Musik und Sprache

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Joachim49
Inventar
#1 erstellt: 17. Mrz 2009, 12:13
Albrecht Wellmer, Adorno-Schüler und Nachfahre der einst berühmten Frankfurter Schule, hat einen "Versuch über Musik und Sprache" vorgelegt (Hanser Verlag, Edition Akzente, 320 S, ca 22 euro)). Das Buch wurde in einer Besprechung in der ZEIT sehr gelobt. Es behandelt die Frage, ob Musik sprachähnlich ist, ob Musik etwas 'sagt', 'zum Ausdruck bringt', ob sie einen Inhalt, einen Bezug auf Aussermusikalisches hat.

Keine leichte Kost und nicht für Leser, die eine Abneigung gegen Autoren haben, die zum Philosophieren neigen.
Freundliche Grüsse
Joachim
Kreisler_jun.
Inventar
#2 erstellt: 17. Mrz 2009, 14:26
Wenn ein Philosoph nicht mehr zum Philosophieren neigen darf, sind wir weit gekommen...

Das hört sich jedenfalls sehr interessant an. Matthias Vogel, der vor einigen Jahren Assistent in Frankfurt gewesen ist, hat hier ebenfalls einige bedenkenswerte Überlegungen angestellt ("Medien der Vernunft"), insbesondere aber einen Sammelband mit neueren Texten, die die Frage aus unterschiedlichen Richtungen beleuchten, herausgegeben:

Musikalischer Sinn

(ich kenne das nicht vollständig, aber auszugweise aus einem Seminar und persönlicher Diskussion mit Vogel)

viele Grüße

JK jr.
Joachim49
Inventar
#3 erstellt: 17. Mrz 2009, 16:43

Kreisler_jun. schrieb:
Wenn ein Philosoph nicht mehr zum Philosophieren neigen darf, sind wir weit gekommen...

JK jr.


Nun ja, Melius hatte im Klassikführerthread am 10. März zu Dibelius' Musik nach 1945 das folgende geschrieben:

"Das gilt zwar als der Klassiker, aber empfehlen möchte ich das Buch nicht. Im Vergleich mit anderen, thematisch gleichen Werken ist der Dibelius IMO zu schwammig und musikwissenschaftlich zu wenig verankert (wohl, weil der erste Teil des Buches gleichsam als Zeitdokument entstanden ist). Zudem neigt er zum "Philosophieren"."

Die Warnung war also speziell für Melius gedacht

Freundliche Grüsse
Joachim
Mellus
Stammgast
#4 erstellt: 17. Mrz 2009, 17:29

Joachim49 schrieb:
Die Warnung war also speziell für Melius gedacht


Na, das ist ja richtig fürsorglich! Super Service!

Das "Philosophieren" habe ich in Bezug auf Debilius, äh Dibelius (sorry, der platte Kalauer musste raus!) aber ausdrücklich mit Anführungszeichen versehen. Philosophieren ist völlig OK, "Philosophieren" nicht. (NB: Hattest Du einen anderen Eindruck von seinem Buch?)


Albrecht Wellmer, Adorno-Schüler und Nachfahre der einst berühmten Frankfurter Schule, hat einen "Versuch über Musik und Sprache" vorgelegt (Hanser Verlag, Edition Akzente, 320 S, ca 22 euro)). [...] Es behandelt die Frage, ob Musik sprachähnlich ist, ob Musik etwas 'sagt', 'zum Ausdruck bringt', ob sie einen Inhalt, einen Bezug auf Aussermusikalisches hat.


Auf jeden Fall ist das ein interessantes Thema. Nun sind wir alle gespannt darauf zu erfahren, wie Wellmer die Frage beantwortet. Magst Du uns das nicht sagen?

