Wagner: Schlingensiefs Parsifal: Kritik zu Bayreuth?

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Sailking99
Inventar
#1 erstellt: 26. Jul 2004, 12:25
Hi,
gibt es schon eine ernsthafte Kritik zur Schlingensiefs Parcifal in Bayreuth gestern?

Gruß Flo
Hilda
Stammgast
#2 erstellt: 26. Jul 2004, 17:19
Hi,

bisher habe ich noch keine wirklich aussagekräftige Kritik gelesen. Auf www.festspiele.de müsset morgen eigentlich eine vorhanden sein. Die FAZ und die Süddeutsche heben in den online Beiträgen ziemlich wabernd auf die Inszenierung ab, ohne mich zu überzeigen, daß der Schreiber es gesehen hat, oder bei anderen abschrieb...

Ich habe mir einige Ausschnitte im Radio angehört (hatte leider keine Zeit fürs Ganze...) und war von den sängerischen Leistungen ziemlich enttäuscht... Wottrich war IMHO eine Katastrophe, Holl war mir zu unpräzise und de Young zu schrill.

Gruss
Klaus
chipmuc56
Ist häufiger hier
#3 erstellt: 26. Jul 2004, 17:29
Auf die Kritik bin ich auch sehr gespannt. In die Übertragung habe ich erst ein paar mal reingehört (auf Festplatte). Mir schien, als wären die Tempi extrem zügig gewesen. Der Einmarsch der Gralsritter glich wohl eher dem "Walking" als einem feierlichen Schreiten ? Die Stimme der Kundry hat mir gar nicht gefallen. Nur gut, dass der Orchestergraben zugedeckt ist. Mit einem offenen hätte man von ihr wohl nichts mehr gehört, von Intonationsproblemen gar zu schweigen.
Der Applaus nach dem 1. Akt war quasi nicht vorhanden, Buh -Rufe gab es erst am Ende der Aufführung. Demnach wird es wohl nicht so schlimm gewesen sein wie befürchtet.
Die Sängerriege in Bayreuth enttäuscht mich in den letzten Jahren immer mehr. Herrscht ein so großer Nachwuchsmangel? Von der Oper in München aus kann ich diesen eigentlich nicht ganz nachvollziehen.
pha
Stammgast
#4 erstellt: 26. Jul 2004, 20:20

Der Applaus nach dem 1. Akt war quasi nicht vorhanden


was daran liegt, dass in Bayreuth beim Parsifal eigentlich überhaupt erst am Schluss der Oper applaudiert wird.

Mir hats gefallen. Ich habe am Radio den ersten und dritten Aufzug gehört, und war bereits nach den ersten Takten des Vorspiels fasziniert. Auch die Sänger haben mir sehr gut gefallen, allen voran Gurnemanz. Die Nörgelei der BR-Mitarbeiterin nach dem Ende der Oper über Wottrich (komprimiert) und de Young (ohne Höhen, überfordert) schien mir etwas übertrieben.

Für mich war es eine Sternstunde, ohne weiteres der beste Parsifal den ich kenne, etwa on par mit Karajan, aber wesentlich besser als beide Knapperstbusch (´51 und ´62) (ogott, welch Wagnis, solches zu behaupten! )

Natürlich hat mir die Technik einen Sreich gespielt, und aus meiner Aufnahme ist nichts geworden. Seufz!

Grüße,
Peter
peet_g
Stammgast
#5 erstellt: 26. Jul 2004, 21:10
Die Kritik von Brembeck in der Süddeutschen steht schon online und ist gelungen sowei überzeugend. Die von Büning in FAZ ist auch zugänglich und ist weniger klar, bestätigt aber die Meinung vom Brembeck indirekt. Das sind zwei seriösen Publikationen bis dato.

Musikalisch gesehen, - nur das kann ich beurteilen - war es solide und nichts besonderes. Sehr schnell, manchmal an der Grenze zu Hektik. Keine sängerische Hochleistungen, ziemlich traditionell. Wo sind aber die besseren Parsifal-Sänger heute zu holen?..
peet_g
Stammgast
#6 erstellt: 26. Jul 2004, 21:13
Und noch eine Ergänzung zum Thema Applaus, damit es hier nicht falsch archiviert wird:

Nach dem Ersten Akt kam es kurz zu Applaus, nach dem Zweiten - zu längerem Applaus. Nach dem Dritten wurde zuerst gebuht und gepfiffen, dann war nur noch Applaus zu hören.
op111
Moderator
#7 erstellt: 27. Jul 2004, 13:26
Klaus:
bisher habe ich noch keine wirklich aussagekräftige Kritik gelesen.
Ich habe mir einige Ausschnitte im Radio angehört (hatte leider keine Zeit fürs Ganze...) und war von den sängerischen Leistungen ziemlich enttäuscht... Wottrich war IMHO eine Katastrophe, Holl war mir zu unpräzise und de Young zu schrill.


Hallo zusammen,
mit der musikalischen Seite beschäftigt sich etwas mehr:
http://www.netzeitung.de/voiceofgermany/kulturnews/297401.html

FAZ: Vom Gral zum Kral in hundertzwanzig Umdrehungen
Von Eleonore Büning

http://www.faz.net/s...common~Sspezial.html

ich hab auch nur kurz (1.Aufz) reingehört, Wottrich hätte sich vielleicht im Pausen-Interview und auch anderswo mit seinen z.T. kritischen Anmerkungen zur Krise des RW-Gesangs besser zurückgehalten. Das war der Tiefstpunkt dessen, was ich in der Rolle gehört habe, sogar Domingo eingeschlossen.
M. de Young fand ich da nicht so übel, den Sänger des Titurel auch nicht.
Das Orchester war 1970 anscheinend besser, aber hier neben den Chören dank Boulez der eigentliche Star.
Endlich mal wieder seit H. Stein ein von Pathos und Sentimentalität entrümpelter Parsifal in Bayreuth.

Gruß, Franz


[Beitrag von op111 am 27. Jul 2004, 14:04 bearbeitet]
Cliowa
Ist häufiger hier
#8 erstellt: 27. Jul 2004, 18:16
Soeben gefunden: Eine Kritik der Neuen Zürcher Zeitung:

Bayreuther Festspiele
Des Hasen Ende und die Wiedergeburt
Richard Wagners «Parsifal» mit Boulez und Schlingensief



Sehr gewöhnungsbedürftig, in der Tat. Die grosse Mehrheit des Publikums im Bayreuther Festspielhaus wollte sich freilich an gar nichts gewöhnen; es hat den Regisseur Christoph Schlingensief mit einem wütenden Buhkonzert in den Orkus geschickt. So hat denn der mediale Wellenschlag, der die Neuinszenierung von Richard Wagners «Parsifal» bei den Bayreuther Festspielen 2004 im Vorfeld und in den für Schlingensief üblichen Formen begleitet hatte, seine Antwort gefunden - wenn auch vielleicht nicht die einzig mögliche. Denn je mehr der Abend voranschritt - und er schreitet ja lange voran -, desto mehr konnte auch die Einsicht wachsen, dass hinter dem unglaublichen Wust an Bildern, mit denen der Operndebütant Schlingensief seine Zuschauer überfällt, vielleicht doch einige bedenkenswerte Mitteilungen stecken. Die Produktion wird jetzt noch fünfmal gegeben und während der kommenden Jahre kontinuierlich weitergepflegt; mag sein, dass sie, wenn etwas Gras über die Aufregung gewachsen ist, nach und nach entdeckt wird und vielleicht sogar einen Platz in der Wirkungsgeschichte des «Parsifal» erhält.
Bilderflut im Halbdunkel

Denn es gibt einen, der an Schlingensiefs Arbeit glaubt und das auch öffentlich macht. Es ist Pierre Boulez, der nun, fast 80-jährig, in den verdeckten Bayreuther Orchestergraben zurückgekehrt ist. 1966 - er war damals 41, als Dirigent noch wenig erfahren und als Wagner-Interpret ein Neuling - war er zum ersten Mal in Bayreuth aufgetreten: in der legendären, aus dem Jahre 1951 stammenden «Parsifal»-Inszenierung von Wieland Wagner, die musikalisch lange Zeit von Hans Knappertsbusch betreut worden war; 1970 entstand der bei der Deutschen Grammophon verlegte Mitschnitt, der bis heute gültig geblieben ist. 1976 kam es dann zu dem sogenannten Jahrhundert-«Ring» mit dem Regisseur Patrice Chéreau, der anfangs vollkommen abgelehnt wurde und am letzten Abend, fünf Jahre später, zu einer Ovation von anderthalb Stunden Dauer geführt haben soll. Jetzt also noch einmal «Parsifal»: ein Wunder an Kontinuität und Reifung zugleich. Mit den frischen Tempi, dem leichten Klang und der klaren Linearität sind die Grundzüge dieselben und problemlos zu erkennen. Aber in welch staunenswertem Mass hat Boulez an handwerklichem Können und gestalterischem Mut gewonnen. Zu hören ist es vorab im zweiten Aufzug, der unglaublich nuanciert und bewegt gerät, aber auch im dritten, wo sich fern jeder Emphase eine klangliche Schönheit sondergleichen verbreitet.

Zuvor gilt es jedoch den ersten Aufzug zu bewältigen, das heisst: die ausführlichen Darlegungen des Gurnemanz, die Robert Holl mit klangvollem Bass, ohne Drücken und nur selten näselnd bewältigt. Mit dem zottigen Fell, in das ihn die Kostümbildnerin Tabea Braun gekleidet hat, und seiner wallenden Haarpracht könnte dieser Gurnemanz einem Bildband über die ganz frühen «Parsifal»-Aufführungen entstiegen sein. Auch das von Daniel Angermayr und Thomas Goerge geschaffene Bühnenbild weist in diese Richtung. Auf der Drehbühne angelegt und in ständiger Bewegung begriffen, ist es regelrecht voll gestopft mit Bauten und Requisiten. Kaum findet man sich zurecht in dieser Rumpelkammer. Nicht nur herrscht eine muffige Atmosphäre, die dem schlackenlosen Musizieren des (auf höchstem Niveau agierenden) Festspielorchesters krass widerspricht; die Dispositionen und ihre Veränderungen sind auch schwer zu erkennen, denn beleuchtet wird die Bühne durch wackelnde, unscharfe Filmausschnitte, die Christoph Schlingensief seiner Kiste mit Reiseerinnerungen entnommen hat - das ist in einer eigenen Weise strapaziös und stört die synästhetische Balance der Gattung doch erheblich. Entschädigung bieten immerhin die würdige Sonorität von Alexander Marco-Buhrmeister als Amfortas und die Klangpracht des von Eberhard Friedrich vorbereiteten Chors. Befremdlich nur, dass die Glocken, die seinen Auftritt begleiten, auch diesmal voll synthetisch klingen.

Zu einer gewissen Beruhigung kommt es im zweiten Aufzug - so als ob Schlingensief durch seine Regieassistentin Katharina Wagner, die Tochter des noch immer amtierenden Festspielleiters, zu Mässigung angehalten worden wäre. Gewiss herrscht im Reiche Klingsors die nämliche Betriebsamkeit wie zuvor auf der Gralsburg, und John Wegner, der einen etwas einfarbigen Klingsor gibt, turnt nach Massen zwischen den aufgetürmten Steh- und Sitzgelegenheiten umher. Auch bleibt die Beleuchtung spärlich. Wie es dann aber zu der Begegnung zwischen Parsifal und Kundry kommt, bricht mit Stehen, Schreiten und Händeringen, mit weisser Unschuld und verführerischem Rot die Opernkonvention durch - mag sein, dass das wie das Kostüm des Gurnemanz als Zitat gemeint ist. Jedenfalls herrscht die Musik und damit vorab die Kunst des Tenors von Endrik Wottrich (Parsifal), der vom Timbre her unauffällig wirkt, seine Partie aber sorgsam im Griff hat. Weniger überzeugend Michelle de Young als Kundry; die amerikanische Sopranistin gestaltet die geradezu expressionistischen Sprünge ihrer Partie so beiläufig, als verstünden sie sich von selbst, und gegen das Ende hin gerät sie arg ins Schreien, wo Boulez und das Orchester doch gerade hier ein so phänomenales Spektrum an leisen Klängen ausbreiten.
Weltkunstreligion

Der dritte Aufzug, und vor allem das ebenso schockierende wie schlüssige Ende, löst manches Rätsel - aber vielleicht hat man sich auch ganz einfach daran gewöhnt. Woran? Zur Hauptsache an die Fülle der Zeichen und Bilder, der Andeutungen und der Anspielungen, nicht zuletzt daran, dass vieles, was sich szenisch ereignet, nur kurz und unscharf aufscheint und darum wohl auch nicht bis ins Letzte wahrgenommen zu werden braucht. In ihrer Mehrgliedrigkeit und ihrer Kleinteiligkeit erinnert die Bühne, so sehr sie Bayreuther «Parsifal»-Ausstattungen aus der Zeit vor Wieland Wagner spiegelt, an einen Computerbildschirm, auf dem sich viele verschiedene Fenster in unterschiedlicher Grösse zu immer neuen Konstellationen fügen. Und das Tempo der Bilderfolge schliesst ganz klar an die Informationsdichte der neuen Medien an - wobei die jungen Menschen, die am Bildschirm mit rasender Geschwindigkeit vom einen zum anderen wechseln, in den heiligen Hallen Bayreuths natürlich nicht eben gut repräsentiert sind. Schlingensief ist auch schon über 40 und damit keiner dieser jungen Menschen, er steht aber in anderer Hinsicht sehr direkt für unsere Zeit. Vieles an seiner «Parsifal»-Inszenierung, gerade etwa die Filmaufnahmen, die in Afrika entstanden sein sollen, wirkt ausgesprochen auf das Ich des Regisseurs bezogen, subjektivistisch; Privates ist hier an die Öffentlichkeit gezogen, wie es Abend für Abend am Fernsehen geschieht. Doch bleibt es nicht dabei. Von Stacheldraht umzingelt, stehen Hütten auf der Bühne, in raffinierter Lasertechnik werden Steinkritzeleien auf transparente Vorhänge projiziert, die Ritter, die Blumenmädchen, vollends Klingsor, sie sind Schwarze, selbst Kundry bekommt im dritten Aufzug einen Wuschelkopf, dunkle Haut und ein gewaltig hinausragendes Hinterteil: «Parsifal» in Afrika. Das wäre eine Provokation, die da und dort ein Räuspern erzeugen könnte.

Schlingensief meint es freilich ernst, und die Kostümierung der Ritterschaft, in der sich Vertreter der verschiedensten Religionen der Welt in ihren Ornaten finden, unterstreicht es: «Parsifal» nicht wie so oft und gerade in Bayreuth als eine in die Welt der Bühnenkunst gezogene Versinnbildlichung christlicher Religiosität, sondern als ein Stoff von weltumspannender Gültigkeit. Insofern es hier nämlich weniger um die sexuelle Entsagung geht als um den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, in dem die Sexualität ihre zentrale Position behauptet. Schon früh am Abend werden auf einer der Leinwände im Hintergrund tote (Oster-)Hasen sichtbar, deren Felle vom Wind bewegt und deren Augen von Fliegen besetzt sind; man bezieht das natürlich auf die gebrochene Gesellschaft in der Gralsburg. Am Ende freilich, wenn Parsifal an der Stelle von Amfortas den Gral enthüllt, haben sich die Maden in den toten Körpern eingenistet und bringen sie zu quasi lebendigem Pochen - grausig ist das anzusehen. Aber doch als Zeichen des Lebens zu verstehen, wie der (Bayreuther) Lichttunnel anzeigt, in dem der leise As-Dur-Akkord des letzten Taktes verklingt. Das muss einmal einer nachmachen.

