500 Jahren. Streitigkeiten um Begrifflichkeiten empfinde ich jedenfalls als ausgesprochen müßig, vor allem dann, wenn man so streitet, als ob man um das Verständnis einer Sache sich auseinandersetzte, während es in Wirklichkeit doch nur um die Definition eines Begriffs geht. Insofern mag dann etwa Blumenberg den Mythos als "antiken Mythos" verstanden wissen und ihn von der biblischen Religion abgrenzen, aber auch das ist nur ein Streit um Begriffe.

Ansonsten teile ich selbstverständlich Deine oder wohl auch Blumenbergs Unterscheidungen von jüdisch christlicher und antik griechischer Religion. In der Tat hatten die Griechen keine "heiligen Texte". Insofern kann die Geltung antiker Mythen nicht mit denen biblischer Texte gleich gesetzt werden. Das ist völlig klar. Es mag dann auch sein, daß antike Mythen in ihrer oft künstlerischen Gestaltung antiker Autoren jenes gewissermaßen schwebende der Geltung hatten, dieses Ineinanderübergehen von Dichtung und Wahrheit. Dies ist sicherlich ein eigenartiges Phänomen, aber auch hier hieße es wieder die Definition und die Sache selbst miteinander zu vermischen, wenn man meint, daß, nur weil eine Sache selbst einen gewissen schwebenden Charakter habe, man selber mit "unklaren Definitionen" arbeiten dürfe, denn die Unklarheit einer Sache rechtfertige die Unklarheit einer Definition. Bei Deinem Beitrag wiederum registriere ich genau dies, daß Du die Geltung des Mythos und die bloße künstlerische Nachahmung des mythisch sich gebenden "mythischen Erzählung" ganz grundsätzlich durcheinander wirfst und daß Du Dich um Abgrenzung hier überhaupt nicht bemühst und daß Du meines Erachtens genau dieses tust, schwebende Dinge in unklaren Difinitionen zu reflektieren.

Gruß Martin
Klassikkonsument
Inventar
#64 erstellt: 17. Apr 2009, 18:44
Hallo Aladdin,


AladdinWunderlampe schrieb:
Keines der großen epischen Werke, in denen die antike Mythologie überliefert ist - weder Hesiods "Theogonie", noch Homers "Illias" und "Odyssee", Vergils "Aeneis" oder gar Ovids "Metamorphosen" - ist jemals als heiliger Text verehrt worden. Jedes von ihnen - und auch jede der zahlreichen kleineren und heutzutage unbekannteren mythischen Schriften - verknüpft und erzählt die geradezu unüberschaubare Fülle mythischer Figuren und Handlungsmotive in anderer Weise. Wenn Du einmal einen Blick in die fünf Bände des "Kleinen Pauly", also des klassischen Nachschlagewerks über die Welt der Antike, wirfst, wirst Du geradezu erschlagen sein von der Vielfalt der Abwandlungen, die jedes mythische Motiv durch die poetische Fabulierlust der antiken Erzähler erfahren hat. Darüber hinaus sind die intrigierenden, betrügenden, mordenden und herumhurenden Götter des griechischen Olymp in einer Weise anthropomorph angelegt, wie es in monotheistischen Religionen unvorstellbar und unerträglich wäre.


Die antike Mythologie war sicher keine Schriftreligion wie die monotheistischen Religionen.
Aber die Schriften, die diese Mythologie überliefern, waren ja vielleicht auch von vornherein keine religiös gemeinten. Man sollte jedenfalls nicht den Fehler machen, den Mythos nur für das zu halten, was schriftlich überliefert ist.
So wie Du die antike Religion darstellst, klingt es ja, als ob es dort nie etwas Heiliges gegeben hätte, dessen Verletzung sanktioniert war.
Sokrates wurde zum Tode verurteilt, Ovid in die Verbannung geschickt. Spielten dabei nicht auch moralisch-religiöse Begründungen eine Rolle?
Die unzähligen Varianten griechischer Mythen gehen nicht allein auf Abwandlungen durch phantasiereiche Autoren zurück, sondern doch auch auf den Umstand, dass es sich um mündliche Überlieferungen handelte, deren regional unterschiedlichen Versionen halt nicht durch einen allgemein durchgesetzten Text vereinheitlicht wurden.


Dagegen sind die heiligen Schriften eben dieser monotheistischen Religionen unantastbar; über Jahrhunderte, und teils Jahrtausende wurde hier eine ungeheuere Energie aufgebracht, die rechte Lesart zu tradieren und dogmatisch festzuschreiben, und zu diesem Zweck wurde bisweilen mit erheblichem exegetischem Aufwand auch die Triftigkeit offensichtlich widersprüchlicher Aussagen zu legitimieren versucht.


Einerseits gab es etwa diese Konzile, auf denen ein verbindlicher Text festgelegt wurde. Andererseits wurden dort eben fabulierende Varianten und Fortsetzungen, die es ja durchaus gab, unterdrückt - nämlich später sogenannt apokryphe Schriften wie beispielsweise das Thomas-Evangelium.
Außerdem lässt vor allem die katholische Kirche der regionalen Variation in Form von Heiligen-Legenden einen gewissen Spielraum. Womöglich ein Ventil für ein polytheistisches Bedürfnis.