Viele Grüße,
Mellus

PS: Kreisler, der Link aus Deinem Beitrag funktioniert nicht.
Joachim49
Inventar
#5 erstellt: 17. Mrz 2009, 18:32
Hallo Melius,
Die kleine, nicht ganz ernst gemeinte Provokation habe ich nur geschrieben als Reaktion auf Kreisler. Ich traue Dir schon zu "Philosophie" von Philosophie zu unterscheiden. Obwohl die Frankfurter Schule nicht meine geistige Heimat ist, nehme ich schon an, dass Wellmer Philosophie (ohne Anführungszeichen) bietet. Aber auch dann sollte der Durchschnittsleser wissen, dass er in diesem Buch mit sprachlichen Gebilden konfrontiert wird, deren Sinn sich manchmal erst bei anstrengender, liebevoller Vertiefung erschliesst. Insofern war die Warnung vor dem philosophischen Charakter durchaus ernst gemeint, aber an Dich, lieber Melius, habe ich als möglichen Adressaten dieses Warnhinweises nur im 'ironischen Sprachmodus' gedacht.

Insoweit der Text meinen Verständnishorizont nicht völlig überschreitet werde ich gern von Wellmers Erkundungen weiter berichten. Das wird aber ein bisschen dauern. Vielleicht finden sich hier auf dem Forum auch Mitleser. Den der Gegenwartsmusik besonders aufgeschlossenen Forianern möchte ich noch mitteilen, dass 25% des Textes sich mit John Cage und Helmut Lachenmann auseinandersetzen. Auch dies kann, je nach Geschmack, als Werbung oder Warnung verstanden werden.

Freundliche Grüsse
Joachim


[Beitrag von Joachim49 am 17. Mrz 2009, 18:33 bearbeitet]
Kreisler_jun.
Inventar
#6 erstellt: 17. Mrz 2009, 22:51
Weiß auch nicht, warum die Amazon-Buchlinks nicht funktionieren. War bei Hüb' neulich auch mal so. Such eben nach dem Titel "Musikalischer Sinn". Ich kenne es wie gesagt nur auszugsweise; es sind neuere Texte, viele Übersetzungen aus dem Englischen, größtenteils eher aus der analytischen Tradition, auch wenn man an Adorno hier freilich nicht vorbeikommt. Und die Behandlung ist eher allgemein, nicht fokussiert auf neuere Musik, wie das bei Wellmer ja zu sein scheint.

Sinn und Bedeutung von Musik sind m.E. eine extrem spannendes und ziemlich schwieriges Thema. Die Grundspannung ist etwa folgende:

These 1: Musik besitzt semantischen Gehalt.
These 2: Kunstwerke sind unübersetzbar.

Wie läßt sich semantischer Gehalt, also gerade das, was bei Übersetzungen in unterschiedliche Sprachen oder Medien erhalten bleiben soll, mit der Irreduzibilität und Unübersetzbarkeit eines musikalischen Kunstwerks in Einklang bringen? Könnte man den Gehalt eines Musikstücks in ein paar alltagssprachlichen Sätzen angeben, scheint die Musik trivialisiert zu werden, oder eigentlich überflüssig. Was wären nichtpropositionale Gehalte und würden die überhaupt weiterhelfen...?

Wenn ich irgendwann mal Zeit habe, muß ich mich nochmal damit befassen.

JK jr.
Mellus
Stammgast
#7 erstellt: 18. Mrz 2009, 12:06

Kreisler_jun. schrieb:
Sinn und Bedeutung von Musik sind m.E. eine extrem spannendes und ziemlich schwieriges Thema. Die Grundspannung ist etwa folgende:

These 1: Musik besitzt semantischen Gehalt.
These 2: Kunstwerke sind unübersetzbar.

Wie läßt sich semantischer Gehalt, also gerade das, was bei Übersetzungen in unterschiedliche Sprachen oder Medien erhalten bleiben soll, mit der Irreduzibilität und Unübersetzbarkeit eines musikalischen Kunstwerks in Einklang bringen? Könnte man den Gehalt eines Musikstücks in ein paar alltagssprachlichen Sätzen angeben, scheint die Musik trivialisiert zu werden, oder eigentlich überflüssig. Was wären nichtpropositionale Gehalte und würden die überhaupt weiterhelfen...?