Peter Hagmann

Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG



Grüsse...Cliowa
peet_g
Stammgast
#9 erstellt: 27. Jul 2004, 20:46
Ist es hier der Usus, Texte komplett zu kopieren statt zu verlinken?

Ich würde es gerne wissen. In jedem Forum wird es halt anders behandelt.
Susanna
Hat sich gelöscht
#10 erstellt: 28. Jul 2004, 00:14

Ist es hier der Usus, Texte komplett zu kopieren statt zu verlinken?


Ist aber wenigstens nicht in einer Fremdsprache kopiert! Wurde zwar schon früher mal von jemand moniert, sollte aber vielleicht wieder in Erinnerung gerufen werden.

Susanna


[Beitrag von Susanna am 28. Jul 2004, 00:17 bearbeitet]
Hilda
Stammgast
#11 erstellt: 28. Jul 2004, 10:24
Ich werde NIE MEHR IM LEBEN, JEMALS ÜBERHAUPT etwas in englisch hier reinkopieren....



Klaus *fühlte sich gerade angesprochen...*

@Susanna

Hast Du jetzt Deinen Beethoven gekauft/gehört?????
Cliowa
Ist häufiger hier
#12 erstellt: 28. Jul 2004, 10:29
Entschuldigung, dass ich den Text ganz hier reinkopiert habe. Auch ich schreibe eigentlich lieber Links. Dass ich hier dennoch den ganzen Text gepostet habe hat einen einfachen Grund: NZZ Online bringt diese Kultur-Artikel nur an dem Tag, an dem sie auch in der Zeitung sind, online. Heute findet man den Artikel nicht mehr (man muss glaube ich bezahlen, d.h. ein Online-Abo lösen).
Ich werde in Zukunft weiterhin links posten, wo immer es geht.
Grüsse...Cliowa
Susanna
Hat sich gelöscht
#13 erstellt: 28. Jul 2004, 11:39

Ich werde NIE MEHR IM LEBEN, JEMALS ÜBERHAUPT etwas in englisch hier reinkopieren....




Klaus *fühlte sich gerade angesprochen...*


Hallo Klaus,

löblicher Vorsatz!
ach ja, das warst ja Du damals! Ich find's tatsächlich auch besser, keine englischen Sachen in deutschsprachigen Foren zu bringen.


@Susanna

Hast Du jetzt Deinen Beethoven gekauft/gehört?????

Gekauft und erhalten schon lange, danke der Nachfrage. Aber - Schande über mein Haupt - noch überhaupt nicht reingehört! Es kamen so einige andere interessante CDs dazwischen, "Entartete Musik", Mahler (den ich so gut wie noch nicht kannte) und dann Sommer (auch wenn's kein eigentlicher ist)/Garten, sagt wohl alles.

Viele Grüße,
Susanna
op111
Moderator
#14 erstellt: 29. Jul 2004, 09:21
Mehr aus Bayreuth

http://www.waz.de/wa...&dbosserver=1&other=


Nach dem Schock nun allzu Schlichtes
von Michael Stenger
WAZ Bayreuth. Das Bayreuther Premierenpublikum liebt offenbar die einfachen Lösungen: Man feierte den Furcht erregend schlichten "Tannhäuser" des Unregisseurs Philippe Arlaud nach dem Schlingensief-Schock demonstrativ.

... Irgendwie hing über dieser Premiere etwa Lähmendes. Selbst Christian Thielemann, der gewichtig Wagner zelebriert und nach dem Boulez-Wunder dann doch abfällt, konnte seine eigenen Längen nicht mehr atmend ausfüllen...


Immerhin gab's laut Stenger 3 gute Gesangsleistungen:
Kwangchul Youn,
Ricarda Merbeth und
Stephen Gould. "Er hat imposantes Material, übersteht die "Erbarmen"-Rufe..."

Gruß, Franz
peet_g
Stammgast
#15 erstellt: 29. Jul 2004, 10:02
Um das Thema des Threads abzurunden. Nach der informativen und überzeugend kritischen Rezension Brembecks ("Süddeutsche") nun noch eine professionelle Arbeit von Spahn in der "Zeit" von heute. Die zwei Artikel wären aus meiner Sicht die besten Informationsquellen zum eigentlichen Inhalt der "Parsifal"-Inszenierung. Neben der gelungenen Beschreibung bringen die beiden Autoren einen weiten Blick auf die Einordnung der Inszenierung in die Kulturgeschichte. Die übrigen Kritiken sind m.E. nicht so rund.

Nebenbei gemerkt, auch die Kolportage um die Hintergründe ist wirklich nicht schlecht gelungen. Merkwürdig, daß auch hier die "Süddeutsche" (Schreiber) es weitsichtiger als FAZ (Büning) gepackt hat, insbesonders wenn man die Originalinformation ( aus dem "nordbayerischer-kurier")damit vergleicht... Beim Bedarf kann ich Texte einbringen, sie haben etwas in sich :-)
op111
Moderator
#16 erstellt: 29. Jul 2004, 10:24
Für alle: Da ist der von peet_g erwähnte Text aus der Zeit

Das Bayreuther Hühnermassaker
Christoph Schlingensief inszeniert Richard Wagners »Parsifal« als dunkles Ritual im Großstadtmüll. Nun ist die Moderne endlich auch auf dem Grünen Hügel angebrochen
Von Claus Spahn
http://www.zeit.de/2004/32/Parsifal

(mal ein kenntnisreicher artikel in der zeit?
sollte es doch für die zeit nicht zu spät sein?)

und:

Erlösung suchen wir doch alle

Christoph Schlingensief überfordert Wagners Parsifal mit einem Bilder-Overkill im Hier und Jetzt.
Pierre Boulez dirigiert die Partitur derweil in die Zukunft der Musik.
REINHARD J.BREMBECK

http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/17/35981/
op111
Moderator
#17 erstellt: 29. Jul 2004, 10:51

Nebenbei gemerkt, auch die Kolportage um die Hintergründe ist wirklich nicht schlecht gelungen. Merkwürdig, daß auch hier die "Süddeutsche" (Schreiber) ...
Beim Bedarf kann ich Texte einbringen, sie haben etwas in sich :-)

Hallo peet_g,
welchen Text meinst du hier? Etwa den:
Schlingensief-Tenor-Streit

Der „Höhepunkt des deutschen Schwachsinns.“

Auf dem giftgrünen Hügel von Bayreuth: Die Neu-Inszenierung des "Parsifal" war, nun ja, mau. Der erwartet-erhoffte künstlerische Skandal blieb aus. Dafür streiten sich nun Regisseur Schlingensief und sein angesäuerter Tenor wie die Kesselflicker. Das klingt dann gar nicht gut und es fliegen äußerst unästhetische Fetzen. ...

http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/54/36018/
peet_g
Stammgast
#18 erstellt: 29. Jul 2004, 13:15
Danke für die Nachfrage (und für Linksvervollständigung!).

Der Artikel von Wolfgang Schreiber ist noch in E-Paper kostenlos zu lesen, vom 28.7, S.13. Wenn es zu spät ist, kann ich hier reinkopieren, nur Bescheid sagen :-)
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#19 erstellt: 12. Nov 2004, 16:46
Parsifal - Bayreuth 2004
Ich meine, Franz J. macht es sich doch etwas zu einfach mit seinen Äußerungen zu Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung und zu Bayreuth überhaupt - "mau geraten", Abqualifi-zierung der Sänger allein anhand der Rundfunkübertragung und "giftgrüner Hügel" als wohl geistreiches Bonmont gedacht, wobei ihm offensichtlich die Brillanz des Ausdrucks wichtiger ist als die Sache selbst. Denn die lächerlichen und geistlosen Ergüsse eines Sängers, dessen Name ich nicht einmal nennen möchte, da er mir - auch in seinem Beruf - als absolut unbedeutend erscheint, sollte man nicht mit dem "Grünen Hügel gleichsetzten!
Aber nun zur Inszenierung, die ich selbst im August 2004 im Festspielhaus live erleben durfte:
Da ich mich nicht unbedingt als Freund des modernen Regie-theates bezeichnen möchte, bin ich mit sehr gemischten Gefühlen nach Bayreuth gefahren und wurde in einer Weise überrascht, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
Ich habe Parsifal vollkommen neu erfahren!
Sicher, die Inszenierung hat Schwächen. Ist von Ästhetischen her nicht gerade als "schön" zu bezeichnen. Als Anfänger hat Schlingensief wohl Angst vor einer leeren Bühne. Ja manches ist dilettantisch geraten - kein Wunder bei einem Regiseur, der das erste Mal Opernregie führt.
Doch eines kann man Schlingensief nicht absprechen! Er hat sich mit dem zentralen Thema des Parsifal, dem Sterben, dem Tod und der Erlösung intensiv beschäftigt und gründlich auf diese Arbeit vorbereitet. Alles, was er auf die Bühne bringt, ist aus dem Text begründbar. Dass er den Text aus seinen Erfahrungen heraus interpretiert, ist für mich kein Manko, wir haben halt nur dieses Leben und können nur aus den Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben, schöpfen und gestalten. Auch Parsifal kann erst Mitleid empfinden, nachdem er die Leiden der Welt kennen gelernt hat.
Ich denke, ein Grund warum man Schlingensief aus einer bestimmten Ecke heraus so anfeindet, liegt darin begründet, dass er die Botschaft des Parsifal ernst nimmt und dominant vor die Musik stellt.
Sicherlich: Man kann von zwei Seiten an den Parsifal herangehen. Einmal von der Musik, zum anderen von der Botschaft.
So wie "Kna" oder auch Levine die Parsifal-Musik interpre-tieren, in ihr schwelgen, sie zerdehnen, laden sie geradezu dazu ein, sich in die Musik "hineinfallen zu lassen".
Die Bühne hat nur die Aufgabe, das Hörerlebnis durch ästhetische Bilder zu vertiefen. Nur nicht denken - NUR SCHWELGEN! Gut! Wer das mag.
Aber ist das alles? Und vor allem: Ist es das, was Wagner mit Parsifal wollte?
Wagner war - als er den Parsifal schrieb - für die damalige Zeit ein alter kranker Mann, ging auf die 70 zu, stand kurz vor dem Tod und da beschäftigt man sich - natürlich - mit dem Sterben, mit dem Tod und mit dem, was danach kommt.
Die Frage Erlösung - Erlöser wird nun zur zentralen Frage.
Und dieses Thema gehen uns ja wohl irgendwann einmal alle an.
Dass Wager Sterben, Tod und Erlösung in den Rahmen falsch verstandener christlicher Mystik stellt, ist mir schon immer äußerst unangenehm aufgestoßen und wohl auch anderen und so hat man sich halt weitgehend an die Musik gehalten. Schlingensief hat nun neue Perspektiven eröffnet. Er ersetzt die durch die Verwundung des Amfortas aus dem Gleichgewicht gekommene Rittergesellschaft durch eine ebenso chaotische multi-kulturelle Gesellschaft mit ihren Lebensängsten (die Hungernden der dritten Welt) und ihrer wohl vergeblichen Hoffnung auf Erlösung. Er holt den Parsifal in unsere heutige Zeit und es gelingen ihm - insbesondere Tempelszene und Erlösung (Finale III. Akt) möchte ich hier nennen - Szenen von einer Wucht und einer Dichte, wie ich sie auf der Opernbühne ganz, ganz selten erlebt habe. Und auch der im Zeitraffertempo verwesende Hase hat eine wichtige Funktion in dieser Inszenierung: Der Körper zerfällt zu Staub und für den Geist öffnet sich an Ende des Lebens ein Tor, aus dem blendendes, fast unerträg-lich gleißendes weißes Licht erstrahlt.
Alleine für diese Szenen verzeihe ich dem Regiseur so manche Unzulänglichkeiten und unausgegorene Gedanken-stränge.
Schlingensief eröffnet eine völlig neue Sichtweise auf dieses Stück - und zwar für mich die einzig richtige! -und ich kann mir nicht vorstellen, dass künftige Regiseure, die sich an den Parsifal heranwagen, um eine Auseinandersetzung mit dieser Inszenierung herumkommen.
Leider kommt in diesem Fall wegen der Dominanz der Bühne die musikalische Beurteilung zu kurz. Dabei breitet Boulez einen überirdisch schönen Klangteppich aus - schlank, unsentimental und - dank der großartigen Akustik im Festspielhaus - bis in die kleinsten Verästelungen hinein durchhörbar. Das Sängerensemble gut bis sehr gut bis auf den Herrn, dessen Namen ich nicht nennen will. Auch die Kundry hat mir - anders als Franz J. - gut gefallen.

Vielleicht am Ende noch ein ganz persönliches Wort:
Ich habe ein Opernhaus nach einer Aufführung noch nie
emotional so aufgewühlt verlassen, wie an diesem 15. August 2004

Alachandru
op111
Moderator
#20 erstellt: 12. Nov 2004, 18:19

Alachandru schrieb:

Ich meine, Franz J. macht es sich doch etwas zu einfach mit seinen Äußerungen zu Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung und zu Bayreuth überhaupt

Hallo Alachandru,
bin ich da überhaupt gemeint?
Wohl kaum.

Wenn ich so meine Beiträge nachlese glaube ich, da liegt eine Verwechslung vor und
du bist leider teilweise Opfer einer intermittierenden Fehlfunktion der Forensoftware geworden.
Die Tags für img quote etc. werden manchmal nicht korrekt umgewandelt.
So auch hier mit der Folge, daß Zitate aus Kritiken in nicht nur meinen Beiträgen unkenntlich geworden sind.

Ich habe meine Aufnahme mehrmals im Vergleich (Boulez, Solti, Levine, Knappertsbusch) gehört und fand sie bis auf manche Gesangsleistungen (z.B. Wottrich) gar nicht schlecht, was das Orchester und Boulez anbetrifft sogar hervorragend.

Gruß
Franz

PS: Ich finde anhand einer (dem BR recht gut gelungenen) Rundfunkübertragung kann man schon einen Eindruck der musikalischen Qualitäten einer Liveaufführung gewinnen. Natürlich bleiben da Patzer stehen, die in zusammengeschnittenen (pseudo-)Liveaufnahmen kaschiert werden, aber das weiß man ja.


[Beitrag von op111 am 13. Nov 2004, 04:18 bearbeitet]
peet_g
Stammgast
#21 erstellt: 13. Nov 2004, 21:37
@ Alachandru

Eine interessante Darstellung, die mich zu einigen Fragen anregt.

In deiner Beschreibung gehst du sehr ausführlich auf die Regie ein und willst gar den Namen des Sängers nicht nennen, der die Hauptrolle hat. Daraus kann ich schliessen, daß seine Arbeit dich zumindest gestört hat. Hat die Bildersprache, die du beschrieben hast, dir die fehlende Präsenz der Hauptfigur ersetzt? So viel, daß du mit der Dominanz der Bühne einverstanden bist? Wie weit ist es für dich von dem Resultat bis zum Eventshow? Die Bilder sprechen immer deutlicher und erreichen uns schneller als die Musik. War die Musik in diesem Gesamtkunstwerk eine teppichartige Illustration, eine tolerable Störung?