Wenn Barthes von "Mythen des Alltags" schreibt, so wird hier Mythos schon in einem übertragenen Sinn verwendet.
Warum auch nicht?

Viele Grüße


[Beitrag von Klassikkonsument am 17. Apr 2009, 18:46 bearbeitet]
Joachim49
Inventar
#65 erstellt: 17. Apr 2009, 21:41

Martin2 schrieb:
Gibt es überhaupt schriftstellerische Versuche, die Evolutionstheorie poetisch zu überhöhen? Ich bezweifle sehr, daß es dergleichen gibt. Welche irgendwie inspirierende Kraft soll denn von der Evolutionstheorie ausgehen?

Gruß
Martin
:prost


Lies mal Teilhard de Chardin (der ist allerdings ziemlich aus der Mode gekommen). Dieser Jesuitenpater, der Paläoanthropologe war und eine Art spiritueller Evolutionstheorie vertreten hat, stimmte manchmal ziemlich hymnisch-poetische Gesänge auf die Evolution an.
Warum die Evolutionstheorie keine Inspirationsquelle für Komponisten sein könnte, ist mir nicht ganz klar. Mutation und Variation gibt's ja auf beiden Gebieten. Ich könnte mir sehr wohl ein Musikstück vorstellen in dem Themen überleben, aussterben oder (un)angepasst sind. Nur die Zeitdimension zu integrieren, wäre wohl etwas schwierig.
Freundliche Grüsse
Joachim
op111
Moderator
#66 erstellt: 18. Apr 2009, 09:10

Joachim49 schrieb:
Lies mal Teilhard de Chardin (der ist allerdings ziemlich aus der Mode gekommen).


Zum Glück. Der ist mir aus der Schulzeit noch durch seine Zirkelschlüsse in seinem angeblichen Gottesbeweis in Erinnerung, deren Aufdeckung uns Schülern seinerzeit viel Vergügen bereitete den Religionslehrer aber in die schiere Verzweiflung trieb.

Lohnenswerter finde ich die Lektüre des brillanten walisischen Philosophen, Mathematikers und Logikers Bertrand Russell.
Vielleicht nimmt sich mal ein Komponist Russells Teekanne an oder - publikumswirksamer - Douglas Adams' Der elektrische Mönch.

Ich teile weitgehend die Auffassung, die Sir Henry in
#61 dargelegt hat.


[Beitrag von op111 am 18. Apr 2009, 09:19 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#67 erstellt: 18. Apr 2009, 14:59
Jenseits aller Begriffshuberei - und es ist letzlich egal, wie man was definiert, Hauptsache, man hat gemeinsame Begriffe, mit denen man sich verständigen kann - will ich die Unterschiede der Auffassung noch einmal betonen. Bei allen Unterschieden etwa der antikgriechischen und der jüdischen Religion, die man ja gerne feststellen kann, ist es für mich offensichtlich, daß es hier auch große Gemeinsamkeiten gibt. Auch die biblische Tradition transportiert für mich Mythen, auch wenn es vielleicht andere sind. Mythos in diesem Sinne ist eine erzählende vorwissenschaftliche Auffassung von Welt. Den antiken Mythos dann vom jüdischen abgrenzen zu wollen und ihn damit für den "modernen Mythos" vereinnahmen zu wollen, finde ich eine grundsätzlich verkehrte Sicht der Dinge. Es sind dies für mein Gefühl auch Begriffsspitzfindigkeiten, indem man definitorisch Dinge, die herzlich wenig miteinander zu tun haben, zusammenfaßt und sie von anderen, die ihnen viel näher stehen, definitorisch trennt.

Jedenfalls ist etwa die "Evolutionstheorie" oder gar die "genetische Verbesserung der Menschheit" beileibe kein "moderner Mythos". Man kann alle diese Dinge auch "künstlerisch überhöhen", wie man letzlich auch alles machen kann, man kann auch das Telefonbuch vertonen und hat damit einen Beweis erbracht, daß man das Telefonbuch vertonen kann - nur welcher Beweis soll darin bestehen? Das Telefonbuch zu vertonen ist je nachdem entweder eine Geschmacksverirrung oder einfach ein Witz.

Es wäre dann auch schön, wenn wir über den Begriff des Mythos noch einmal ins Gespräch kommen könnten. Meiner Meinung nach werden hier Dinge grundsätzlich durcheinander geworfen. Wobei man dies für mein Empfinden auch vor dem Hintergrund journalistischer Begriffsprahlerei sehen kann, weil der Begriff "Mythos" ja so schick ist und man mit ihm alles mögliche "aufwerten" kann. In diesem Sinne gibt es dann wohl einen Mythos "Marlilyn Monroe" und es würde mich auch nicht wundern, in einer Zeitung einen Schlagzeile der Art zu finden "Der Mythos deutsche Currywurst" - nur sind das eben nichts weiter als völlig sinnentlehrte begriffliche Mystifikationen an sich völlig banaler Dinge.