Hallo Kreisler,

vielen Dank für diese pointierte Darstellung der Problemlage! Ich finde die ganz hervorragend. Wenn Du Zeit gefunden hast, Dich weiter mit dem Thema zu beschäftigen, lass und doch an Deinen Gedanken teilhaben. Ich würde mich auch als sidekick oder so beteiligen.

Hallo Joachim,

ebenso wie Kreisler finde ich das Thema, ich sagte es bereits, hochinteressant. Daher würde ich mich freuen, wenn Du gelegentlich über Deine Lektüre berichtest. Die Lachenmann-Werbung macht mich nur noch neugieriger!


Dann möchte ich mich noch ein wenig von meinem Dibelius-Bashing distanzieren. Seine "Musik nach 1945" ist kein schlechtes Buch! Ein Eindruck, der bei mir aber hängen blieb, war, dass der Informationsgehalt einiger Passagen nicht besonders hoch war, bzw. etwas überhöht und unverständlich. Zudem -- und das gibt Dibelius im Vorwort zur zweiten Auflage selbst zu -- stellt sich die Entwicklung der Musik nach 45 aus heutiger Sicht teilweise anders da, als in den entsprechenden Kapiteln geschildert. Er hat halt als "Ohrenzeuge" ohne historische Distanz geschrieben. Das meinte ich damit, dass das Buch ein "Zeitdokument" sei. (Leider kann ich das gerade nicht mit Beispielen aus dem Buch belegen. ) Aus diesen Gründen halte ich das Buch als Klassikführer für das 20. Jh. nicht so gut geeignet, insbesondere da es mittlerweile ja Konkurrenzpublikationen gibt. Und darum ging es ja im anderen Thread.

Viele Grüße,
Mellus
Kreisler_jun.
Inventar
#8 erstellt: 18. Mrz 2009, 12:32

Mellus schrieb:

Kreisler_jun. schrieb:
Sinn und Bedeutung von Musik sind m.E. eine extrem spannendes und ziemlich schwieriges Thema. Die Grundspannung ist etwa folgende:

These 1: Musik besitzt semantischen Gehalt.
These 2: Kunstwerke sind unübersetzbar.

Wie läßt sich semantischer Gehalt, also gerade das, was bei Übersetzungen in unterschiedliche Sprachen oder Medien erhalten bleiben soll, mit der Irreduzibilität und Unübersetzbarkeit eines musikalischen Kunstwerks in Einklang bringen? Könnte man den Gehalt eines Musikstücks in ein paar alltagssprachlichen Sätzen angeben, scheint die Musik trivialisiert zu werden, oder eigentlich überflüssig. Was wären nichtpropositionale Gehalte und würden die überhaupt weiterhelfen...?


vielen Dank für diese pointierte Darstellung der Problemlage! Ich finde die ganz hervorragend. Wenn Du Zeit gefunden hast, Dich weiter mit dem Thema zu beschäftigen, lass und doch an Deinen Gedanken teilhaben. Ich würde mich auch als sidekick oder so beteiligen.


Zuviel der Ehre; ich hatte vor knapp drei Jahren das Vergnügen bei Matthias Vogel ein Seminar zu diesem Thema zu besuchen, daher kenne ich auch einiges Material aus dem damals noch in der Vorbereitung befindlichen Sammelband. Da mich das zwar sehr interessiert, aber leider recht weit von meinen eigentlichen Arbeitsgebieten entfernt ist, werde ich auch nicht viel tiefer eindringen können und z.Zt. habe ich einfach nicht die Muße, z.B. den Sammelband zu lesen.