Ich übertreibe möglicherweise - um dich zu deinen weiteren Ausführungen zu animieren...

Gruß
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#22 erstellt: 22. Nov 2004, 16:14
Lieber peet_g,

Herzlichen Dank für deine Reaktion zu meine Anmerkungen zu Parsifal 2004 in Bayreuth.
Ich darf dir wie folgt antworten:
Zuerst zu dem Sänger: Als Figur und damit als Hauptperson steht Parsifal ja fast durchgehend auf der Bühne und da war die Figur - vom Regiseur geformt - sehr präsent. Zu singen hat Parsifal während der gut vier Stunden gerade `mal 19 Minuten. Meine Kritik bezog sich auf die musikalische Darstellung des Sängers. Und da war halt eine ehemals lyrische, nun auf Heldentenor getrimmte Stimme zu hören, die diesen Wechsel nicht ohne Schaden überstanden hat. Im übrigen muss ich wohl auch zugestehen, dass ich durch sein Verhalten außerhalb der Bühne gegen ihn voreingenommen bin (um´s `mal vorsichtig auszudrücken). Wenn ich in einem Team arbeite, muss ich mich solidarisch verhalten oder das Team verlassen! Was dieser Herr gemacht hat, massiv querschießen, aber dabei bleiben, halte ich für ein unmögliches Verhalten und - vom künstlerischen her hat sich für mich gezeigt, dass er als Sänger in Bayreuth absolut entbehrlich ist. Da gibt es andere, die das besser machen. Ob er mich "gestört" hat? - Wo gibt es schon eine perfekte Aufführung!
Es gäbe da noch vieles zu sagen, aber ich will mich nicht ausschließlich an diesem Herrn festbeißen.

Regie - Bildsprache - Dominanz der Bühne!
Im Musikdrama sollen - so Wagner selbst - Bühne, Aussage (also Text/Idee) und Musik eine Einheit bilden. Doch wenn ich Wagner richtig interpretiere, so stellt er die Aussage, die Idee an die erste Stelle. Bühne und Musik haben die für ihn äußerst wichtige Aufgabe, die Aussage des Werkes zu verstärken und zu interpretieren (Beispiel: Wenn Isolde von ihrem Hass auf Tristan singt, erzählt uns das Orchester etwas ganz anderes, nämlich dass sie ihn immer noch liebt.
Es lässt uns hören: Isolde lügt! Shakespeare braucht den Monolog, um uns die wahren Gedanken seiner Personen mitzuteilen. Er unterbricht die Handlung,lässt den Akteur aus der Handlung heraustreten. Wagners Dramen laufen doppelbödig. Er braucht keine Unterbrechung. Parallel zu Handlung berichtet uns die Musik die "Wahrheit". Das ist wunderbar und einzigartig. Ich hoffe, du verstehst, was ich meine.
Und damit - denke ich - wird auch klar, dass die Musik im Parsifal für mich niemals Illustration - schon gar nicht "tolerable Störung" sein kann.
Die musikalische Interpretation von Boulez in ihrer analytischen Klarheit und Durchsichtigkeit hat mich schon immer begeistert. Diese schlanke und nicht schleppende Interpretation passt genau zu Schlingensiefs Inszenierung
und es ist jammerschade, dass Boulez die musikalische Leitung 2006 abgeben will.
Ich habe die Parsifal-Musik noch nie so großartig empfunden, wie in diesem Sommer in Bayreuth.
Daran, dass mich diese Aufführung so außerordentlich beeindruckt hat, hat auch Boulez einen sehr sehr großen Anteil.
Durch die Angriffe auf Schlingensief habe ich in meinen Anmerkungen die Bühne vielleicht zu sehr betont.
Eine "Eventshow" war diese Aufführung für mich unter keinen Umständen.
Im Gegenteil: Ich halte sie für einen Weg, gerade den Parsifal in unsere Zeit herüberzuholen.
Denn was macht ein Kunstwerk aus? Dass es zeitlos ist und den Menschen - auch in späteren Zeiten - etwas zu sagen und zu geben hat.
Soviel für heute, vielleicht können wir diese Diskussion noch weiter vertiefen? Ich bin gerne dazu bereit.

Herzliche Grüße
peet_g
Stammgast
#23 erstellt: 22. Nov 2004, 18:34
Danke. Ich habe dich verstanden und bin mit dem Meisten sehr wohl einverstanden. Du beschreibst Verhältnisse bei Wagner absolut richtig.

In diesem Fall kann ich nur von der Radio-Übertragung reden. Mir persönlich gefällt allein und ausschliesslich die langsame Version, die ich nur bei J.Levine kenne. Die von Knappertsbusch passt mir auch nicht. Die Variante von Boulez spricht mich nicht an, das soll dich im Moment aber nicht interessieren. :-)

Zum Verhältnis zwischen der Bühne und der Musik in der Inszenierung von Schlingensief hast du einen für mich neuen Aspekt eingebracht, diesen Aspekt habe ich aus Kritiken so nicht empfunden, bis auf die Lichtidee am Schluss - die ist von vielen höchst positiv eingeschätzt worden.

Ich kann mir das so zusammenbasteln, daß Tempi und Strukturdenken Boulez' zu den Visionsbildern und Filmeinlagen Schlingensiefs passen. Möglich. Die Mission dieses Werkes hast du auf diesem Wege wahrgenommen, somit ist es dem Geist des Originals getreu. Mich würden sowohl Bilder in ihrer aufdringlichen Menge sowie die unbetonte Musikinterpretation stören, die Vision würde für mich nicht entstehen. Das behaupte ich, ohne die Inszenierung gesehen zu haben. Ich glaube, das darf man heutzutage sagen, wo es um Meinungen geht, nicht um eine Kritik aus erster Hand.

Für mich bleibt Wagners Gesamtkunstwerk eine geniale Idee, die dazu verdammt ist, eine Utopie zu sein. Die Bühne und die Musik sind nie im Gleichgewicht, da das Auge und das Ohr nicht gleich in ihrer Gewichtung sind. Wenn die Bühne genauso stark vertreten ist wie die Musik, dann hat die Musik schon die illustrative Rolle, dann hat sie schon verloren. Das ist meine Erfahrung.

Über den Tenor müssen wir nicht diskutieren, ich bin da mit dir auch einverstanden - hauptsächlich von der künstlerischen Bewertung aus gesehen, war es keine glänzende Leistung.

Freundliche Grüße
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#24 erstellt: 23. Nov 2004, 16:00
Halo peet-g,

Ich glaube, so weit sind wir gar nicht auseinander. Dass Dir die Interpretation von Boulez nicht so zusagt, ist vollkommen in Ordnung. Es wäre ja schlimm, wenn jeder die gleiche Auffassung von musikalischer Interpretation hätte. Ich kann durchaus verstehen, dass man Levine-Fan ist und ich habe ja auch in meiner ersten Anmerkung zu Parsifal betont, dass es durchaus mehrere Wege zu diesem Werk gibt.
Jeder muss da den seinen finden. Ich wollte nie und will auch jetzt nicht "missionarisch" wirken, sondern nur meine subjektive Meinung darlegen und auch argumentativ verteidigen.
Du hast, wie Du schreibst, den Parsifal nur gehört und damit nur einen (zwar sehr wichtigen) Teil des Gesamtkunstwerkes erlebt.
Ich höre natürlich auch oft die "reine Musik", hole mir dazu zum Vergleich die verschiedensten Interpretationen her und versuche mich, in der Kunst des von Wager als absolute Vollendung gepriesenen "theatre imaginaire" zu "vervollkommnen" (großes Wort!), aber letztlich genügt mir das nicht. Ich brauche die Auseinandersetzung mit der Szene im Theater.
Vielleicht betone ich die intellektuelle Seite mehr als die musikalische - vielleicht?

Zwei Beispiele:
Wenn (immer Bayreuth 2004) der Vorhang aufgeht, ist da keine Waldlichtung zu sehen, sondern aus dem Halbdunkel schält sich eine Slum-Gegend in irgend einer Stadt der dritten Welt heraus, in der Gurnemanz haust.
Mich hat das am Anfang ungeheuer irritiert und vom Ästhetischen her gesehen ist das alles andere als schön.
Doch im Laufe der Inszenierung wird klar, was Schlinge meint.
PARSIFAL 1882: Wagner zeigt eine Rittergesellschaft, die durch die Schuld des Amfortas aus den Fugen geraten ist. Führung findet nicht mehr statt, jeder muss für sich sorgen, es herrscht Chaos im Gralsstaat. Doch was geht dieser Gralsstaat uns heute noch an? Der Rahmen ist veraltet, die Probleme Leben - Lebensangst - Tod - Erlösung sind zeitlos.
Schlingensief ersetzt nun diese antiquierten Gesellschaftsstrukturen (Abgehen von der christlichen oder besser pseudo-christlichen Gralsgesellschaft) durch die gesellschaftlichen Strukturen (Multikultur) heute und holt den Rahmen in unsere Zeit, aber nur den Rahmen!
Und wenn wir über Europa hinausschauen und die gesamte Welt in unsere Betrachtung mit einbeziehen, so haben wir eben Chaos und grenzenlose Armut - auch wenn wir es nicht sehen wollen. Und die Fragen, die Wagner stellt, werden heute wohl mehr denn je gestellt.
Somit zeigt diese erste Szene die heutige Realität und entspricht dennoch völlig Wagners Grundkonzept. Auch eine Diskrepanz zwischen Szene und Musik konnte ich überhaupt nicht empfinden.
Zweite Szene: Im Tempel
Die Völker - alle Rassen, alle Religionen, auch die christliche! - eben Multikultur) - der Welt bitten Amfortas um Nahrung. Doch er, der helfen könnte, verweigert aus egoistischen Gründen zuerst diese Hilfe, und die Menschen wenden sich an den weiß gewandeten Parsifal, der in seinem Unverständnis dasteht wie ein Fels in der Brandung. Mit blutenden Händen hinterlassen sie ihre Zeichen auf seinem Kleid und erhoffen in ihrer Verzweiflung, ihrer Lebensangst Hilfe von diesem Kind, diesem thumben Tor, der doch noch lange nicht wissend geworden ist durch Mitleid. Sie erhoffen das Unmögliche und klammern sich an einen Strohhalm. Gut - letztlich enthüllt Amfortas den Gral. Aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Und dazu Wagners grandiose Musik!
Das, was ich da gesehen und gehört habe, hat mich zu tiefst erschüttert. Sicher - wir kennen die Armut und das Elend der dritten Welt, doch wir verdrängen das! Vielleicht müssen wir das sogar, um selbst weiterleben zu können. Schlingensief reißt da eine Wunde auf und das ist gut so und richtig! Denn die erste Aufgabe der Kunst ist ja nicht Unterhaltung, sondern die Aufdeckung von Strukturen, die Aufgabe also, den Finger in eine Wunde zu legen und dem Menschen - auch wenn es weh tut - seine Situation vor Augen zu führen und ihn zum Nachdenken zu bringen.
Und das tut Schlinge hier!
Für heute erst einmal Schluss.

Herzliche Grüße
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#25 erstellt: 23. Nov 2004, 23:28
Hallo (diesmal richtig geschrieben) Peet_g,

Deine Anmerkungen - wie Du siehst - beschäftigen mich doch sehr, deshalb möchte ich gleich nachhaken.
Du sprichst vom Schluss des Parsifal, auch das ist eine der großartigen unter die Haut gehenden Szenen dieser Inszenierung.
Die den gesamten Bühnenrahmen füllende Projektion von zwei Hasen - sehr stark kritisiert und doch in dieser Aufführung logisch - die im Zeitraffertempo verwesen, verblasst, verschwindet und im Bühnenhintergrund öffnet sich ein Tor und verbreitet fast unerträglich helles, weißes Licht. Davor die Gestalt Parsifals, der langsam auf das Tor zuschreitet.
Die Materie zerfällt zu Staub, doch der Geist strebt vorwärts - Wohin? Wir wissen es nicht. Und auch Schlingensief versucht keine Antwort. Die muss sich jeder selbst suchen.
Unwillkürlich musste ich an das Grab von Albrecht Dürer im Johannisfriedhof zu Nürnberg denken. Dort steht: "Was sterblich ist an Alfred Dürer liegt unter diesem Stein begraben."
Szene und Musik gehen hier eine Einheit ein, die ungeheuer und unbeschreiblich ist. Ich war wie in Hypnose.
Mir ist so etwas bisher nur ein einziges Mal passiert, 1970 in Salzburg, Trauermarsch - Götterdämmerung unter Karajan.

Und auf einen anderen Aspekt, den Du ansprichst, möchte ich noch eingehen - Utopie!
Ich habe das konkret erst jetzt durch Deinen Hinweis voll begriffen.
Die Musik in der Tempelszene bei Enthüllung des Gral verweist ja eine bessere Welt. Und dieser - wie Du richtig bemerkst - unerreichbaren Utopie stellt Schlingensief die Realität, das Chaos gegenüber und erreicht wohl auch damit die tiefe Erschütterung, die ich gerade in dieser Szene empfunden habe.

Das wollte ich noch nachtragen.
Aber jetzt höre ich auf und grüße ganz herzlich
peet_g
Stammgast
#26 erstellt: 25. Nov 2004, 11:19
Es macht Spass mit dir zu diskutieren!

Jetzt aber schnell zur Sache, da ich leider nicht sehr viel Zeit habe. :-)

Hinter dem Thema versteckt sich der große Streit über das Regietheater in der Oper. Wie weit darf der Regisseur die Musik umdeuten, missachten? Wo liegen diese Grenzen? Was wirkt überzeugend?

Du bringst drei Beispiele und schilderst sie ausführlich. ich gehe sie durch.

Der Anfang, nach dem Vorspiel. Was hören wir in der Musik? - "der feierliche Morgenweckruf", dann "das Morgengebet" - ich kann mir dabei keine "Slum-Gegend in irgend einer Stadt der dritten Welt" vorstellen. Das ist für mich eine unüberbrückbare Diskrepanz zwischen Bühne und Musik.

Tempelszene, wie du sie beschrieben hast, stellt Parsifal mehr in die Handlungsmitte als es in der Partitur steht. Ich nehme an, die Bemalung Parsifals mit Blutzeichen geschieht nach dem "Erbarmen"-Monolog des Amfortas. Da erklingt im Chor die Hoffnung auf die Erlösung als Vorbereitung zur Kommunion und dann geschieht die Verwandlung der Gaben und die Kommunion selbst. Der von dir beschriebene Ablauf ist in meinen Augen ein Aktionismus - statt einer Verinnerlichung des kultischen Moments wird die Unfähigkeit mitzuschwingen nach aussen getragen. Die Mystik der Weihehandlung wird ignoriert. Die von dir beschriebene Verzweiflung schreibt die Musik ausschliesslich dem Amfortas, der Chor ist felsenfest im Glauben und in der Amtshandlung, Parsifal ist das verkörperte Auge des Zuschauers, er ist in der Musik nicht präsent, um das zu ermöglichen. Es ist somit ein völlig anderes Konzept, der gegen Musik ist.