Hier wird auch einfach nicht unterschieden. Das bloße Fürwahrhalten von Geschichten ohne zureichende Grundlage, kann jedenfalls auf keinen Fall so etwas wie einen Mythos begründen. Nur weil jemand etwa Star Trek für eine zutreffende Schilderung der Zukunft hält, nur weil jemand Fiktion mit Wirklichkeit verwechselt, wird aus der Sache noch kein Mythos. Und nur weil jemand völlig banale Lügengeschichten in die Welt setzt, an die andere glauben sollen, wird aus diesen Lügengeschichten auch noch kein Mythos. Und nur weil irgendjemanden der Gedanke an den Urknall mit "erhabenen Gefühlen" erfüllt, wird aus der Sache auch noch kein Mythos - das ist eine bloße emotionale Reaktion, die Wissenschaften überhöht. Und wiegesagt der Begriff Mythos ist eben meistens nichts weiter als eine begriffliche Überhöhung und Mystifikation ohne jeden Sinn.

Ich glaube allerdings nur an die spirituelle Kraft des genuinen Mythos und ich halte die Aufwertung von allem und jedem als Mythos nur für ein billiges Verkaufsmanöver, mit dem man den Eingeborenen Glasperlen andreht, um ihnen weis zu machen, es handele sich um echte.

Gruß Martin


[Beitrag von Martin2 am 18. Apr 2009, 15:02 bearbeitet]
op111
Moderator
#68 erstellt: 21. Apr 2009, 13:21

Martin2 schrieb:
Ich glaube allerdings nur an die spirituelle Kraft des genuinen Mythos und ich halte die Aufwertung von allem und jedem als Mythos nur für ein billiges Verkaufsmanöver, mit dem man den Eingeborenen Glasperlen andreht, um ihnen weis zu machen, es handele sich um echte.

Qualität und Inhalt eines Mythos' sind m.E. für musikalische Werke oft weitgehend unerheblich.
Ein Beispiel:
Im Zusammenhang mit Mythen fällt oft der Name Richard Wagner.
Ist der Gral ein genuiner Mythos in deinem Sinn, Martin? Ich denke: ja.
Im Lohengrin z.B. bleibt der Mythos "Gral" jedoch pure Staffage. Der Gral ist für die Handlung so belanglos wie der MacGuffin in Alfred Hichcocks Filmen.

MacGuffin ist der von Alfred Hitchcock geprägte Begriff für mehr oder weniger beliebige Objekte oder Personen, die in einem Film meist dazu dienen, die Handlung auszulösen oder voranzutreiben, ohne selbst von besonderem Interesse zu sein...

Im Grunde könnte Lohengrin auch vom Mars oder als Zeitreisender aus der Zukunft kommen, woher auch immer - die Handlung und die menschlichen Konflikte darin verändert das nicht.
Wichtig daran ist Stärke des Mythos - nicht sein tatsächlicher Inhalt, lediglich lächerlich sollte er nicht sein.
Kreisler_jun.
Inventar
#69 erstellt: 21. Apr 2009, 20:40
Es gibt, besonders aus dem 19. Jhd. massenweise "spirituelle" Texte, die der etablierten Religion sehr fern stehen. z.B. Wagner
Aber auch z.B. ein früher Text von Russell "A free man's worship" (oder so ähnlich, auf dt. heißt es "Was der freie Mensch verehrt"), der sehr viel eher als die alberne Teekannengeschichte die Emphase, die antireligiöse Ansätze haben können deutlich macht.

Es gibt, auch wenn sich das leider noch nicht überall rumgesprochen hat, seit dem frühen Mittelalter oder gar der Spätantike mehr oder weniger "offizielle" Ansätze der Offenbarungsreligionen wie das Verhältnis von naturwissenschaftlichen Erkenntnis und Offenbarung (besonders im Konfliktfall) zu denken ist. (Eine Position ist, daß es wohlverstanden keinen Konflikt geben kann, da die Natur als Schöpfung eben auch eine Art Offenbarung ist. Im Konfliktfall hätte man dann eines von beiden noch nicht recht verstanden.) Und beinahe ebensolange die Leitlinie, daß Naturwissenschaften erstmal so zu betreiben wäre, als ob es Gott nicht gäbe. Gottesbeweise spielen nur vorübergehend eine Rolle und sind fast immer nicht als Beweise im eigentlichen Sinne gedacht, sondern sollten hauptsächlich die "rationale Verträglichkeit" des Gottesglaubens zeigen.

(Der Streit um das Iota ist übrigens keiner über einen Schreibfehler einer Heiligen Schrift, sondern um zugegeben ziemlich abgefahrene Differenzierungen bei den Relationen innerhalb der Dreieinigkeit.)

Und der Urknall ist anscheinend out. Der letzte Schrei ist Prä-Big-bang-Kosmologie (war neulich in der FAZ oder so...)

viele Grüße

JK jr.
op111
Moderator
#70 erstellt: 25. Apr 2009, 13:28

Kreisler_jun. schrieb:
die alberne Teekannengeschichte

zumal inzwischen - seit dem Beginn der Weltraumfahrt - eine Teekanne im Weltall nicht mehr ganz so unwahrscheinlich ist, wie zu Russels Zeiten.
Wer weiß schon, was alles als Weltraummüll verklappt wurde?