Aber ich füge noch mal ein paar ins Unreine gedachte Überlegungen an, die indirekt hierfür von Bedeutung sein könnten. Ich habe das 2004 in einem anderen Diskussionsforum geschrieben; damals ging es um den Status eines nicht erklingenden Musikwerks. Interessanterweise stellte ich dann zwei Jahre später fest, daß Vogel beinahe dieselbe Konzeption von Musik (nur natürlich viel besser und allgemeiner ausgearbeitet) vertritt. Das bringt uns beim obigen Dilemma noch nicht sehr weit, aber vielleicht ist es nicht uninteressant. Es läuft dann auch bei Vogel, wenn ich recht erinnere, auf einen sehr weiten pragmatisch fundierten Begriff von Gehalt hinaus, den Musik haben kann.
(Während ich das bei Musik plausibel finde, muß ich gestehen, daß ich bei sprachlichen Gehalten i.e.S. davon eher weniger überzeugt bin...)

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IMO steht (historisch und auch systematisch) am Beginn eine *Praxis des Musizierens* (genauso wie Sprechen vor Schreiben, expliziten Grammatikregeln etc. kommt). Auf dieser Ebene ist noch gar nicht zwischen Komponist, Interpret, Komposition und Improvisation zu
unterschein, notierte Musik gibt es ohnehin nicht. Als nächstes gibt es irgendwelche Muster, die wie auch immer entstanden sind (sehr wahrscheinlich kollektiv, nicht durch gezielte Planung eines Einzelnen), die als Praxis tradiert werden. Über diese Muster (Melodien, Schemata,
Ragas, was weiß ich) wird dann vermutlich improvisiert, hier kommt also eine Unterscheidung zwischen fixer Kernstruktur und improvisierter Umsetzung/Ausgestaltung dieser Struktur hinzu. Ob die Kernstrukturen
irgendwann dann auch notiert werden, ist IMO zweitrangig: allein für sich sind sie klarerweise nicht das, was musiziert wird, sondern es muss immer noch etwas vom improvisierenden Interpreten hinzukommen.
(Ich habe keine Ahnung von nichtabendländischer Musik, aber AFAIK ist diese größtenteils in diesem Stadium geblieben.)

Die für unsere Fragestellung entscheidende Entwicklung ist vermutlich nun die Entwicklung einerseits einer ziemlich präzisen Notation, gemeinsam mit einer Musik hoher Komplexität, die Notation notwendig macht, allein da man sich nicht mehr alles merken kann. Damit entsteht
auch (zumindest im Ansatz) die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Musizieren, das "nur" Aufgeschriebenes umsetzt und Improvisation.

Erst jetzt wird es IMO möglich zu komponieren, ohne gleichzeitig tatsächlich zu musizieren (wobei vermutlich sowohl von Epoche als auch vom jeweiligen Musiker abhängig ist, ob komplett im Kopf bzw. auf dem Papier oder doch meist am Instrument komponiert wird. Und natürlich kann man nun auch eine aufgeschriebene Komposition nur lesen, ohne sie gleichzeitig zu musizieren.

Daher scheint mir tatsächlich bis zu einem gewissen Grade plausibel, dass nicht obwohl, sondern *weil* abgeschlossene aufgeschriebene Werke wie in obiger Skizze abgeleitet von einer Musizierpraxis (bei der natürlich immer etwas klingt) verstanden werden müssen, diese auch Musik
sind. Und in aller Regel sind ja auch aktual nicht erklingende Werke irgendwann einmal erklungen, zum Erklingen gedacht und auch umsetzbar.
Selbst in dem Extremfall des Niemals-Erklingens könnte man aufgrund der systematischen Abhängigkeit sagen, dass sie während des Komponierens und Aufschreibens in gewisser Weise "intern" musiziert werden, so wie
man ja auch im Kopf rechnen kann und Lesen ohne die Worte auszusprechen (letzteres auch erst seit dem späten MA verbreitet! Special thanks to G. Ryle, der mich auf die Analogie gebracht hat :-)).