Die Schlussszene beschreibt bei Wagner eine vollendete Vereinigung im Mysterium - sofern es denkbar ist, dann nur als Verinnerlichung und Vereinigung. In der von dir beschriebenen Regieinterpretation wird die Verwesung dargestellt, obwohl die Musik von der Auferstehung spricht; Parsifal geht auf das Licht hinaus und wird auf diese Weise von der Masse abgetrennt, ihm alleine gebührt hier somit die Ehre, erleuchtet zu werden. Die Musik versucht dagegen ihn zum Erlöser, zum Retter der allen zu stilisieren. Er ermöglicht es, daß das Mysterium volzogen werden kann, er dient ihm und will davon nicht für sich profitieren, erhoben werden, er ist halt bescheiden. Er vereinigt nur die Ritterschaft um seine Heiligtümer. Die Lichtidee stammt übrigens von Wagner selbst. Die Idee finde ich wie gesagt sehr gut. Die Hervorhebung und der Gang Parsifals dagegen - nicht.

Sorry für die Kürze. :-)

Herzliche Grüße
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#27 erstellt: 09. Dez 2004, 12:07
Hallo peet_g,

ich muss um Entschuldigung bitten für mein langes Schweigen, aber Du forderst einen ganz schön und beschäftigst die grauen Zellen.
Ich musste das, was Du schreibst erst einmal gründlich durchdenken und für mich selbst überprüfen.
Dabei ist mir aufgefallen, dass ich vieles doch mehr emotional als rational aufgenommen habe, (was ich aber nicht unbedingt als Fehler betrachte,) nun aber aufgrund Deiner Ausführungen gründlich durchdenken musste (auch kein Fehler!).
Emotion ist ja Gefühl, doch auch das Gefühl gründet sich auf Unbewusstes bzw. Unterbewusstes und das ist nicht immer leicht hervorzuholen. Ich habe es versucht.
Jedenfalls danke ich Dir ganz herzlich, dass Du mich dazu zwingst!

Im Einzelnen:
Du siehst in der ersten Szene Parsifal eine für dich unüberbrückbare Distanz zwischen Musik und Bühne. - Habe ich nicht so gesehen und sehe es auch heute nicht so.
Morgenweckruf und Morgengebet sind geistige Vorgänge, die unabhängig vom Ort ablaufen. Wenn Gretchen in der Kerkerszene dem Mephisto entgegenschleudert: Was willst du an dem heiligen Ort?, so meint sie gewiss nicht den Kerker, sondern den geistigen Raum, der Faust und sie umgibt. Und wenn Jesus sagt: Wo zwei in meinem Namen zusammen sind, bin ich unter ihnen; dann stellt er gewiss auch nicht auf einen bestimmten Ort ab. Und in diesem Sinne verstehe ich die Slum-Szene in Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung. Gurnemanz und die Gralsritter sind doch gefallene Engel, (wenn dieser hochtrabende Begriff erlaubt ist), die aus ihrer Beschaulichkeit und Sicherheit herausgeschleudert wurden, ihren festen Glauben aber behalten haben. Ob ihr Zeremoniell nun in einer schäbigen ärmlichen Waldhütte oder eine Slum-Gegend abläuft, bleibt sich
- denke ich - gleich. Ein geistiger Raum lässt sich hier wie dort schaffen. Die Waldhütte kann man natürlich ästhetisch schöner gestalten. Slums sind aber leider heute unsere Realität un unser heutiger Ausdruck für Armut.

Es ist richtig, in der Musik der Tempelszene kommt Parsifal nicht vor. Dass er aber dennoch die ganze Zeit auf der Bühne präsent ist, steht im Text. Diese musikalische Abstinenz ist also von Wagner so beabsichtigt. Und Schlinge zeigt nur visuell, was Gurnemanz hofft, nämlich dass dieser thumbe Tor einmal der Erlöser sein wird.
Deine Interpretation: Parsifal ist das verkörperte Auge des Zuschauers; hat mir am Anfang sehr gut gefallen. Aber dann kamen die Zweifel. Parsifal, der thumbe Tor - ohne jede Lebenserfahrung, der nichts begreift, ist das der Zuschauer? Ich glaube nein.
Parsifal ist hier in der Tempelszene einfach nur der junge Mensch, der Dinge sieht und erlebt, die er jetzt noch nicht begreift und die er irgendwann aufarbeiten muss. Dieses Begriffenwerden mit blutigen Händen ist für den hilflosen jungen Mann ein Schlüsselerlebnis, das sich ihm tief einprägt und ihn schließlich in der Kuss-Szene in zweiten Akt blitzartig erkennen lässt, wo seine Bestimmung liegt.
Dieses ein bis zwei Minuten im Mittelpunkt Stehen Parsifals verschieben die Gewichte in der Tempelszene nur für ganz kurze Zeit, bereitet aber meiner Meinung nach Parsifals Erkenntnis nach der Kuss-Szene im zweiten Akt entscheidend mit vor.
Von der Dramaturgie her finde ich das einleuchtend und mich hat in konventionellen Inszenierungen eigentlich immer gestört, dass diese Erleuchtung im zweiten Akt so plötzlich kommt und unzureichend vorbereitet ist, denn vor einer solchen Erleuchtung müssen sich im Unterbewusstsein Vorgänge abspielen, die eine solche Spontan-Reaktion erst möglich machen.

Es ist Aufgabe der Regie, Vorgänge transparent zu machen, für mich u. U. auch durch Aktionen, die nicht ausdrücklich im Buch stehen. Nur - logisch müssen sie halt sein und sich aus der Handlung heraus entwickelt!!!
Schlingensief ist ja nicht der erste, der das macht. Kupfer zeigte in seiner Bayreuther Götterdämmerungs-Inszenierung während des Trauermarsches am Sterbeort Siegfrieds noch einmal eine Begegnung Brünnhilde - Wotan - ungemein beeindruckend und erhellend!
Flimm lässt in seiner Siegfried-Inszenierung bei der Begegnung Wotan - Alberich Alberich mit seinem Sohn Hagen auftreten, damit der linkische junge Mann das Handwerk des Nibelungen richtig erlernen kann. Dramaturgisch vollkommen logisch - wie ich finde - und eine Bereicherung und Verdeutlichung dessen, was Wagner meint.
Als Aktionismus sehe ich solche Regieeinfälle grundsätzlich nicht und den Vorwurf des bloßen Aktionismus in der Tempelszene kann ich nicht mit tragen. Obwohl mir bei Schlingensief in anderen Szenen dieser Vorwurf durchaus berechtigt erscheint, aber darauf möchte ich jetzt nicht weiter eingehen.
In der Tempelszene - so empfinde ich es - öffnet Schlingensief die Gralsgesellschaft und bezieht die ganze Welt mit ein. Er vermeidet christliche Symbole, es geht ihm um Erlösung, Tod und (vor allem) Leben ganz allgemein. Er zeigt das Chaos einer multikulturellen Gesellschaft und das scheint schon aktionistische Anklänge zu haben, nur ich empfand dies an dieser Stelle als absolut richtig. Dabei wird die Mystik der Weihehandlung - wie Du richtig feststellst - ignoriert, aber nicht nur vom Regiseur sondern auch von Dirigenten, der hier sehr schnell und intellektuell die Partitur zum Klingen bringt, und somit wären wir ja interpretationsmäßig wieder im Einklang. Meiner Auffassung von Parsifal kommt diese Interpretation sehr entgegen. Denn bei den Begriffen Verinnerlichung des kultischen Elements und Mystik wird mir immer ganz flau im Magen, mit diesen Begriffen kann ich nicht viel anfangen. Und so geht es mir auch mit dem Pathos.
Diese Elemente in Wagners Musik lassen sich zwar nicht eliminieren, aber über Wagner hinaus sollte man sie nicht noch extra betonen, eher herunterspielen. Ich sehe diese sicherlich für Wagner heiligen Dinge aus seiner Zeit heraus. Doch im zwanzigsten Jahrhundert haben wir durch Ungeist, Missbrauch, Schoah und Krieg unsere Unschuld verloren (wenn wir sie je hatten!) und ich misstraue solchen Strömungen.

Ich erinnere mich da an ein ganz privates Gespräch mit Harry Kupfer. Da kam natürlich in erster Linie seine Bayreuther Ring-Inszenierung zur Sprache. Ich fragte Ihn, warum machen Sie alles so hektisch und lassen die Sänger über die Bühne rennen, die haben ja keine Luft mehr zum Singen? Da lachte er und sagte: Nur um das Pathos der Musik zu unterlaufen! Und so sehe ich das auch hier und nur so kann ich mir eine Interpretation Wagner´scher Werke in unserer heutigen Zeit vorstellen.
Wenn man also ein Werk des 19ten Jahrhunderts in unsere Zeit herüberholen will, dann muss man die Interpretation unserem heutigen Lebensgefühl anpassen, sonst wird das Werk zum Museum und das wollen wir doch nicht!

Mit Amfortas bereitest du mir große Schwierigkeiten!
Entschuldige bitte, wenn ich darauf jetzt nicht eingehen möchte. Da muss ich noch ganz gründlich in die Musik selber gehen, doch dazu habe ich im Augenblick einfach nicht die Zeit und schon gar nicht die nötige Ruhe.
Deshalb gleich zum Finale!

Die Schlussszene sehe ich bei Wagner (und auch bei Schlingensief) als Erlösung vom Leid und als eine - wie Du es nennst - vollendete Vereinigung (alles Lebenden) im Mysterium (des Todes, wobei für mich das Mysterium darin liegt, nicht zu wissen, was mit dem Geist geschieht und doch zu ahnen, dass er wohl unsterblich ist.
Es gibt medizinische Untersuchungen an Sterbenden, die erstaunliche Ergebnisse brachten:
Sterbende wurden - mit ihren Betten - auf eine Präzisionswage gestellt. Im weiteren Verlauf dieses Versuches hat man die Entwicklung des Gewichts genauestens verfolgt und dabei zeigte sich, dass mit Eintritt des Todes das Gewicht um drei bis vier Gramm reduziert wurde. Etwas muss also den Körper verlassen haben.
Trennte sich der Geist von der Materie? - Keiner kann es sagen. Es bleibt vorerst eben ein Mysterium.
Und so sehe ich die Schlussszene im neuen Bayreuther Parsifal.
Schlinge inszeniert nicht - wie Du meinst - die Verwesung, sondern die Verwandlung. Der Körper kehrt zurück in den ewigen Kreislauf der Natur, der Geist entflieht - wohin? Diese Frage muss offen bleiben.
Auch die Verwesung ist ja ein Teil der Auferstehung, denn auch die Materie verwandelt sich und schafft neues Leben.
Bei Schlingensief geschieht die Verwandlung mit der Auflösung des Körpers, doch diese Verwesung wird überstrahlt von dem hellen Licht des körperlosen Geistes. Der Geist also dominiert.
Parsifal ist nicht - wie Du kritisch anmerkst - alleine. Ist er doch die Symbolfigur des Menschen schlechthin und mit ihm geht alles Lebendige den gleichen Weg.
Ich sehe auch hier keinen Widerspruch zu Musik.
Je nachdem man diese Schlussszene empfindet, sie strahlt von der Bühne her wie auch aus dem Orchestergraben Harmonie - Hoffnung - Erlösung oder eben auch Auferstehung aus.

Herzliche Grüße

Alachandru


[Beitrag von Alachandru am 09. Dez 2004, 12:26 bearbeitet]
palisanderwolf
Hat sich gelöscht
#28 erstellt: 09. Dez 2004, 15:21
Hallo,
also bei Alachandru kann ich‘s nun fast verstehen, er spricht ganz überzeugend für sich. Aber was zieht Euch , alle anderen, nach B.?

Eine gelungene Rundfunkübertragung ist der Musik nicht unzuträglich, eine LP oder CD auch nicht. Man kann auch mal pausieren .

Aber Wagner in seiner Ganzheit? Was macht es, daß Ihr Euch da so rein kniet, um nicht zu fragen, wofür tut Ihr Euch das an?
Ist es schlimm, daß ich nur die Musik (zum Teil ) mag?

MfG Bernd
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#29 erstellt: 09. Dez 2004, 17:54
Hallo Bernd,

es ist natürlich gar nicht schlimm, dass Du Wagners Musik und nur die Musik (und auch nur zum Teil) magst und Dich ihr nicht vier Stunden im Theater aussetzen willst.
Ich habe dafür volles Verständnis. Mir geht es so mit der Barockmusik.

Auch ich höre gerne Rundfunkübertragungen und schneide sie zum Wiederhören mit.
CDs finde ich der Musik nicht unzuträglich, ganz im Gegenteil!
Aber Musik daheim sozusagen bequem und relaxt zu hören, ist das eine.
Eine Theateraufführung - mit all den Vorbereitungen, die man treffen muss - konzentriert mit Ohren und Augen unmittelbar live zu erleben, ist das andere.
Ich brauche zur Musik die Bühne und die Botschaft, wohl deshalb, weil ich nicht mit größter Musikalität gesegnet bin. Zu absoluter Musik finde ich (Ausnahme: Mahler) nicht so leicht Zugang.

Warum nun Bayreuth?
Wer einmal die unglaubliche Akustik in diesem Haus erlebt hat, ist ihr verfallen. Die lässt sich durch keine Technik der Welt herüberbringen.
Der Werkstattcharakter Bayreuths! - Ich habe in den letzten 40 Jahren rd. 50 Aufführungen dort erlebt und ich möchte nicht eine missen. Bayreuth hat und hatte immer eine Vorreiterfunktion im Hinblick auf neue Ideen und wenn ich von der einen oder anderen Interpretation nicht immer so überzeugt war, so hat sie doch zum Nachdenken angeregt.
Und dann die Atmosphäre auf dem Grünen Hügel! Man kann das nicht beschreiben, man muss es erleben!
Wolfgang Wagner ist für mich der größte Theatermancher, den es heute auf der Welt gibt,
es gelingt ihm die interessantesten Regiseure nach Bayreuth zu holen, bürgt jedes Jahr aufs Neue für Qualität und echtes Erlebnis.
Ich bin zwar kein ausgesprochener Wagnerianer, liebe auch sehr Richard Strauss und Gustav Mahler, aber Wagner ist und bleibt doch das Zentrum meines musikalischen Interesses und Bayreuth das Zentrum der Auseinandersetzung mit seinem Werk.

Herzliche Grüße


[Beitrag von Alachandru am 09. Dez 2004, 17:57 bearbeitet]
Vorstadtkinopianist
Ist häufiger hier
#30 erstellt: 10. Dez 2004, 09:24
Alachandru:
50 Aufführungen in 40 Jahren? - Ich muss für eine Karte immer rund 7 Jahre warten. Wie funktioniert das?
Frdl. Gruß
palisanderwolf
Hat sich gelöscht
#31 erstellt: 10. Dez 2004, 10:47
Hallo Alachandru,
Du hast meine ganze Achtung und Sympathie.