[Beitrag von op111 am 25. Apr 2009, 13:28 bearbeitet]
Jean_de_la_Tourette
Ist häufiger hier
#71 erstellt: 30. Apr 2009, 20:27
Ja, ja, der April hat so seine Tücken ...

Für all diejenigen, deren latentes Interesse an Leben und Werk Charles Darwins geweckt werden konnte, sei nachfolgendes Werk empfohlen:



JÜRGEN NEFFE
Darwin. Das Abenteuer des Lebens
Verlag C. Bertelsmann

Der renommierte Wissenschaftsjournalist Jürgen Neffe, Jahrgang 1956, hat bereits eine vielbeachtete Biographie über Leben und Werk Albert Einsteins veröffentlicht.

Viel Spaß bei der Lektüre wünscht
JdlT
Martin2
Inventar
#72 erstellt: 30. Apr 2009, 20:48

Franz-J. schrieb:

Martin2 schrieb:
Ich glaube allerdings nur an die spirituelle Kraft des genuinen Mythos und ich halte die Aufwertung von allem und jedem als Mythos nur für ein billiges Verkaufsmanöver, mit dem man den Eingeborenen Glasperlen andreht, um ihnen weis zu machen, es handele sich um echte.

Qualität und Inhalt eines Mythos' sind m.E. für musikalische Werke oft weitgehend unerheblich.
Ein Beispiel:
Im Zusammenhang mit Mythen fällt oft der Name Richard Wagner.
Ist der Gral ein genuiner Mythos in deinem Sinn, Martin? Ich denke: ja.
Im Lohengrin z.B. bleibt der Mythos "Gral" jedoch pure Staffage. Der Gral ist für die Handlung so belanglos wie der MacGuffin in Alfred Hichcocks Filmen.

MacGuffin ist der von Alfred Hitchcock geprägte Begriff für mehr oder weniger beliebige Objekte oder Personen, die in einem Film meist dazu dienen, die Handlung auszulösen oder voranzutreiben, ohne selbst von besonderem Interesse zu sein...

Im Grunde könnte Lohengrin auch vom Mars oder als Zeitreisender aus der Zukunft kommen, woher auch immer - die Handlung und die menschlichen Konflikte darin verändert das nicht.
Wichtig daran ist Stärke des Mythos - nicht sein tatsächlicher Inhalt, lediglich lächerlich sollte er nicht sein.


Hallo Franz,

das mag ja sein. Der Gral mag im Lohengrin herzlich wenig mit der Handlung zu tun haben. Allerdings spiegelt er in Verbindung mit dem Christentum schon genuine Mythen, bzw. spiegelt das Christentum selbst. Damit erhält das Gralsmotiv eine Wertigkeit, die kaum da wäre, wenn er alberner Weise vom Mars käme oder ein Zeitreisender wäre.

Gruß Martin
Joachim49
Inventar
#73 erstellt: 11. Mai 2009, 21:50
Man könnte meinen, der bekannte Evolutionsbiologe und Religionshasser R. Dawkins (Der göttliche Uhrmacher, The selfish gene, The God-Illusion)hätte diese Beiträge gelesen. Jedenfalls sagte er anlässlich der Verleihung einer Ehrendoktorwürde ungefähr das folgende: "Johann Sebastian Bachs Matthäuspassion sei schon eine tolle Komposition. Aber man solle sich mal vorstellen, Bach hätte ein durch die Evolutionstheorie inspiriertes Werk komponiert.Das Resultat wëre gewiss noch besser gewesen;"
Kaum zu glauben, aber wahr.
Joachim
Martin2
Inventar
#74 erstellt: 12. Mai 2009, 01:57
Hallo Joachim,

nun ja, bei Dawkins wundert mich dies auch nicht wirklich. Ich kenne seinen Gotteswahn zwar nicht, habe aber einiges über ihn gelesen, auch ein Interview mit ihm.

Das Problem mit jemandem wie Dawkins ist: Er vertritt ein allseits bekanntes und sehr beliebtes Weltbild, daß man nun positivistisch, materialistisch oder naturalistisch nennen mag. Philosophisch ist jemand wie Dawkins vollkommen primitiv. Wollte man mit ihm etwa über Wiedergeburt diskutieren, würde er einfach sagen: Der Mensch ist ein biologischer, auf materiellen Grundlagen beruhender Organismus. Dieser zerfällt nach dem Tode. Die Frage nach einer Wiedergeburt oder einer christlichen Auferstehung ist daher sinnlos.