Insofern stimme ich Dir also zu, dass Nichterklingendes Musik ist (den Unterschied zwischen Komposition in Deinem weiten Sinne und im engeren Sinne zur Unterscheidnung von Improvisation würde ich dennoch gerne aufrecht erhalten, aber das ist wieder ein bißchen was anderes).

Ein gewichtiger Einwand bleibt IMO allerdings noch: die (verglichen etwa mit dem Lesen und Rechnen) der Musik doch wesentliche "phänomenale Qualität" des tatsächlichen physischen Klangs. Diesbezüglich ist das Nichterklingende (fast trivialerweise) defizitär gegenüber dem
Erklingenden und somit kommt es bei der endgültigen Entscheidung, ob es nun Musik (oder nur virtuelle/potentielle oder was immer) ist natürlich
darauf an, wie stark man diesen Aspekt gewichtet.
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JK jr.
Joachim49
Inventar
#9 erstellt: 18. Mrz 2009, 19:58

Kreisler_jun. schrieb:

These 1: Musik besitzt semantischen Gehalt.
These 2: Kunstwerke sind unübersetzbar.

Wie läßt sich semantischer Gehalt, also gerade das, was bei Übersetzungen in unterschiedliche Sprachen oder Medien erhalten bleiben soll, mit der Irreduzibilität und Unübersetzbarkeit eines musikalischen Kunstwerks in Einklang bringen? Könnte man den Gehalt eines Musikstücks in ein paar alltagssprachlichen Sätzen angeben, scheint die Musik trivialisiert zu werden, oder eigentlich überflüssig. Was wären nichtpropositionale Gehalte und würden die überhaupt weiterhelfen...?



Ich glaube, dass es unbestreitbar ist, dass ein Musikstück in Kreislers Sinn 'unübersetzbar' ist. Kann es trotzdem einen semantischen Gehalt haben?
Propositional wäre der Gehalt wohl kaum. Sonst könnte eine musikalische Phrase im selben Sinne wahr oder unwahr sein, wie ein Satz (oder ein Gedanke).
Kann Musik einen nicht-propositionalen Gehalt haben? Was wären nicht propositionale Gehalte?