MfG Bernd
GiselherHH
Ist häufiger hier
#32 erstellt: 10. Dez 2004, 11:38

Vorstadtkinopianist schrieb:
Alachandru:
50 Aufführungen in 40 Jahren? - Ich muss für eine Karte immer rund 7 Jahre warten. Wie funktioniert das?
Frdl. Gruß


Da gibt es mehrere Möglichkeiten:

1. Er ist Journalist und bekommt Pressekarten.
2. Er ist Mitglied der "Gesellschaft der Freunde Bayreuths"
3. Er ist Mitglied eines der vielen Ortsverbände des "Richard-Wagner-Verbands"
4. Er hat persönliche Beziehungen zu den Wagners
5. Er hat persönliche Beziehungen zu in Bayreuth auftretenden Künstlern.
6. Er kennt jemanden, der gemäß den unter 1.- 5. genannten Möglichkeiten Karten bekommt.

Grüße

GiselherHH


[Beitrag von GiselherHH am 10. Dez 2004, 15:50 bearbeitet]
peet_g
Stammgast
#33 erstellt: 10. Dez 2004, 13:08
Lieber Alachandru,

in deiner ausführlichen Deutung bist du ein besserer Verteidiger Schlingensiefs als alle seine Apostel incl. Wolfgang Wagner. :-)

Ja, wenn man sich auf deine Position - die tatsächlich der Wolfgangs ähnlich ist - stellt, dann ist die Inszenierung stimmig und rund und anspruchsvoll und ansprechend und modern und zu moralischen Gedanken animierend. :-)

Du hast eine wirklich überzeugende Lesart angeboten. Und es fällt mir schwer, dagegen aufzutreten, da ich sie selbst, wie gesagt, nicht gesehen habe und muß nach Kritiken - und auch deiner Beschreibung - beurteilen.

Bei deiner Widerlegung meiner Vorbehalte hast du - ganz im Sinne des modernen Regietheaters - die Musik ausgeklammert und direkt den Ablauf der Handlung angesprochen. So tun wir alle, wenn wir der Bühne den Vorrang gewähren.

Ich möchte trotzdem bei der Musik bleiben, und deswegen bleiben für mich alle deine Deutungen nur eine mögliche, witzige und anmutige, modern wirksame Uminterpretation des Originals. Dein Gespräch mit Harry Kupfer belegt es am deutlichsten. Sein Lehrer ging nie so weit. Ich bin ehrlich gesagt da geblieben und möchte da auch bleiben - aus dem Geist der Musik kann man sehr viel herausbringen, immer noch, auch heute ist Wagner aktuell. Du siehst, es geht mir nicht um einen Aktionismusvorwurf, sondern um die Werktreue, wobei ich der Musik entscheidende Rolle auftrage. Wenn die Bühne mich bei der Musikwahrnehmung stört, ist alles für mich vorbei. Dabei wäre es so viel möglich, auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Original - aber bitte aus der Musik und nicht gegen sie.

Nehmen wir kurz noch einmal die Szene, wo Parsifal bei dem Gottesdienst dabei ist und nichts versteht. Du hast absolut recht, daß seine Verwandlung im II. Akt immer unvorbereitet wirkt. Die Idee, ihn bei der liturgischen Handlung einzubeziehen - mit heftiger schockierenden Wirkung einer Blutbeschmierung - ist eine effektvolle, ohne Zweifel. Nur - sie hat keine musikalische Wurzel, keine.

Das steht für mich im totalen Widerspruch zum Begriff "tönendes Schweigen". Das Nichtverstehen Parsifals ist eine negative Größe, sie wäre mit anderen szenischen Mitteln zu unterstreichen - gerade im Moment, wo der Chor über ihn singt und er das noch nicht begreifen kann. Wir wissen das aber - wie immer mehr als die Personen auf der Bühne. Also wie du siehst, ich würde es anders gestalten, um die Verwandlung Parsifals im II. Akt vorzubereiten. :-)

Du hast für mich bewiesen, daß Schlingensief seine Uminterpretation aus dem Ideenkonzept Wagners heraus erschuf. Das wäre ein Plus. Du hast für mich auch gezeigt, daß die Musik Wagners dabei eine untergeordnete bis zu vernachlässigende Rolle spielte. Das wäre ein Minus.

Der Dialog mit dir macht auf jeden Fall einen großen Spass. Wir können ihn gerne fortsetzen. :-)

Herzliche Grüße
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#34 erstellt: 11. Dez 2004, 17:23
Hallo Vorstadtkinopianist,

Deine Frage: "Wie kommt man zu Bayreuthkarten?" hat
GieselherHH schon umfassend beantworten.
Ich möchte nur eine Kleinigkeit richtig stellen und eine Ergänzung anbringen:
Der von GieselherHH angeführte Punkt 6. klappt nicht mehr!
Aber auf eine weitere Möglichkeit kann ich hinweisen:
7. Der Deutsche Gewerkschaftsbund
Aus historischen Gründen sehen dem DGB jährlich zwei
Vorstellungen zur Verfügung. Die Karten kann er nach
eigenem Ermessen zu einem von ihm festgesetzten Preis an
seine Mitglieder weitergeben.
Die Festspielleitung mischt sich da nicht ein.

Herzliche Grüße
Alachandru


Hallo Peet,

herzlichen Dank für Deine Anmerkungen. Ich sehe, wir kommen immer mehr vom PARSIFAL speziell weg auf allgemeine Fragen der Aufführung von Werken, die erst durch Interpretation und Darbietung ihre abschließende Form erhalten.
Der Autor/Komponist liefert die Vorlage, Dirigent/Regiseur/Ausstatter vollendet das Werk. In der Frage, was darf er, was darf wer nicht, sind wir doch sehr unterschiedlicher Meinung.
Ich denke, da gibt es noch viel Gesprächsstoff und ich freue auf unsere weiteren Diskussionen auch deshalb, weil ich sehe, dass Du von einem fundierten und ernsthaft durchdachen Standpunkt aus sehr überzeugend argumentierst und ich da noch mehr erfahren möchte.
Es gibt ja nicht nur eine sondern, viele Wahrheiten.
Und für mich ist es wichtig, die eigene Position, die eigene Überzeugung immer wieder auf den Prüfstand zu stellen und ich sehe, du kannst mir dabei helfen.
So viel für heute, meine Zeit erlaubt mir leider nicht, jetzt unmittelbar auf deine wieder sehr inhaltsträchtigen Argumente einzugehen. Im Verlauf der Woche werde ich sicher antworten.
Ich wünsche noch ein schönes Wochenende und verbleibe bis auf bald
mit den besten Grüßen
Alachandru


[Beitrag von Alachandru am 11. Dez 2004, 17:27 bearbeitet]
peet_g
Stammgast
#35 erstellt: 11. Dez 2004, 18:43
@ Alachandru

Lass dir Zeit und sei immer willkommen! :-)
Vorstadtkinopianist
Ist häufiger hier
#36 erstellt: 13. Dez 2004, 17:58
Hallo Alachandru,
all diese Bezugsmöglichkeiten von Karten fallen für mich weg, ich denke mal - für den größten Teil der Besteller. Etwas Besonderes ca. alle 7 Jahre zu erleben, hat auch seinen Reiz. Man wird gewiss nicht übersättigt. So fehlt mir nur noch der Holländer, um alles mindestens einmal gesehen und gehört zu haben. Leider gibt es eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Wagnerianern, die alljährlich nach Bayreuth pilgern und auf der anderen Seite den Untergang der Wagner-Gesangskunst in diesem speziellen Hause seit 1970 oder gar schon früher beklagen. Solche Lästereien kriegt man auch schon mal ungewollt in Pausengesprächen mit. Find' ich irgendwie krass. Für mich als Nachgeborenen der großen Wagner-Sänger-Ära ist es immer noch ein berauschendes Erlebnis, heutzutage einer Aufführung dort beizuwohnen. Ca. alle 7 Jahre.
(....hm, da fällt mir gerade ein, geht der Holländer nicht auch alle sieben Jahre an Land...?)
Grüße,
V.
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#37 erstellt: 17. Dez 2004, 12:58
Hallo peet,

als Antwort auf Deine Ausführungen möchte ich eigentlich mit drei Begriffen gleichzeitig anfangen! Es brennt mir auf den Nägeln.
Aber das geht nicht. Also der Reihe nach - Musikdrama - Ausklammerung der Musik - Werktreue.

Lasse mich erst den Begriff Musikdrama betrachten! Ich verstehe da die Gewichtung doch anders als Du.
Wagner sieht sein Musikdrama als eine Einheit von Wort, Musik und Darstellung.
Alle drei Komponenten sind ihm gleich wichtig und doch nimmt er dort, wo es ihm um die Wortverständlichkeit geht, die Musik zurück und stellt das Wort in den Vordergrund.
Eines der schönsten Beispiele dafür sind Pilgerchor und Gebet der Elisabeth im Tannhäuser.
Der Pilgerchor wird erst a cappella gesungen und wenn das Publikum den Text kennt, fällt das Orchester mit voller Wucht ein. Damit Elisabeth verstanden wird, lässt Wagner sie beim Gebet nur von den Bläsern, insbesondere solistisch von der Bassklarinette begleiten und dieses Vorgehen finden wir auch im Ring und im Parsifal (Der Männer Sippe... - Dass der mein Vater nicht ist..... - Karfreitagszauber u. a. m.).
Symphonisch wird Wagner nur dort, wo die Musik alleine sprechen soll.
Es ist wohl auch kein Zufall, dass Wagner bei der Uraufführung des Parsifal nicht die musikalische Leitung, sondern Regie und Ausstattung übernommen hat (`mal vom III. Akt der letzten Aufführung abgesehen).
Also alle drei Komponenten des Musikdramas sind gleich wichtig, wobei durchaus auch einmal eine Komponente zurückgenommen werden kann.
Wenn es schon der Meister so macht, warum nicht auch der Regiseur, den Wagner sogar direkt auffordert: Kinder schafft Neues! Und das hat er auch im Hinblick auf die Aufführungen seiner eigenen Werke gemeint.

Du verteidigst und forderst den Vorrang der Musik bzw. den Gleichklang der Musik mit der Bühne, weil Du in erster Linie hörst! Ich vermute einmal, Du bist überdurchschnittlich musikalisch begabt und da ist es nur natürlich, dass Dir die Musik über alles geht.
Meine Musikalität ist zu meinem großen Leidwesen nicht so ausgeprägt, bin da nur Mittelmaß, deshalb brauche ich das Wort (Oper/Lied). Das heißt aber nicht, dass ich die Musik ausklammere oder gar zurücksetzte. Sie ist für mich sehr wichtig vor allem natürlich bei Wagner, da sie ja über die Leitmotivtechnik die ganz wichtige zweite Sprache darstellt. Und ich akzeptiere modernes Regietheater auch nur dann, wenn es die Musik und die Idee ernst nimmt und das Konzept aus diesen Komponenten entwickelt ist.
Auch ich lege sehr großen Wert darauf, dass eine Interpretation aus dem Geist der Musik heraus erfolgt. Ich meine aber, die Bühne muss nicht unbedingt die Musik synchron umsetzen, auch aus einem Gegensatz der Bühne zur Musik kann eine ungeheuere Spannung erwachsen und unter Umständen die Idee noch prägnanter herausarbeiten. Die Bühne kann man verändern - muss man im Vergleich zur Entstehungszeit verändern, die Musik
- um Gottes Willen - nicht!!!
Und damit wären wir bei der Werktreue.
Du spielst auf Felsenstein an, der kann aber für mich bei unserer Diskussion nicht zur Beweisführung nicht dienen.
Denn der hat meines Wissens die Spätwerke Wagners einschließlich Parsifal nie inszeniert, da er - wie er selber sagte - zu Göttern kein Verhältnis habe, und den Figaro oder die Carmen auf die Bühne zu bringen, ist schon etwas anderes als die Realisierung eines Wagnerischen Musikdramas.

Aber weiter: Werktreue!
Dass Wagner heute noch genauso aktuell ist wie zu seiner Zeit ist unbestritten und da stimme ich Dir voll zu.
Wären nicht die menschlichen und gesellschaftlichen Konflikte, die er in seinem Werk aufzeigt (fast hellseherisch und tiefenpsychologisch, teilweise Freud vorwegnehmend analysiert), so aktuell, würde sich die kritische Jugend nicht so für Wagners Werke begeistern wie sie es tut.
Herrliche und großartige Musik in der Oper alleine schafft das nicht (siehe Webers Euryanthe!).
Also: Wagners Aktualität hinsichtlich der Thematik verbunden mit großartiger Musik ist die Ursache des Erfolges.
Aber: Wagners Werke sind im 19ten Jahrhundert entstanden und damit auch zeitgebunden, aber eben nur zu einem Teil!

Ich möchte diese beiden Teile wie ich sie verstehe auseinandernehmen.
Da ist einmal der Kern, eben die von Wagner aufgezeigten und analysierten zeitlos gültigen menschlichen und gesellschaftlichen Konflikte, denen wir uns immer wieder neu stellen müssen, die jede Generation für sich erarbeiten und beantworten muss und zum anderen der doch sehr zeitgebundene Rahmen.
Und diesen Rahmen - finde ich - muss man ändern (dürfen), um das Werk voll in unsere Zeit herüber zu holen und das Überzeitliche in unser Weltbild aufnehmen zu können.
Werktreue kann und darf sich nicht auf den Rahmen beziehen!!!- Kinder schafft Neues!!!

Und jetzt wieder am Beispiel Parsifal, was ich meine: Die adelige Gesellschaftsstruktur (der hehre Orden des heiligen Gral) hat sich total überlebt, für die Jugend (aber auch für mich) heißt dies: auf den Müllhaufen der Geschichte damit. Zeitgemäße Bilder müssen gefunden werden! Und wie gesagt, die Spannung.... siehe oben.
Zaubergarten und Blumenmädchen - welch schöne und jugendfrei Umschreibung für etwas, das die verlogene Gesellschaft des 19ten Jahrhunderts intensiv nutzte, nur reden durfte man darüber nicht - ein absolutes Tabuthema!
Wagner hat die Wirkung des Publikums auf den Bruch des Tabus im Tannhäuser erfahren Die damalige Gesellschaft hat dieses Werk gerade noch hingenommen, weil - in Künstlerkreisen ist halt alles freier, Künstlern billigt man eine gewisse Narrenfreiheit zu, mit Künstlern verkehrt man ja auch nicht.
Im Parsifal ist Wagner dann vorsichtiger geworden. - Eben: Zaubergarten.
Heute geißeln wir diese Verlogenheit und sind gewohnt die Dinge beim Namen zu nennen. Wer versteht das noch? Zaubergarten für eine solchen Institution? - das wirkt bei jungen Leuten höchstens lächerlich.
Ein Bordell ist heute eben ein Bordell und auch die Damen dort haben andere Berufsbezeichnungen als Blumenmädchen.
Aber die süße, einschmeichelnde, sinnliche Musik Wagners - für eine subtropische Blumenlandschaft geschrieben - zeigt auch in einem Bordell ihre Wirkung und schafft - ich denke noch schärfer - die beabsichtigte Stimmung. Sie passt eben auch zur Wahrheit und ich finde da keine Unvereinbarkeit von Musik und Bühne, wenngleich natürlich ein Zaubergarten sich ästhetisch schöner ins Bild setzten lässt als ein schäbiges Bordell.
Diese Wahrheiten heute auszuklammern und sich auf Werktreue zu berufen, halte ich für falsch.
Werktreue ist für mich - um es noch einmal zusammenzufassen -, partiturgetreue Darbietung der Musik und Umsetzung der geistigen Idee nach den Erfahrungen und Erkenntnissen unserer Zeit, den zeitgebundenen Rahmen aber auf dem Müllhaufen der Interpretationsgeschichte abladen.
Würde Wagner heute leben, er würde den Parsifal ganz anders machen.
Für mich heißt verharren ist erstarren!
Eine einmal eingenommene Position muss immer wieder neu durchdacht und geprüft werden dahingehend, ob sie in einer sich rasend schnell verändernden Welt noch Bestand hat.
Die Suche nach neuen Wegen, neuen Bildern ist mühsam und nicht immer erfolgreich.
Um auf die Bühne zurückzukehren: Der Weg zu neuen Deutungen führt in neun von zehn Versuchen in eine Sackgasse, ist völlig falsch oder einfach dilettantisch.
Schlingensiefs Weg in Bayreuth halte ich - bei noch mancher Unzulänglichkeit - für absolut weiterführend und deshalb mein Eintreten für ihn.
Für mich hat dieser Parsifal die gleiche Wirkung wie Patrice Chereaus Ring-Inszenierung 1976.
Auch dieser Parsifal kann ein erster Schritt sein für einen ins 21ste Jahrhundert führenden zeitgemäßen Interpretationsansatz.