Das Problem ist von daher, daß Dawkins dies alles schon für Philosophie hält. Oder besser gesagt, den Unterschied von Philosophie und Naturwissenschaften versteht er gar nicht. Und natürlich versteht er auch nicht den Unterschied zwischen biblischem Mythos und naturwissenschaftlicher Aussage. Das Problem ist auch, daß er das Christentum angreift, aber auf der Basis einer viel dümmeren Weltanschauung. Nur daß seine eigene Weltanschauung dumm ist, versteht Dawkins auch nicht, weil er gar keinen Maßstab für solche Dinge besitzt. Er ist im übrigen mächtig stolz auf seinen naturwissenschaftlichen Verstand. Mit ihm meint er alles erklären zu können. Das wäre als persönlicher Spleen noch hinnehmbar - das Problem ist einfach, daß das Volldeppentum eines Dawkins mit der Tatsache korreliert, daß Naturwissenschaftler in der heutigen Gesellschaft zu Gurus aufsteigen und naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu geradezu göttlichen Offenbarungen mutieren.

Auch ist nicht eigentlich die Intoleranz seines Atheismus das Problem. Diese antichristliche Schreihälsigkeit gibt es immer. Nur versteht ein Dawkins eigentlich weder Religion noch Weltanschauung. Die grundsätzliche philosophische Offenheit der Religion, die gar nicht erst den Anspruch erhebt, Philosophie ersetzen zu wollen versteht er nicht. Und genauso wenig versteht er, daß sein eigener Standpunkt von absoluter weltanschaulicher Intoleranz ist. Dabei unterstellt er der Religion, Weltanschauung sein zu wollen - was sie nicht ist - und stellt sich selbst auf einen "wissenschaftlichen" Standpunkt - weil er seine eigene Weltanschauung für "wissenschaftlich" hält.

Ich kenne im übrigen auch aus einem anderen Forum solche Diskussionen zur genüge, wo ich schon genug mit solchen Dawkinsanhängern diskutiert habe. Diese Leute sind philosophisch vollkommen intolerant - sie werden etwa einen Heidegger einfach nur für dummes Zeug halten oder auch die Erkenntniskritik von Kant. Alle Begriffe die nicht ihrem primitiven Weltbild entsprechen, Begriffe wie Geist, Seele, Idee, Subjekt, Sein oder Ich - werden von ihnen einfach als "unwissenschaftlich" abgelehnt. Dahinter steht auch ein unerschütterlicher Glaube an Realität. Was ich auch für durchaus verständlich halte, denn das eigene "Realitätsgefühl" in irgend einer Weise erschüttert zu sehen, ist unangenehm. Deshalb lasse ich solche Leute auch in Ruhe.

So muß man also das Weltbild solcher Leute sehen: Ihr Glaube ist die Wissenschaft, dieser wird zur Weltanschauung erhoben, im Grunde genommen aber auch über jede Weltanschauung hinaus, weil sie Weltanschauungen nicht im Sinne miteinander konkurierender philosophischer Systeme sehen. Das Allerheiligste dieser Leute aber ist ihr "Realitätsgefühl" - sie sind keine Realisten in einem philosophischen Sinne, sondern gerade weil ein Realismus philosophisch auch fragwürdig ist, werden diese Leute oft vollkommen ausfallend, wenn man ihrem "Realitätsgefühl" in irgend einer Weise sich nähert.

Dabei ist das Problem einer solchen "Weltanschauung", daß diese Leute mit der Erhebung der Wissenschaft zur Weltanschauung diese auch völlig für sich vereinnahmen. Dies entspricht einer ganz plumpen Logik. Jeder, der für solche Leute nicht wirklich mit heißem Herzen und ganzer Seele an Wissenschaft "glaubt", was allerdings nur sie beurteilen können, ist unwissenschaftlich.

Insofern wundert mich die Sache mit Dawkins und daß Bach viel schönere Werke geschrieben hätte, wenn er die Evolutionstheorie vertont hätte, auch nicht wirklich. Noch schöner wäre es natürlich, wenn man dem Darwin vielleicht noch irgendeinen Tempel bauen könnte.

Nein, diese Leute sind nicht im geringsten ernst zu nehmen. Sie "verherrlichen" die Wissenschaft, um dann mit ihrem primitiven Weltbild als die eigentlichen Vertreter der Wissenschaft da zu stehen. Wissenschaft dann am Ende noch musikalisch zu verherrlichen, wäre nicht nur ein Mißgriff im Sinne eines falschen Themas, es wäre auch eine Geschmacklosigkeit im Sinne einer falschen Überhöhung von Wissenschaft - die auf einen primitiven Wissenschaftsglauben, im Sinne einer fortwährenden Bestätigung des eigenen "Realitätsgefühls" abzielte. Und dieser nackte Positivismus hat eben mit "Kultur" nun wirklich gar nichts zu schaffen.

Gruß Martin
Mellus
Stammgast
#75 erstellt: 12. Mai 2009, 08:38
Dawkins Mem-Theorie (aus The selfish gene), die dann von Susan Blackmore ausgebaut wurde, ist zunächst nicht "positivistisch, materialistisch oder naturalistisch" (man kann sie nicht-reduktiv verstehen). Mithilfe der Meme kann Dawkins sogar Religionen in seiner "Weltanschauung" unterbringen.