Hier ein Versuch. Musik hat gewiss manchmal einen 'Weltbezug'. Nehmen wir etwa das Agnus Dei aus der Missa Solemnis Beethovens. Es gibt da diese ungeheure Stelle in der die Bitte um Frieden unterbrochen wird durch Trommelwirbel und Trompetensignale. Niemand wird sinnvoll bestreiten können, dass diese Stelle einen Weltbezug hat - sie verweist auf die Realität des Krieges, sie evoziert ihn. Geschieht dies auf propositionale Weise? Wird hier gesagt, im Jahre so und so finder hier oder da ein Krieg zwischen dieser oder jener Partei statt? Gewiss nicht. Aber wie wird der Bezug hertgestellt? Mir scheint - in diesem Fall (und in ähnlichen) - durch eine ikonische Beziehung (ein "Ikon" imitiert einen Aspekt der Wirklichkeit, so wie etwa auf einem Verkehrsschild wellenförmige 'Striche' vor einem Kanal oder Fluss warnen können. Wenn ich mich gut erinnere hat Peirce den Begriff Ikon zo verwendet (nebenbei: Veronika heisst 'wahres Ikon' weil auf ihrem Schweisstuch ein echtes Abbild Jesu war). Mir scheint es nicht zweifelhaft zu sein, dass Musikstücke manchmal (gewiss nicht immer oder in der Regel) durch eine ikonische Darstellung einen Weltbezug haben.
Beispiele wären etwa die Vogelrufe und die Gewitterszene in der Pastorale, die 'Kanonendonner' in 'Wellingtons Sieg', das Windgeheul in der Holländerouvertüre oder in Mendelssohns 'Hebriden' und vieles mehr. Gut, dies sind primitive Beispiele in denen das imitatorische sehr stark dominiert.
Gibt es in der Musik Schuberts nicht auch dies Ikonische Moment, sehr oft natürlich in Beziehung auf Wasser (die Bächlein, die rauschen oder das Wogen der Wellen in 'Auf dem Wasser zu singen'.(natürlich hat das meist auch eine metaphorische Bedeutung) Hat nicht die 'Moldau' Smetanas auch diesen ikonischen Weltbezug, vom leisen Plätschern zum massiven, breiten Strom. Oder Strawinskis 'Jeu de Cartes'?
Es ist schwierig zu sagen, wie weit dieser ikonische Weltbezug geht. Sengende, drückende Hitze, Kälte, Erfrischung, Erstarrung - man kann sie musikalisch evozieren. Und wie ist es mit den Gefühlen? Trauer, Freude, Langeweile .....Oft ist hier das ikonische durch einen Körperbezug vermittelt (die berühmten 'Seufzermotive', das springlebendige der Freude ('Das Wiedersehen' in op 81a, etc.)
Nun will ich damit keineswegs sagen, dass alle Musik in diesem Sinne Darstellung ist - in jeglicher Musik eine Art Programmmusik zu sehen, das liegt mir unendlich fern.
Denn neben diesen kryptosemantischen Bezügen gibt es natürlich auch die musikalische Syntax. Und die scheint mit weitaus wichtiger zu sein. Es gibt die 'tönend bewegte Form', das Spiel von Identität und Differenz, für das Kategorien wie Wiederholung und Variation konstitutiv sind.
Da diese Syntax (Hanslicks 'tönend bewegte Form') der Musik wesentlich ist, bedarf es ikonischer Weltbezüge nicht. Dennoch können (nicht müssen) solche 'Weltbezüge' das Material, der Rohstoff sein, mit dem der Komponist sein Spiel treibt.
So weit zunächstmal, vorläufig
Freundliche Grüsse
Joachim
AladdinWunderlampe
Stammgast
#10 erstellt: 23. Mrz 2009, 06:56
Hallo "philosophierende" Musikfreunde,

die Frage nach dem Sprachcharakter von Musik ist in der Tat überaus spannend und hat Komponisten und Theoretiker seit Ewigkeiten beschäftigt. Zum ernsthaften Problem wurde aber sie erst dann, als der Bezug von Musik und Sprache nicht mehr selbstverständlich war - also mit der Emanzipation der Instrumentalmusik im Laufe 18. Jahrhunderts und im Kontext der Idee einer "absoluten Musik". hier entstand der Topos der Musik als einer Sprache, die über der wortgebundenen Sprache stehe, der seine Wirkungsmacht bis weit in die Gegenwart nicht verloren hat.

Bevor sich die Diskussion hier allzu schnell auf die Frage der Semantik einschießt, habe ich daher mal auf die Schnelle meinen Bücherschrank durchforstet und ein paar einschlägige Zitate aus zwei Jahrhunderten zusammengeklaubt, die einige teils durchaus vergnügliche Anregungen geben mögen, unter welchen Aspekten man das Problem von Musik und Sprache auch noch betrachten kann (und nebenbei auch einige latente und vielleicht frappierende Denktraditionen offenlegen): Musik/Sprache und Logik, Musik/Sprache und Syntax, Musik/Sprache und Metaphysik usw.

„Wer aber Sinn für die wunderbaren Affinitäten aller Künste und Wissenschaften hat, wird die Sache wenigstens nicht unter dem Gesichtspunkt der platten Natürlichkeit sehen, nach welcher die Musik nur eine Sprache der Empfindung sein soll, und eine gewisse Tendenz aller Instrumentalmusik zur Philosophie an sich nicht unmöglich finden. Muß die reine Instrumentalmusik sich nicht selbst einen Text erschaffen? Und wird das Thema in ihr nicht so entwickelt, bestätigt, variiert und kontrastiert wie der Gegenstand der Meditation in einer philosophischen Ideenreihe?“ [Friedrich Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd 2, Hg. Hans Eichner, München 1967, S. 254]