Aus Deinen Darlegungen zur Interpretation allgemein geht ja nun auch deutlich hervor, dass Du keine museale Erstarrung willst und Veränderungen hinsichtlich der Darstellung auf der Bühne gegenüber offen bist.
Ich denke, im Ansatz sind wir uns einig.
Nur hinsichtlich des Ausgangspunktes und wohl auch hinsichtlich der Radikalität sind wir unterschiedlicher Meinung. Du möchtest Veränderung, aber nur aus dem Geist der Musik möglichst unpolitisch und sanft versöhnlich. Ich denke, da ähnelst Du mehr Wolfgang Wagner als ich. Dabei möchte ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich mir durchaus auch andere Wege zu eine Parsifal-Aufführung vorstellen kann, auch in die Richtung, wie Du den Parsifal siehst.
Meine Position habe ich oben dargelegt und ich halte gerade bei Wagner Konfrontation, Provokation und berechtigte Angriffe auf gesellschaftliche Verhältnisse bei der Aufführung seiner Werke für einen wichtigen Interpretationsansatz. Ich denke, ich kann mich da auf Wagner selbst bezeihen.

Deine Ansicht, dass bei Schlingensief die Musik eine untergeordnete bis zu vernachlässigende Rolle spielt, kann ich nicht teilen. Zu meiner Einschätzung Musik/Bühne siehe ebenfalls oben.
Mit meiner Ansicht befinde ich mich da - denke ich - auch in guter Gesellschaft.
Boulez selbst, der für mich eine großartige musikalische Interpretation geboten hat - analytisch - klar - zügig, bekennt sich ja ganz eindeutig zur szenischen Interpretation Schlingensiefs.
Und Boulez ist - ich weiß nicht wie Du darüber denkst - für mich eine absolute Autorität in punkto Wagner-Interpretation.

Zum Abschluss noch einige Anmerkungen zum Begriff: tönendes Schweigen!
Dass Du diesen Begriff hier erwähnst, zeigt mir auch ganz deutlich von welcher Position aus Du Wagners gesamte Musik verstehst. Für mich ist dieser Begriff - wie auch der Begriff Unendliche Melodie - einzig dem Tristan vorbehalten.
Wagner komponiert den Tristan nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Gefühl, aus der Ekstase heraus. Ein musikalisches Wunder - nicht wiederholbar! Die Vorgeschichte kann ich mir ersparen. Und dem entsprechend hat er ja auch recht, wenn er sagt: Nur mittelmäßige Aufführungen können mich retten, ganz gute machen die Leute verrückt.
Nach Beendigung der Arbeit am Tristan kehrt er aber wieder zu seiner doch stark vom Verstand gelenkten Kompositionstechnik zurück. Ein Zeichen dafür, dass er den Tristan kompositorisch abgehakt hat und da nicht anknüpfen will, ist auch die Tatsache, dass er die Grenzen der Tonalität nie wieder überschreitet.
Er konstruiert nun wieder mit Hilfe der Leitmotivtechnik (die er ja selbst nie so nennt) seine Musik zum Transport seiner Ideen, nur ab und zu dringt er musikalisch in rein emotionale Bereiche vor und auch das ist kalkuliert. Wagner handelt also nach der Devise, Gefühle (durch die Musik ausgedrückt) hat man als Künstler nicht zu haben, sondern zu machen.
Und dass dabei eine so großartige und überwältigende Musik entstehen kann, ist für mich das Wunder Wagner.
Ich meine aber, auch darüber sollte man sich im Klaren sein.

Zu dem Komplex Amfortas muss ich immer noch passen. Da möchte erst noch intensiv in die Musik gehen, dafür habe ich im Augenblick aber weder die nötige Zeit noch die entsprechende Ruhe. Sorry!

Auch ich würde mich sehr freuen, wenn wir unsere Diskussion fortsetzten könnten. Muss ja nicht ausschließlich auf Wagner begrenzt sein. Habe gesehen, dass Du Dich auch zu Karajan geäußert hast. - Auch ein Thema für mich. Habe den Maestro ca. zwei Dutzend mal live erleben können.
Für heute herzliche Grüße


[Beitrag von Alachandru am 17. Dez 2004, 13:21 bearbeitet]
peet_g
Stammgast
#38 erstellt: 18. Dez 2004, 00:50
Lieber Alachandru,

du forderst mich ja ganz schön heraus. :-)

Jetzt nur in Kürze, morgen bin ich in Zürich bei "Clowns".

Musikdrama

Wagner war der beste Propagandist seiner Kunst und sagte ziemlich oft die Unwahrheit, teil aus Überzeugung teils als Manifest. Real ist seine Kunst immer etwas anderes als das, was er manifestierte. Wir dürfen heute ruhig das Resultat nehmen, bewundern, kritisieren, darüber diskutieren. Auf seine Selbsteinschätzung würde ich dabei weniger Wert legen.

Also ich verbleibe beim Primat der Musik. Wenn die Bühne da mitmacht, bin ich völlig zufrieden.

Ich bin mir ziemlich sicher, daß bei dir, wie auch bei meisten Wagnerianern, doch die Musik im Vordergrund steht, dafür aber eher unbewußt, was kein Vorwurf meinerseits sein soll. Ausführlicher dazu in einigen Tagen, wenn das Interesse daran besteht. :-)

Kinder schafft neues!

Würdest du bitte in Zwischenzeit nachprüfen, in welchem Kontext Wagner diesen Satz sagte? Ich gehe davon aus, daß er neue Werke meinte, nicht neue Regie, geschweige schon neue Umdeutungen seiner Werke.

Werktreue

Ich bin durchaus für die politische bzw. sozialkritische Komponente der Interpretation. Meine Grenze liegt dabei nicht bei dem Geschmack des Publikums oder der Wagner-Familie, sondern bei der Kompatibilität mit dem Original. Darin sehe ich die Bedeutung der Methode von Felsenstein und seiner Schule im Musiktheater. Ich wäre in diesem Sinne lieber mit Wieland als mit Wolfgang...

Mich interessiert deswegen nicht, was Boulez zu Schlingensief sagt, sondern was er mit seiner Musikinterpetation sagt. Darüber habe ich mich, glaube ich, schon kurz geäußert...

Über Tristan dürfen wir hier nicht reden. *g* Sonst sprengen wir den Rahmen des Forums. *g* Ich habe offensichtlich zu kurz formuliert, was ich dem "tönenden Schweigen" meinte. Dazu also auch später.

Jetzt muß ich aber leider Schluss machen.

Liebe Grüße
Mr_M
Hat sich gelöscht
#39 erstellt: 19. Dez 2004, 03:28
Auf jeden Fall erstmal vielen Dank für die ausführlichen Erläuterungen. Ich selber habe mich mit dem Thema Oper noch nicht soviel beschäftigt, für mich ist das eigentlich auch mehr von der musikalischen Seite her interessant.
Ich muss zugeben, dass auch ich mit modernisierenden Inszenierungen so meine Problemchen habe. Für mich ist da einfach kein visueller Zusammenhang zur Musik mehr da, und die Balance scheint mir gestört, zur vordergründig-tiefsinnigen Erläuterung der Inszenierung verschoben.
Damit meine ich nicht, dass ich Leute mit geflügelten Helmen auf der Bühne sehen will. Wenn man das in alten Fotografien sieht, das kommt schon ziemlich hart.
Aber ich glaube nicht, dass die mythischen Hintergründe für viele Wagneropern einfach nur tarnende Fassaden für Dinge, die man damals nicht so offen ansprechen konnte, sind. Mir erscheint eher, dass Wagner eben den allgemeinen Charakter dieser Stoffe nutzen möchte. Aus damaliger Sicht wurde dann die Vorstellung dieser mythischen Plätze und Zeiten inszeniert. Das kann heute wirklich nicht mehr so machen, weil für uns das nicht wie aus ferner Zeit und fernem Raum ("a long time ago in a galaxy far way") erscheint, sondern viel zu sehr nach spätem 19. Jahrhundert aussieht, die mythische Distanz damit verlorengeht.
Daher sollte man eine Bühnenerscheinung finden, die uns dieses aus heutiger Sicht gibt. Es ist wahrscheinlich ein schweres Vergehen, das gegenüber heutigen Opernfreunden zu erwähnen, aber die Bilder, die ich von den Karajan-Inszenierungen (der Designer hiess Schneider-Siems, glaube ich) geshen habe, wären ein gutes Beispiel für einen modernen Blick in die mythische Distanz.
Mir ist schon klar, welche tiefe Bedeutung z.B. hinter "Blumenmädchen" steckt. Es ist auch nicht so, dass ich das peinlich finde und gerne hinter kitschigen Fassaden versteckt sehen möchte. Ich finde es einfach nur zu holzhammermässig, das ganze dann direkt im Puff stattfinden zu lassen.
Schliesslich wird der Text ja auch nicht "modernisiert", die Namen geändert, die Musik uminstrumentiert oder "remixed". Vielmehr gibt es neue Ansätze für die Interpretation der Musik, aber auf Basis der geschriebenen Partitur.

Letztenendlich sind dies eben doch Werke aus einer bestimmten historischen Epoche. Wenn man der Meinung ist, dass sie nicht mehr zeitgemäss sind, dann muss man sie eben nicht spielen, sondern eine neue "zeitgemässe" Oper zum gegebenen Thema schreiben.
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#40 erstellt: 19. Dez 2004, 15:25
Hallo Michael,

ich möchte bei Deinem letzten Absatz anfangen in dem Du forderst: Zeitgenössische Oper zum gegebenen Thema! Wer könnte heute eine solchen Musik wie sie uns Wagner hinterlassen hat, schreiben? Und zeitgemäß? Wann wäre Wagner zeitgemäßer als heute?
Um 1900 jubelte das Publikum Wagner zu, wenn er vom Bürgertum verlangt, abzutreten, weil es abgewirtschaftet hat (RHEINGOLD: Erda: „Alles was ist, endet!“). Die Leute damals haben nicht verstanden, was Wagner wirklich will und haben nur der Musik zugejubelt.
Wir heute verstehen Wagners Appell und schon deshalb bin ich dafür, Wagners Ideen und von allem die Musik in unsere Zeit herüberzuholen und – vor allem auch für die nachwachsende Generation zu retten – mit stimmigen und intellektuell fordernden Interpretationen.

Du hast ja sicher unsere bisherige Diskussion verfolgt und weist folglich, dass ich nicht gerade ein Freund mystischer Darstellungen und Hintergründe bin. Ich meine, man muss Wagner mit unserem heutigen Wissen real in unsere Zeit herüberholen, aber diese Ansicht habe ich ja schön öfter vertreten.
Natürlich war Tannhäuser nur eines von vielen möglichen Beispielen. Diese Analyse lässt sich auf alle Werke Wagners anwenden.
Ich möchte da jetzt nur kurz auf den Holländer eingehen: Selbstopferung einer Frau für den sündigen Seemann, der nur durch eine selbstlos liebende Frau erlöst werden kann. Unsterblichkeit als Strafe! Irreal – Märchen, noch dazu ziemlich naiv.
Wie will man das heute vermitteln?
Harry Kupfers Lösung, die ganze Geschichte in Sentas Kopf spielen zu lassen – Senta ist während der gesamten Aufführung – teilweise in ein Käfig – auf der Bühne präsent, dem Publikum wird die Geschichte als Sentas Traum, als Erlösungswahn eines pubertierenden, romantischen Mädchens vorgeführt, das am Ende der Oper brutal aus seinen Träumen gerissen wird. Das ist realistisch und für mich voll nachvollziehbar.
Du kannst das nachverfolgen, diese Aufführung aus Bayreuth gibt es auf Video.
Leider keine Video-Aufnahme existiert von Dieter Dorns großartiger Interpretation in Bayreuth. Auch er zeigt den Erlösungsfanatismus eines pubertierenden Mädchens in glühenden Farben, eben Märchen. Am Ende wenn Senta die Erlösungstat tun will, fällt die ganze Farbenpracht in sich zusammen, die Bühne zeigt Zerstörung – Grau in Grau – Senta irrt durch die Trümmer ihres Traums total verwirrt, die Erlösungsmusik noch im Kopf, aber die Bühne zeigt: Wunder gibt es nicht! Erlösung findet nicht statt! Kontrast zwischen Musik und Szene, doch für mich sehr spannend und überzeugend.
Sicherlich nicht Wagners der Zeit verhaftete romantische Vorstellung, aber ich denke, würde Wagner heute leben, so oder so ähnlich würde er es machen.
Man muss sich nur einmal Wagners Arbeitstechnik vergegenwärtigen.
Er erfindet nicht, sondern holt sich seine Stoffe aus der Geschichte und aus der Mythologie, verändert sie ungeniert, kombiniert sie und passt sie seinen Bedürfnissen an. Was ich am Tannhäuser aufzeigen möchte, gilt im Grunde für alle Werke.
Wagner kombiniert die Geschichte des Sängerkriegs auf der Wartburg mit der alten heidnischen Sage der Holda – germanische Göttin, die sich vor dem Christentum in die Unterwelt zurückzieht – als Kontrastwelt und macht schließlich aus der Gattin des Thüringischen Landgrafen dessen Nichte, weil er eben ein Liebespaar braucht. Und die Konflikte, die er anhand dieser Kombinationsstory aufzeigt, sind ganz auf der Höhe seiner Zeit und weisen – und das ist das immer wieder Erstaunen erregend – tiefenpsychologisch bis in unsere Zeit.
Ein Zitat mag dies belegen, zwar nicht aus dem Tannhäuser sondern wieder einmal aus Parsifal.
Parsifal sagt auf dem Weg zum Tempel:Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit.
Von Gurnemanz bekommt er die Antwort: Du siehst, mein Sohn, zum Raum wir hier die Zeit!
Wagner konnte unmöglich von der Relativität der Zeit (Einstein) wissen! Wo hat er das her?
Und diese Frage zu stellen, immer wieder aufs Neue, halte ich für unheimlich spannend.
Und deshalb diese ganze Diskussion.