Grüße, Mellus
op111
Moderator
#76 erstellt: 12. Mai 2009, 08:43

Joachim49 schrieb:
Man könnte meinen, der bekannte Evolutionsbiologe und Religionshasser R. Dawkins ... hätte diese Beiträge gelesen. Jedenfalls sagte er ... ungefähr das folgende: "... Bach hätte ein durch die Evolutionstheorie inspiriertes Werk komponiert.Das Resultat wëre gewiss noch besser gewesen;"
Kaum zu glauben, aber wahr.


Hallo Joachim,
ich glaube schon, dass Dawkins das auch so meint.
Nur ist diese Spekulation genauso vage wie solche Extrapolationen: "Wenn Schubert länger gelebt hätte er komponiert wie ..., wenn Mozart ..."

Ob Dawkins man nun als Religionshasser sehen kann oder vielleicht doch besser als kritischen Atheisten sei jedem selbst überlassen. Evolutionsbiologen stehen wie so manch andere Wissenschaftler zunächst häufig einer überwältigenden Masse an etablierten an "gläubigen" Gegnern gegenüber. Das mag zu manch einer polemischen verbalen Übersteigerung führen.
Kings.Singer
Inventar
#77 erstellt: 12. Mai 2009, 08:44

Martin2 schrieb:
Das Problem mit jemandem wie Dawkins ist: Er vertritt ein allseits bekanntes und sehr beliebtes Weltbild, daß man nun positivistisch, materialistisch oder naturalistisch nennen mag. Philosophisch ist jemand wie Dawkins vollkommen primitiv.


Beliebt und bekannt mag zwar sein. Aber welcher Religionskritiker unserer Zeit außer Dawkins hat es schon zu etwas gebracht? Religionskritik ist überholt!

Viele Grüße,
Alex.
op111
Moderator
#78 erstellt: 12. Mai 2009, 08:48

Kings.Singer schrieb:
Religionskritik ist überholt!


weil Religion überholt ist!
Kings.Singer
Inventar
#79 erstellt: 12. Mai 2009, 08:57
Warten wir's ab... Zumindest herrscht reges Interesse an der Nahost-Reise des Papstes.

Und so lange die Menschen nach ihrem Tod beerdigt werden möchten, wird sich Religion auch nicht so schnell überholen.

Viele Grüße,
Alex.
op111
Moderator
#80 erstellt: 12. Mai 2009, 09:15

Kings.Singer schrieb:
Warten wir's ab... ;)


Gern!


Kings.Singer schrieb:
Zumindest herrscht reges Interesse an der Nahost-Reise des Papstes.


Und der ist nur eines unter den ungezählten Kirchenoberhäuptern.


[Beitrag von op111 am 12. Mai 2009, 18:16 bearbeitet]
op111
Moderator
#81 erstellt: 12. Mai 2009, 09:36

Martin2 schrieb:
.. So muß man also das Weltbild solcher Leute sehen: Ihr Glaube ist die Wissenschaft, dieser wird zur Weltanschauung erhoben ... Nein, diese Leute sind nicht im geringsten ernst zu nehmen.

Ich kenne lediglich Dawkins' ältere Publikationen, und weiss nicht, wie er zu deiner Aufassung steht.
Jedenfalls erscheinen mir weder "das egoistische Gen" noch "der blinde Uhrmacher" von so schlichter Geisteshaltung geprägt, dass man sie mit einem Satz wegfegen könnte.
Joachim49
Inventar
#82 erstellt: 12. Mai 2009, 12:48
Ich wollte gar keine grossen Diskussionen über aussermusikalische Fragen anregen. Aber es war kurios zu hören, dass sich Dawkins in unsere Diskussion "einmischte", ob die Evolutionstheorie geeeignet sei Kompositionen zu inspirieren.

Gewiss ist es wahr, dass es von seiten der Naturwissenschaften oft eine hartnäckige Ignoranz bezüglich geisteswissenschaftlich orientierter Haltungen gibt. Wie in einigen der jüngeren Beiträge hier zu sehen ist, gibt es aber auch noch immer die geisteswissenschaftlich motivierte Geringschätzung der Wissenschaften. Insoweit ich es einschätzen kann, ist ein solcher Konfrontationskurs wenig sinnvoll.

Und was die Religion betrifft könnte man beinah sagen: Zum Glück sterben die Leute noch .....

Joachim
op111
Moderator
#83 erstellt: 12. Mai 2009, 13:05
Hallo zusammen,

Joachim49 schrieb:
Ich wollte gar keine grossen Diskussionen über aussermusikalische Fragen anregen.
dennoch war es interessant zu lesen, inwieweit Mythen und Mysterien zu Kompositionen Anregungen lieferten.
Gleich für/gegen welche der vielen Religionen man sich entscheidet (wenn überhaupt), die Beschäftigung mit den Mythen lohnt sich m.E. durchaus.


Joachim49 schrieb:
Und was die Religion betrifft könnte man beinah sagen: Zum Glück sterben die Leute noch .....

An Religionen besteht allerdings in absehbarer Zeit kein Mangel. Angesichts dieses Threads habe ich mir mit Verwunderung die nahezu endlose Liste der bekannten Religionen vor Augen geführt - deren z.T. völlig konträre Standpunkte eröffnen ein riesiges Reservoir an musikalisch inspirierenden Mythen.