„[...] der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste Wahrheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht; wie eine magnetische Somnambule Aufschlüsse gibt über Dinge, über die sie keinen Begriff hat.“ [Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Leipzig, S. 343]

„Das Unaussprechliche sagt man in der freien Form. In der nähert es sich der Natur, die auch unfaßbar und trotzdem wirksam ist.“ [Arnold Schönberg: Berliner Tagebuch: Mit einer Hommage à Schönberg vom Herausgeber Josef Rufer, Hg. Josef Rufer, Berlin o. J. [1974], S. 11.]

„Musik ist sprachähnlich. Ausdrücke wie musikalisches Idiom, musikalischer Tonfall, sind keine Metaphern. Aber Musik ist nicht Sprache. Ihre Sprachähnlichkeit weist den Weg ins Innere, doch auch ins Vage. Wer Musik wörtlich als Sprache nimmt, den führt sie irre.
Sprachähnlich ist sie als zeitliche Folge artikulierter Laute, die mehr sind als bloß Laut. […] Die Folge der Laute ist der Logik verwandt: es gibt Richtig und Falsch. Aber das Gesagte lässt von der Musik nicht sich ablösen. Sie bildet kein System aus Zeichen.
[…] Nicht nur als organisierter Zusammenhang von Lauten ist die Musik analog zur Rede, sprachähnlich, sondern in der Weise ihres konkreten Gefüges. Die traditionelle musikalische Formenlehre weiß von Satz, Halbsatz, Periode, Interpunktion; Frage, Ausruf, Parenthese; Nebensätze finden sich überall, Stimmen heben und senken sich, und in all dem ist der Gestus von Musik der Stimme entlehnt, die redet. […]
Man pflegt das Unterscheidende darin zu suchen, daß Musik den Begriff nicht kenne. Aber manches in ihr kommt den ‚primitiven Begriffen’ recht nahe, von denen die Erkenntnistheorie handelt. Sie benutzt wiederkehrende Sigel. Geprägt wurden sie von der Tonalität. Wenn nicht Begriffe, so zeitigte diese doch Vokabeln: vorab die stets wieder mit identischer Funktion einzusetzenden Akkorde, auch eingeschliffene Verbindungen wie die der Kadenzstufen, vielfach selbst melodische Floskeln […]. Solche allgemeinen Sigel vermochten je in den besonderen Zusammenhang einzugehen. Sie boten Raum für die musikalische Spezifikation wie der Begriff für das Einzelne und wurden zugleich, sprachähnlich, von ihrer Abstraktheit geheilt kraft des Zusammenhangs. Nur lag die Identität dieser musikalischen Begriffe in ihrer eigenen Beschaffenheit, nicht in einem von ihnen Bezeichneten. […]
Musik zielt auf eine intentionslose Sprache. Aber sie scheidet sich nicht bündig von der meinenden wie ein Reich vom anderen. […] Musik ohne alles Meinen, der bloße phänomenologische Zusammenhang der Klänge, gliche akustisch dem Kaleidoskop. Als absolutes Meinen dagegen hörte sie auf, Musik zu sein, ginge falsch in Sprache über. Intentionen sind ihr wesentlich, aber nur als intermittierende. Sie verweist auf die wahre Sprache als auf eine, in der der Gehalt selbst offenbar wird, aber um den Preis der Eindeutigkeit, die überging an die meinenden Sprachen. […] Musikalisch sein heißt, die aufblitzenden Intentionen zu innervieren, ohne an sie sich zu verlieren, sondern sie zu bändigen. So bildet sich Musik als Struktur. […]
Der musikalische Inhalt aber ist in Wahrheit die Fülle all dessen, was der musikalischen Grammatik und Syntax unterliegt. Jedes musikalische Phänomen weist kraft dessen, woran es gemahnt, wovon es sich absetzt, wodurch es Erwartung weckt, über sich hinaus. Der Inbegriff solcher Transzendenz des musikalisch Einzelnen ist der ‚Inhalt’: was in Musik geschieht. […] Sinnvoll heißt Musik, je vollkommener sie derart sich bestimmt – nicht schon, wenn ihre Einzelmomente symbolisch etwas ausdrücken. Ihre Sprachähnlichkeit erfüllt sich, indem sie von der Sprache sich entfernt.“ [Theodor W. Adorno: Fragment über Musik und Sprache, in: Musikalische Schriften I-III (= Gesammelte Schriften 16), Hg. Rolf Tiedemann, Darmstadt 1998, S. 251-256]