Ich konnte noch einige Arbeiten von Wieland in Bayreuth bewundern, habe den Ring und Tristan in Karajans musikalischer und szenischer Interpretation 1969 bis 1972 in Salzburg live erlebt.
Und all die Inszenierungen waren für ihre Zeit begeisternd und richtig. Wieland richtungweisend, Karajan weniger, dafür unwahrscheinlich von der Musik inspiriert, wie es wohl nur einem Dirigent gelingen kann.
Doch das ist nun schon über 30 Jahre her und die Zeit geht weiter und Oper sollte nicht zum Museum verkommen.
Dass man – so wie Du - weitgehend über die Musik zu Wagner findet, ist o.k.
Ich habe ja schon zu Beginn dieser Diskussion darauf hingewiesen, dass es meiner Meinung nach zwei Wege zu Wagner gibt – über die Musik und über die Aussage.
Und dass man sich von der Musik herkommend eine harmonische Inszenierung wünscht, verstehe ich voll und ganz.
Bei mir ist es das – wie bereits dargelegt – etwas anders.
Ich möchte aber ergänzend dazu doch feststellen: Ich beschäftige mich seit etwa 40 Jahren intensiv mit Richard Wagner. Natürlich bin auch ich über die Musik zu Wagner gekommen.
Regie- und Interpretationsfragen haben mich am Anfang nicht so sehr interessiert, doch je mehr ich mich mit Wagner beschäftigte, je mehr Aufführungen ich gesehen habe (Vergleichsmöglichkeiten!), desto mehr gewannen Szene und die Aussage einer Inszenierung für mich an Bedeutung.
Die Musik begeistert mich zwar immer wieder aufs Neue, aber sie ist doch auch bei unterschiedlichen Dirigenten eine Konstante allenfalls mit Nuancen in der Interpretation.
Zudem kann ich meine Lieblingsinterpretationen ja auch auf CD genießen.
Eine szenische Interpretation aber ist immer wieder neu und mit Auseinandersetzung verbunden. Und dies rechtfertigt – für mich jedenfalls – den Besuch einer 10ten Parsifal-, eine 20sten Walküre-Aufführung und so weiter.

Mit freundlichen Grüßen


[Beitrag von Alachandru am 19. Dez 2004, 15:39 bearbeitet]
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#41 erstellt: 20. Dez 2004, 15:21
Hallo Vorstadtkinopianist,

ja, ja - der Holländer geht alle sieben Jahr´ ans Land und alle sieben Jahre nur Bayreuth?
Naja, das wäre mir schon etwas zu wenig. Ich versuche halt, zumindest jede Inszenierung einmal zu sehen. Ganz besondere Aufführungen oft auch ein zweites Mal.

Wagnergesang! Ein großes Thema!
Ich möchte mich da nicht an dem allgemeinen Gejammere beteiligen. Ich habe in all den Jahren hervorragende Sänger auf dem Hügel gehört und gesehen, auch weniger hervorragende, aber ich konnte und kann keine allgemeine Tendenz nach unten feststellen. Es gab Jahre, in denen manche Partien weit unter Niveau besetzt waren, weil es keine geeigneten Interpreten gab.
Und plötzlich kam wieder eine Sängerin, ein Sänger, die/der gerade in einer schwierigen Partie wieder begeistern konnte - Waltraud Meier z. B.
Sicherlich gibt es einige Partien bei Wagner, die in ihrer Schwierigkeit weit über das hinausgehen, was man von einem Sänger verlangen kann und darf.
Ich möchte sie auch nennen: Brünnhilde - Isolde - Tannhäuser - Tristan - Siegfried - Wotan, vielleicht auch noch Sachs. Sie zu besetzten ist schwierig und wird immer schwierig bleiben.
In der über 150-jährigen Aufführungsgeschichte Wagner`scher Werke gab es ganz wenige Interpreten, die den hohen Anforderungen ihrer Partien voll gerecht werden konnten.
Für die Brünnhilde sind hier uneingeschränkt nur vier Namen zu nennen: Frida Leider - Kirsten Flagstad - Hellen Traubel - Birgit Nilsson.
Astrid Varnay und Martha Mödl überzeugten trotz stimmlicher Defizite als Persönlichkeiten. Allein wenn man die Varnay als Ortrund (ihrer besten Wagner-Partie) gehört und gesehen hat, ist man für alle anderen Sängerinnen in dieser Partie verloren.
Mödl - eine Tragödin, wie ich sie nie mehr erlebt habe und Nilsson, deren gewaltige Stimme über das Medium Schallplatte bzw. CD nicht annähernd herüberkommt.Phantastisch! Aber diese Sängerinnen sind Ausnahmeerscheinungen, die man nicht als Maßstab nehmen darf!
Die großartigsten Brünnhilden, die ich erlebt habe, waren neben Birgit Nilsson Catarina Ligendza und Hildegard Behrens. Ligendza (deren Sopran aus der Tiefe kommt) wegen ihrer herrlichen Mittellage und samtigen Höhe und die Behrens wegen ihrer wunderbaren engelgleichen Höhe.
Evelyn Herlitzius gefällt mir gut allerdings mit Einschränkungen (teilweise störendes Tremolo, einige unschöne Töne), aber insgesamt eine beachtliche und überzeugende Interpretation der Wotans-Tochter.
Vielleicht wird ja Nina Stemme wieder eine ganz große Brünnhilde.

Lauritz Melchior war mit Abstand der größte Heldentenor aller Zeiten. Ein solches Stimmphänomen ist wohl auch nie wieder zu erwarten.
Als Maßstab darf man ihn schon gar nicht heranziehen!
Die Spitze der heutigen (Helden-)Tenören hat teilweise schon ein beachtliches Niveau erreicht bzw. berechtigt durchaus zu der Hoffnung, dass hier wieder Heldenstimmen heranwachsen, die die Tradition des Wagner-Tenors auf hohem Niveau fortführen.
Besonders nennen möchte ich Ben Heppner, Peter Seiffert, Robert Dean Smith, Christian Franz, Stephen Gould, Glen Winslade und Alfons Eberz.
Es ist sicher nicht leicht für diese Sänger die Leistungen von Max Lorenz, Set Svanholm, Ludwig Sudhaus, Wolfgang Windgassen, Jean Cox (den oft unterschätzten) aber auch von Rene Kollo zu erreichen oder gar zu übertreffen.
Bei manchem Auf und Ab werden sich - denke ich - aber immer wieder Sängerpersönlichkeiten entwickeln, die Wagners Werke auf hohem Niveau interpretieren können.
Da bin ich sehr optimistisch!
Herzliche Grüße

Alachandru
Vorstadtkinopianist
Ist häufiger hier
#42 erstellt: 23. Dez 2004, 13:22
Hallo Alachandru,
die meisten der erwähnten Sängerinnen und Sänger kenne ich natürlich nur aus meiner großen Tonträgersammlung. Die berühmten Namen (etwa bis 1960/70) live gehört zu haben, war mir aufgrund meines mittleren Alters nicht vergönnt. Beispiel: 1983 habe ich Victoria de los Angeles in Spanien gehört, - als sie in Bayreuth in Tannhäuser auftrat, war ich noch ein Kind.
Es gab ganz gewiss einmal eine sehr bedeutsame Zeit des Wagnergesanges oder des Gesanges allgemein. Die genauen Zeitpunkte einzugrenzen bereitet wohl auch einigen Experten Schwierigkeiten.
Ich - würde ich mal vorsichtig sagen - hätte vielleicht gern die Flagstadt oder die Traubel live erlebt. Von deren historischen Schallplatten weht stellenweise ein Anflug von dem Gefühl zu mir hin, wie es damals gewesen sein könnte!
Ansonsten bieten Tonträger aber kaum einen Eindruck, wie es in Bayreuth wirklich klingt, - insbesondere das Orchester, dem ich hier an dieser Stelle einmal drei Extrasterne vergeben möchte.
Frohe Weihnachten.
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#43 erstellt: 28. Dez 2004, 14:59
Hallo Peet,

heute nur eine Erläuterung zu Wagners Forderung "Kinder schafft Neues!"
Für Wagner ist dies ein Schlagwort, das er immer wieder und bei jeder Gelegenheit verwendet.
Ich kann Dir deshalb auch keine Fundstelle nennen, die diese Forderung erklärt, eingrenzt oder näher begründet.
Was Wagner aber damit meint, sagt er - zwar etwas umständlich, auch schwammig, eben seiner Zeit entsprechend - in einem Aufsatz, den er im Sommer 1882 niederschreibt.

In Bezug auf die Parsifal-Uraufführung stellt er fest: "Geübte Theaterleiter frugen mich nach der, bis für das geringste Erfordernis jedenfalls auf das Genaueste organisierten Regierungsgewalt, welche die so erstaunlich sichere Ausführung aller szenischen, musikalischen und dramatischen Vorgänge auf, über, hinter und vor der Bühne leitete; worauf ich gut gelaunt erwidern konnte, dass dies die Anarchie leiste, indem ein jeder täte, was er wolle, nämlich das Richtige. Gewiss war es so: ein Jeder verstand das Ganze und den Zweck der erstrebten Wirkung des Ganzen. Keiner glaubte sich zuviel zugemutet. Niemand zu wenig sich geboten. Jedem war das Gelingen wichtiger als der Beifall, welchen in der gewohnten missbräuchlichen Weise vom Publikum entgegenzunehmen als störend erachtet wurde....."(nachzulesen in den von Ernst von Wolzogen herausgegebenen BAYREUTHER BLÄTTERN; Heft Jahresende 1882 in einem von Wagner selbst verfassten Bericht zur Aufführung des Parsifal im Sommer 1882).

Nun, Wagner untertreibt natürlich, wenn er behauptet, die Anarchie alleine hätte die Aufführung geschaffen, denn er hat in die szenisch, musikalisch, dramatische Gestaltung der Aufführung sehr wohl eingegriffen und zwar für seine Zeit stilprägend eingegriffen!
Personenregie in unserem heutigen Sinne gab es aber damals noch nicht, und Wagner erlaubte seinen Sängern in einem abgesteckten Rahmen weitgehende Gestaltungsfreiheit.
"ein Jeder täte was er wolle, nämlich das Richtige!" - Er gibt also kein Gestaltungsmodell vor, ja erleugnet sogar seinen Anteil am Gelingen der Aufführung, vielleicht um kein Zeichen zu setzten, um nachfolgenden Regiseuren alle Freiheiten zu lassen, die er auch seinen Sängern gewährte? Allein auf "das Richtige" kam es Wagner an! Und dieses "Richtige" ist abhängig von der Zeit, vom Zeitgeist und muss wohl auch immer wieder neu definiert werden.
So also verstehe ich seinen Appell: Kinder schafft Neues!
Ich wünsche Dir einen guten Rutsch ins neue Jahr, und für dieses 2005er Jahr alles Gute, Gesundheit, Aktivität, Freude und viele schöne Erlebnisse.

Alachandru


[Beitrag von Alachandru am 28. Dez 2004, 15:06 bearbeitet]
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#44 erstellt: 28. Dez 2004, 17:08
Hallo Vorstadtkinopianist,

zwei Feststellungen zu Beginn:
- Wir können die Geschichte des Gesangs anhand der Tonaufzeichnungen gerade einmal
100 Jahre zurückverfolgen. Dabei ergibt sich das Problem, dass die akustische
Aufnahmentechnik (bis etwa 1924/25) Bass-/Bariton-/Tenorstimmen recht gut, Sopran- und
Altstimmen aber nur sehr unzureichend aufzeichnen konnte. (Die lasse ich deshalb bei
meiner Betrachtung weg.)
- Eine Tonaufzeichnung kann immer nur die Stimme, nie die gesamte Sängerpersönlichkeit
abbilden.
Eine Vergleichbarkeit mit heutigen Sängern ist also sehr schwierig. Das muss man immer in Hinterkopf haben.

Und dennoch denke ich, dass man aus den Tonaufzeichnungen durchaus Schlüsse ziehen, - mit o. a. Einschränkung - Vergleiche anstellen und Höhepunkte des Wagnergesangs feststellen und eingrenzen kann.
Solche Höhepunkte sind für mich einmal die Zeit von um 1930 bis 1938 - Lauritz Melchior (zumindest am Anfang noch), Frieda Leider, Maria Müller, Friedrich Schorr, Alexander Kipnis, Max Lorenz und Franz Völker.
Und dann für die Zeit 1951 bis 1960 Martha Mödl, Astrid Varnay, Ramon Vinay, Hans Hotter und auch schon Birgit Nilsson, dass man Jon Vickers in BT nicht aufgebaut hat, war ein großer Fehler, denn Wolfgang Windgassen war sicherlich nicht der ideale Heldentenor in dieser Riege.

Mödl, Varnay, Hotter, Nilsson, Vickers habe ich noch selbst auf der Bühne erlebt und da kann ich mir ein Urteil über die Stimme hinaus zur gesamten Sängerpersönlichkeit erlauben.

Astrid Varnay, deren Stimme in der Höhe eine gewisse Schärfe aufweist oder Martha Mödl, deren Stimme wohl aufgrund fehlender Obertöne auf Tonträger etwas monoton klingt, waren Sängerpersönlichkeiten, die durch ihre grandiose Gestaltung die stimmlichen Mängel mehr als wett machen konnten.
In ihren großen Wagner-Partien konnte ich beide (mit Ausnahme von Varnays Ortrud in Bayreuth) leider nicht mehr erleben.
Aber wenn Varnays Ortrud Telramund entgegenschleudert: "Gott! Nennst du deine Feigheit Gott?" dann wirkte das wie ein Erdbeben. Was machen da kleine Mängel in der Stimme aus? Der Tonträger aber registriert nur diese, die großartige, überwältigende Gesamtwirkung aber kann er nicht vermitteln.

Als Klytämnestra habe ich noch beide bewundern dürfen und dann die Altersrollen - Wirtin im Boris, Marthe Schwertlein, Mamma Lucia und auch da haben sie für Momente alles Andere auf der Bühne vergessen lassen.
Über Hotter möchte ich nichts sagen. Er hatte zu diesem Zeitpunkt den Zenit seiner Laufbahn längst überschritten.
Birgit Nilsson - bei weitem nicht die Gestalterin wie Mödl oder Varnay - übertönte mit ihrer metallisch kraftvollen Stimme alle Kollegen. Eine solch große Stimme habe ich nie wieder gehört. Ihre Siegfried-Brünnhilde übertrifft noch Leider-Flagstad-Traubel um Grade.
Ihr "Siegfried, herrlichster Hort der Welt" war ein Jubelruf sondergleichen. Man hatte den Eindruck, dieser Stimme sind keine Grenzen gesetzt. Der Tonträger kann das gar nicht herüberbringen und doch.....
Nilsson war ein echter Sopran, stabil, kraftvoll, mit herrlicher Höhe, ich aber mag für die Brünnhilde lieber Stimmen, die aus der Tiefe kommen (wie Fagstad z. B), die eine samtene, satte Mittellage aufweisen wie Catarina Ligendza, die ich in eine Reihe mit den großen Brünnhilden Bayreuths stellen möchte.
Jon Vickers, der wenig Beachtung in Bayreuth fand, war für mich der beste Tristan der Nachkriegszeit, hätte man ihn konsequent aufgebaut, was hätte Bayreuth für einen Siegfried gehabt!
Oder Ernst Kozub, der für mich die schönste Heldentenorstimme der Nachkriegszeit besaß, am Anfang einer Weltkarriere stand und leider mit etwas über 40 Jahren starb.
Die Heldentenormisere lag also nicht an einem Verfall des Wagner-Gesangs, sondern an Besetzungsmängeln und unglücklichen Umständen.
Wir sind jetzt schon in den 70er Jahren und da gehören zu den großen Sängern Bayreuths auch noch Rene Kollo (Lohengrin) und vor allen Franz Crass in den großen Bass-, teilweise sogar Heldenbaritonpartien .