[Beitrag von op111 am 12. Mai 2009, 18:22 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#84 erstellt: 12. Mai 2009, 18:50

Joachim49 schrieb:


Gewiss ist es wahr, dass es von seiten der Naturwissenschaften oft eine hartnäckige Ignoranz bezüglich geisteswissenschaftlich orientierter Haltungen gibt. Wie in einigen der jüngeren Beiträge hier zu sehen ist, gibt es aber auch noch immer die geisteswissenschaftlich motivierte Geringschätzung der Wissenschaften.


Ich kann dazu sagen, daß ich Wissenschaften in keinster Weise "geringschätze". Den tüchtigen Wissenschaftler werde ich immer zu schätzen wissen. Ich glaube auch nicht, daß etwa Philosophen Naturwissenschaften in irgend einer Weise geringschätzen. Vor allem aber wird sich ein Philosoph nie in Wissenschaften einmischen, während es aber eine Erfahrung von mir ist, daß es eine bestimmte Form wissenschaftlich gebildeter Menschen gibt, die sich ihrerseits in alle Fragen einmischen. Dabei ist es selbstverständlich das Recht, von solchen Leute wie Dawkins, Geisteswissenschaft zu ignorieren. Und natürlich darf er auch seine Meinungen haben.

Ich halte die Geringschätzung von Geisteswissenschaftlern für Naturwissenschaftler für eine reine Legende. Und nicht einmal, daß ein Naturwissenschaftler sich in Fragen einmischt, von denen er nichts versteht, wird ihm ein Geisteswissenschaftler übel nehmen. Nur warum ein Evolutionsbiologe von Fragen der Metaphysik oder Ethik mehr verstehen soll, als ein Bäcker oder ein Finanzbeamter, verstehe ich eben nicht. Wenn man das aber sagt, zeigt man angeblich "Geringschätzung" für Naturwissenschaftler. Nur ist das eben durchaus nicht ein Problem der Philosophen. Schließlich wäre es auch eine Diskriminierung der Bäcker und Finanzbeamten, wenn man ihnen die philosophische Bildung im Gegensatz zu den Evolutionsbiologen abspräche.

Es gibt da ja ohnehin das soziale Phänomen des "Akademikers", der zwar möglicherweise ein vollkommen spezialisiertes Studium abgelegt hat, aber sich dabei durchaus im Sinne eines solchen "geistigen Hochadels" begreift, daß er meint, zu allen Dingen eine Meinung haben zu müssen und daß diese Meinung mehr Gewicht haben soll, als die der Nichtakademiker. Dazu gehören auch Naturwissenschaftler. Der Begriff "Geringschätzung" für Wissenschaftler ist deshalb auch völlig falsch.

Kulturell liegen die Dinge doch völlig anders. Grundsätzlich ist dabei das Faktum, daß auch der ungebildetetste Mensch ein gewisses Vorverständnis von Wissenschaften hat. Er mag dabei wissenschaftlich völlig ungebildet sein, aber was Naturwissenschaften eigentlich sind, das weiß er schon. Dagegen was Philosophie eigentlich ist, davon fehlt in vielen Fällen jedes Vorverständnis. Philosophie ist etwas gesellschaftlich völlig an den Rand gedrängtes - wobei man dazu sagen muß, daß es dann auch noch genug philosophische Schulen gibt, die an ihrer eigenen Selbstabschaffung arbeiten. In diesem Sinne einer faktischen gesellschaftlichen Nichtexistenz der Philosophie, gibt es das Faktum, daß sich Wissenschaftler sozusagen zur "eigentlichen Elite" erklären. Es ist aber auch nur eine Elite "höchster gesellschaftlicher Geltung", denn daß man den Wissenschaftler "gesellschaftlich anerkennt", daß man ihn für "intelligent" hält, dürfte unbestritten sein. Deshalb gibt es keine Geringschätzung von Geisteswissenschaftlern für Naturwissenschaftlern - es gibt nur das Phänomen grenzenloser Überheblichkeit von gewissen Naturwissenschaftlern, die den Ungebildeten immer auf ihrer Seite haben wird, der den Naturwissenschaftler "bewundert" - während er den Geisteswissenschaftler erst gar nicht versteht. Der Geisteswissenschaftler, der Philosoph letzlich auch, ist in diesem Bild der verquaste Schwätzer. Natürlich gibt es im übrigen auch eine große Gruppe von Naturwissenschaftlern, die einfach nur nüchterne Wissenschaftler sind ohne schlaue Bücher schreiben zu wollen wie der Dawkins und die im übrigen auch gebildet sind über ihre Profession hinaus. Daß diese von Philosophen oder Geisteswissenschafltern "geringgeschätzt" werden, glaube ich kaum.