Zugegebenermaßen: In den 80iger Jahren kam es zum Tiefpunkt des Wagner-Gesangs in Bayreuth. Der Boulez-Ring bietet hierfür das beste Zeugnis. Weder Jones noch Jung konnten auch nur annähernd festspielwürdige Leistungen erbringen und Wolfgang Wagner musste überlegen, ob er künftig den Tannhäuser spielen sollte, da es keinen Vertreter der Titelpartie gab, der festspielwürdiges Niveau aufwies.

Aber seit den 90iger Jahren geht es doch wieder aufwärts! Ich denke hier nur an die großartige Waltraud Meier, an Peter Seiffert, der zur Zeit in Bayreuth einen herrlichen Lohengrin singt und an Ben Heppner, der leider noch nicht zu Bayreuth-Ehren gekommen ist. Warum eigentlich?
Aber zurück nach Bayreuth: Wie großartig haben - und jetzt sind wir schon im dritten Jahrtausend angekommen - Urmana/Smith in den letzten Jahren das Wälsungen-Paar gesungen und gestaltet, die brauchen keine Konkurrenz zu fürchten und reihen sich würdig ein in die Riege ihrer großen Vorgänger!
Und junge Sänger - viel versprechende - Riccarda Merbeth - Judit Nemeth - rücken nach.
In den Heldentenor-Nachwuchs setze ich große Hoffnungen! - Christian Franz - Alfons Eberz - Stephen Gould.
Ich hoffe nur, sie haben die nötige Geduld zur Entwicklung der Stimme.
Die Sängerausbildung war nie so gut und umfassend wie heute. Von der Technik her gibt es keine Probleme.
Man muss den großen Stimmen nur Zeit zur Entwicklung geben. Eine Flagstad tingelte rund 20 Jahre über Provinztheater und Operettenbühnen in Norwegen und Schweden bis sie - 39jährig - in Bayreuth ihren Durchbruch schaffte. Traubel hat über ein Jahrzehnt die Angebote der MET abgelehnt, weil sie sich für diese Aufgabe noch nicht reif fühlte.
Früher hatten große Stimmen - und das war ein großer Vorteil - die Möglichkeit, sich langsam zu entwickeln. Da könnte man Operette singen - durchaus anspruchsvoll für die Stimme, aber wegen der Kürze der einzelnen Nummern die Stimme nicht überfordernd - aber wo gibt es diese Möglichkeit noch?
Wo gibt es noch fachkundige Intendanten, die eine Stimme über Jahre hin in einem Ensemble pflegen können.
Heinrich Knote hat in München 1892 mit der Rolle des Georg im Waffenschmied debütiert und wurde langsam in sorgfältiger Rollenauswahl als Nachfolger des alternden Heinrich Vogel als neuer Heldentenor der Münchner Oper aufgebaut. 1902 sang er bei der Eröffnung des Prinzregententheaters den Stolzing und 1932 verabschiedete er sich im Vollbesitz seiner Stimme als Jung-Siegfried von seinem Münchner Publikum (man höre nur seine 1929 erfolgte Einspielung der Romerzählung!).
Eine vierzigjährige Karriere! Phantastisch!
Wollen wir also heute an diese Tradition anknüpfen (Stimmpotential und hervorragende Technik) sind vorhanden, dann dürfen wir unsere jungen Talente nicht verheizen, sondern müssen ihnen die Möglichkeiten geben, sich entsprechend und geduldig entwickeln zu können. Viele junge Sänger haben dies erkannt und verhalten sich entsprechend.
Also ich bin da sehr optimistisch!
Und eine Krise der Wagner-Gesangs oder des Gesangs allgemein kann ich so, wie manche Kritiker es heute darstellen, kann ich nicht sehen.
Herzliche Grüße

Alachandru


[Beitrag von Alachandru am 28. Dez 2004, 17:11 bearbeitet]
Vorstadtkinopianist
Ist häufiger hier
#45 erstellt: 30. Dez 2004, 18:42
Guten Tag, Alachandru,
vielen Dank für die interessante Sicht der Dinge eines Bayreuth-Verehrers! Eine Antwort schaffe ich in diesem Jahr nicht mehr und bin erst ab 10. Januar wieder online. Alle guten Wünsche fürs neue Jahr! Werde mir überlegen, ob ich mich im neuen Jahr lösche, denn man muss hier höllisch aufpassen, nicht angegriffen zu werden und ständig genau abwägen, was man schreibt. Das ist mir letztlich doch zuviel Stress.
Also, - vielen Dank für die interessanten Berichte zum Thema "Bayreuth".
Frdl. Gruß, Vorstadtkinopianist.
peet_g
Stammgast
#46 erstellt: 02. Jan 2005, 20:38
Lieber Alachandru,

zunächst mal wünsche ich dir auch Alles Gute im Neuen Jahr! :-)

Aus unserer Diskussion müssen wir später ein Buch machen, ganz bestimmt! *g*

Jetzt aber zur Sache.

Der Spruch "Kinder schafft Neues" bezieht sich - aus meiner Sicht - im Kontext des 19. Jhs. auf neue Werke. So hat es Schumann gemeint, so würde ich auch den kompletten Satz Wagners verstehen:

"Kinder, schafft Neues und abermals Neues! Hängt Ihr Euch an das Alte, so holt Euch der Teufel der Unproduktivität und Ihr seid die traurigsten Künstler!"

Die Regiekunst war zu seiner Zeit im Dienste des Dramas und der Musik, wie auch die von dir zitierte Stelle nachweist.

Noch einmal: Ich würde Wagners Worte nie ohne eine Klärung des Kontextes übernehmen. Man muß nicht gleich Nietzsches Position komplett vertreten, aber doch vorsichtig sein. In diesem Sinne halte ich das Werk - die Partitur mit allem, was in ihr steht, - für eine eindeutige Vorlage, an der so wenig wie möglich geändert werden sollte. Das letzte Wort sollte einem Dirigenten überlassen werden, nicht einem Regisseur, egal wie erfinderisch er sein mag. Wenn sich der Regisseur und der Dirigent nicht einig sind, ist das Resultat zweifelhaft.

In dem von dir beschriebenen Fall - "Parsifal" - hat Boulez die Interpretation Schlingensiefs vertreten und mit ihr konform musiziert. Aus meiner Sicht zugunsten der Regie. Du hast davon profitiert, mit deiner Einstellung. Die Musik wurde hier, ich folge deiner Beschreibung, wenn auch gegen deine Folgerung, aber zur Dienerin der Regie. Ich akzeptiere es nicht, du findest es großartig. Das Thema haben wir, glaube ich, durch. :-) Die Tatsache haben wir aber eindeutig festgehalten. Stimmts?

Weiter. Dein Beispiel mit dem Zaubergarten resp. Bordell habe ich nicht verstanden. Was ist hier das Thema? Was soll da neu sein? Wagner war nicht der Erste, der Ritter von den Zaubermädchen verführen lässt. Diese Szene darf nicht naturalistisch verstanden und realisiert werden. Was daraus Regisseure machen, ist meist peinlich. Hier wäre weniger mehr!

Es macht mich neugierig, daß du aus meinen Gedanken eine Nähe zu Wolfgang Wagner herausliest. Mir wäre Wieland angenehmer. :-) Warum siehst du das anders? Wo liest du bei mir den angeblichen Wunsch heraus, Wagner "möglichst unpolitisch und sanft versöhnlich" zu sehen? Ich erkenne meine Position in diesen Worten nicht.

"Tristan". Du irrst dich, wenn du meinst, das Werk wurde aus dem Gefühl komponiert. Es gibt gründliche Analysebücher und Dissertationen, die die Logik und latente Strukturen sowie einen klaren Plan nachweisen.

Das "tönende Schweigen" ist ein sehr gelungener Ausdruck, R.Strauss nannte entsprechende Szenen später "kontemplatives Ensemble". Darin liegt das Geheimnis der Opernwirkung. Darin ist auch die ganz spezielle Rolle Wagners sehr groß - zwischen Mozart und der Moderne. Heutiges Regietheater erkennt das nicht an. Das Werk leidet darunter, die Rezeption entspricht nicht dem Impetus des Originals. Das finde ich schade.

Du bringst in einem weiteren Posting ein klares Beispiel. "Holländer" in der Regie von Dorn. Du schreibst: "Erlösung findet nicht statt!" Tja, in der Musik ist sie aber drin. Wenn die Bühne da nicht mitmacht, dann ist es kein Holländer von Wagner mehr. Ein tatsächlich neues Werk ist es dann. Sehr schön, wunderbar. Meine Gratulation! *g* Nur ohne mich bitte. Ich gehe in eine solche Inszenierung nicht.

Deinen Erinnerungen an große Sänger habe ich mit großer Freude zugelauscht. Du hast sie sehr klar und informativ beschrieben. Richtig sind auch deine Gedanken über den Umgang mit den Stimmen.

Bleiben wir also dran. :-)

Liebe Grüße
Alachandru
Schaut ab und zu mal vorbei
#47 erstellt: 23. Mai 2005, 13:19
Hallo Peet,

nach starken physischen, vor allem aber psychischen Belastungen beginnt sich bei mir wieder so etwas wie Normalität einzustellen und ich freue mich, unseren Disput wieder aufnehmen zu können.
Du hast völlig recht, das Thema Parsifal haben wir durch, die Positionen sind klar und ich denke, jeder von uns beiden kann die Position des anderen akzeptieren und vor allem respektieren.
Ich will und kann heute nicht auf alle Fragen eingehen, die Du in deinem Beitrag von Anfang des Jahres aufgeworfen hast.
Wieland/Wolfgang Wagner wollen wir ebenso aufschieben wie Tristan und Isolde.

Den Aufruf Wagners: Kinder schafft neues und abermals Neues! Hängt ihr euch an das Alte,
so holt euch der Teufel der Unproduktivität und ihr seid die traurigsten Künstler! will ich nicht so eng sehen wie Schumann das tat.
Drama und Partitur sind für mich etwas Unvollständiges. Sie müssen durch den nachschaffenden Künstler erst zum Leben erweckt werden, deshalb möchte ich diesen Satz auch hier angewendet sehen. Regiseur und Dirigent haben da einen Gestaltungsspielraum, der sicherlich begrenzt ist durch die Vorlage - durch Text und Partitur aber dennoch eine eigene Handschrift erlaubt.
Du schreibst, an der Partitur dürfe möglichst wenig geändert werden und doch sind auch hier bei der Realisierung durch verschiedene Dirigenten gravierende Unterschiede hörbar. Ich erinnere nur an den Ring. Dieses Werk ist in einem Zeitraum von rd. 25 Jahren entstanden. Wagner hat sich natürlich in dieser Zeit künstlerisch weiterentwickelt. Furtwängler hat nun in seiner Interpretation versucht, die Instrumentation und den vollen Klang der Götterdämmerung auf die vorhergehenden Werke zu übertragen und die Brüche nicht hörbar zu machen. Erst Boulez hat 1976 in Bayreuth versucht, die Entwicklung von Wagners Kompositionstechnik nachvollziehbar hörbar zu machen und sich auch nicht gescheut (so im dritten Akt Siegfried) Brüche stehen zu lassen. Für mich war das damals ungewöhnlich - gewöhnungsbedürftig und ich habe diese Interpretation erst einmal abgelehnt. Heute empfinde ich Furtwänglers Ring als antiquiert und überholt. - soviel zu musikalischer Werktreue bei Wagner. Es gäbe noch vieles zu sagen, doch ich will mich - dafür wirst Du Verständnis haben - mehr mit der Regie beschäftigen, wobei ich Dir aber völlig recht gebe - szenische und musikalische Interpretation müssen eng aufeinander abgestimmt sein.
Also: Wichtigste Forderung.
Für mich muss eine Interpretation aus dem Werk heraus entwickelt sein!
Und - um dabei wieder auf Dorns Holländer-Interpretation zu kommen: Erlösung findet nicht statt. Doch vollkommen richtig Dein Hinweis: in der Musik ist sie aber drin! Natürlich! Denn Senta hält immer noch an ihrem Erlösungsauftrag fest. Menschen geben doch - auch wenn sie brutal mit der Wirklichkeit konfrontiert werden - ihre Utopien nicht auf. Senta glaubt nach wie vor, den Holländer erlösen zu müssen, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!
Hier sehe ich keine Umdeutung und auch keinen anderen Holländer, die Szene ist für mich auf die heutige Zeit, die nach den geschichtlichen Erfahrungen, die zwischen der Entstehung des Holländer und uns liegt und die folgerichtig nicht mehr an Märchen und heile Welt glaubt, bezogen und konsequent aus dem Werk entwickelt. Dorn stellt das Märchen, so wie es Wagner geschrieben und komponiert hat mit der Erlösung, in einen Rahmen, der Gegenwart heißt.
Ich möchte Dich daran erinnern, diese Doppelbödigkeit haben wir ja schon bei Wagner selbst. Im Tristan (I. Akt) spricht Isolde Brangäne gegenüber von ihrem Hass auf Tristan, das Englischhorn aber spricht eine ganz andere Sprache!
In diesem Zusammenhang fällt mir auch ein Zitat von Wieland, den wir ja beide offensichtlich sehr schätzen, zu Interpretationsfragen der Meistersinger ein. Er sagte nämlich sinngemäß, nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts könne man die Meistersinger nicht mehr in der gewohnten Butzenscheibenromantik inszenieren.
Also auch er ging über die Regieanweisungen Wagners hinaus.

Aber - und das möchte ich betonen! - die Regie darf nicht alles!
Was Katharina Wagner in Würzburg oder Budapest gemacht hat (ich habe allerdings nur darüber gelesen), halte ich für inakzeptabel. Dieser Weg ist für mich nicht zielführend. Das ist eine Sackgasse.
Auch Konwitschny´s Lohengrin in Hamburg werde ich mir nicht antun, obwohl mich seine Tristan-Inszenierung in München durchaus beeindruckt hat. Allerdings ein Experiment, das vor allem hinsichtlich des Finales die Tristaninterpretation - meine ich - nicht weiter bringen wird.
Also auch eine Sackgasse. (Aber über Tristan werden wir uns sicher noch ausführlicher austauschen müssen!).

Zum Schluss heute noch etwas ganz anderes: In Italien versucht man ja seit Jahrzehnten, wieder auf die Originalpartituren zurückzugehen. Dresden hat in dieser Richtung nun auch einen wichtigen Schritt gemacht und Puccinis Turandot ohne den Alfano-Schluss aufgeführt. Ich habe die Aufführung im letzten Herbst gesehen und bin begeistert!
Wenn es Dich (oder jemand anderen) interessiert, können wir uns ja auch darüber `mal austauschen, hier geht es ja auch - wenn auch etwas anders - um Werktreue.

Herzlichen Dank auch für Dein Kompliment zu meinen Anmerkungen Bayreuther Sänger.

Für heute war es das,
herzliche Grüße

Alachandru
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