Es ist glaube ich, wie ich auch in einem anderen Thread schrieb, wieder ein Problem von Exklusivität und Elite. Der Wissenschaftler bezieht seinen Stolz aus der Exklusivität eines Wissens, das nur er beherrscht, wobei er dann gelegentlich daraus ein Gefühl von "eigener Wichtigkeit" bezieht, in besonderer Weise berufen zu sein, zu irgendwelchen Dingen Stellung zu nehmen. So gesehen würde ich dann jemanden wie diesen Dawkins zum naturwissenschaftlichen Jetset oder der naturwissenschaftlichen Schickeria zählen. Diese Haltung mag es unter Geisteswissenschaftlern auch geben - aber im Grunde ist die eigentliche Haltung eines Philosophen eben eher elitär als exklusiv, wozu dann auch noch beiträgt, daß ein Philosoph eigentlich nichts so sehr verachtet wie eine "falsche Philosophie" - wobei ihm die Professionalität seines weltanschaulichen Gegners eigentlich herzlich egal ist. Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften sind insofern auch wirklich verschiedene Welten, und ich halte auch nicht so viel davon, diese verbinden zu wollen.

Gruß Martin
Mellus
Stammgast
#85 erstellt: 30. Aug 2009, 18:09
Recht gut in diesen Thread passt der kompositorische Ansatz von Alberto Posadas, der in seinem Streichquartettzyklus Liturgia fractal einen (vorläufigen?) Höhepunkt erreicht hat. Posadas bezieht sich auf selbstähnliche Strukture, Fraktale, um die mikroskopische Ebene musikalischer Parameter mit der makroskopischen Ebene des musikalischen Verlaufs und der zeitlichen Organisation zu verbinden. Den ersten beiden Quartetten, Ondulado tiempo sonoro... und Modulaciones, liegt das Modell der [/i]Brownsche Bewegung als Fraktalmodell zu Grunde. Órbitas folgt der berühmten Mandelbrot-Menge. Die Faktur von Arborescencias ist durch das Lindenmayer-System geregelt. Das fünfte und letzte Quartett enstspringt einer Anwendung eines Blutgefäßsystemsalgorithmus. Die Quartette sind zudem auf unterschiedliche und unterschiedliche enge Weise untereinander komposotorisch oder materiell verknüpft. Das Ergebnis ist, wenn man so will, ein Stück "klingende Natur". Musik wird hier zu einem ästhetischen Fenster in einen Teil der Welt. Ein Brückenschlag zwischen Kunst und wissenschaftlicher Modellbildung der Wirklichkeit wird versucht. In diese Richtung weist auch der Titel, der mit dem Wort "Liturgie" die Fraktalquartette auf in die Tradition der Verehrung der Schöpfung (Gottes) stellt. Seinem Ansatz nach ist Posadas damit -- so weit ich weiß und das nachvollziehen kann -- in der guten Gesellschaft antiker Sphärenharmoniker und den "musikalischen Mathematikern" der Renaissance (auch der in diesem Thread bereits zitierte Anspruch Mahlers "eine Welt zu erschaffen" könnte einem in den Sinn kommen, wenn die Welt die Welt der Blumenkohle, Schneeflocken und dynamischen Systeme ist).

Viele Grüße,
Mellus
Suche:
Gehe zu Seite: |vorherige| Erste Letzte
Das könnte Dich auch interessieren:
2009 - Der Jahresrückblick - Eure Besten -
op111 am 24.12.2009  –  Letzte Antwort am 14.01.2010  –  12 Beiträge
EMI: 2007 verkauft und 2009 schon wieder in der Krise
op111 am 08.06.2007  –  Letzte Antwort am 01.12.2009  –  8 Beiträge
Neue EU-Richtlinie: Urheberrecht rückwirkend verlängert
op111 am 01.04.2011  –  Letzte Antwort am 02.04.2011  –  4 Beiträge
Fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch ins Jahr 2010!
op111 am 24.12.2009  –  Letzte Antwort am 25.12.2009  –  3 Beiträge
Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins Jahr 2014!
op111 am 23.12.2013  –  Letzte Antwort am 09.01.2014  –  12 Beiträge
Weihnachten
walter_f. am 22.12.2004  –  Letzte Antwort am 25.12.2004  –  16 Beiträge
symphonieorchester/filmmusik
kaiwei am 13.08.2004  –  Letzte Antwort am 14.08.2004  –  2 Beiträge
Klassik via Techniradio
wolfi16 am 06.12.2005  –  Letzte Antwort am 17.12.2005  –  5 Beiträge
Die (SA)CDs des Jahres
op111 am 24.12.2012  –  Letzte Antwort am 24.12.2012  –  10 Beiträge
Taking Sides - Der Fall Furtwängler
Klassik_Fan am 22.04.2024  –  Letzte Antwort am 22.04.2024  –  2 Beiträge

Anzeige

Produkte in diesem Thread Widget schließen

Aktuelle Aktion

Partner Widget schließen

  • beyerdynamic Logo
  • DALI Logo
  • SAMSUNG Logo
  • TCL Logo

Forumsstatistik Widget schließen

  • Registrierte Mitglieder925.708 ( Heute: 5 )
  • Neuestes MitgliedSebakom95
  • Gesamtzahl an Themen1.551.038
  • Gesamtzahl an Beiträgen21.536.475

Hersteller in diesem Thread Widget schließen