„Musikalische Bedeutung, die musikalische Kontexte in einigen Zügen als Sprach-analog erscheinen läßt, ist grundsätzlich anders geartet als sprachliche Bedeutung: musikalische Bedeutung bezieht sich nicht direkt auf Begriffliches und hat folglich bloß ein ‚als-ob’-Substrat des Semantischen. Musik simuliert Bedeutungen, die aber in nichts entgleiten, sobald man sie in einen eindeutigen semantischen Boden einzunageln versucht. Musikalische Momente erhalten Bedeutung nur, indem sie auf andere musikalische Momente hinweisen: nicht die Bedeutungen selbst, sondern nur noch Bedeutungsverlagerungen sind erfaßbar. Noch enger begrenzt wird der Sprach-analoge Aspekt von Musik durch den Umstand, daß die musikalische Syntax wesentlich lockerer und ephemerer als diejenige der Sprache ist: obwohl es teilweise berechtigt ist, Musik als syntaktisches System aufzufassen, ist dieses System doch von Lücken und internen Inkonsequenzen durchzogen; und darüber hinaus ist es keineswegs geschlossen, sondern ist, vornehmlich in der Richtung der Geschichte, offen für jede Umgestaltung.“ (György Ligeti: Form, in: Form in der Neuen Musik, Hg. Ernst Thomas, Mainz 1966, S. 26).

„Was also ist die Musik? […] eine sprachliche Qualität. Für diese sprachliche Qualität sind jedoch in keiner Weise die Wissenschaften von der Sprache (Poetik, Rhetorik, Semiologie) zuständig, da das in der Sprache zur Qualität Erhobene das Nichtgesagte, Nichtartikulierte ist. Im Unausgesprochenen setzt sich die Lust fest, die Zärtlichkeit, die Feinfühligkeit, die Erfüllung, sämtliche Werte der feinfühligsten Phantasie. Die Musik ist zugleich das Ausgedrückte und das Implizite des Textes: was zwar ausgesprochen (den Modulationen unterworfen), aber nicht artikuliert wird: was zugleich außerhalb des Sinns und des Unsinns liegt, mitten in dieser Signifikanz, die die Texttheorie heute zu postulieren und zu orten versucht. Die Musik ist, genauso wenig wie die Signifikanz, eine Metasprache, sondern nur ein Diskurs des Wertes, des Lobes: ein Diskurs der Liebe: Jede ‚gelungene’ Beziehung – gelungen, insofern sie imstande ist, das Implizite zu sagen, ohne es zu artikulieren, über die Artikulation hinauszugehen, ohne in die Zensur des Begehrens oder die Sublimierung des Unsagbaren zu verfallen – eine solche Beziehung läßt sich mit Recht als musikalisch bezeichnen. Vielleicht liegt der Wert einer Sache nur in ihrem metaphorischem Vermögen; vielleicht liegt der Wert der Musik darin: eine gute Metapher zu sein.“ [Roland Barthes: Die Musik, die Stimme, die Sprache, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt am Main 1990, S. 285.]

„Musik ist keine Sprache. Mit seinen komplexen Formen, Furchen und eingravierten Mustern auf der Oberfläche und im Innern gleicht jedes Musikstück einem Felsblock, den Menschen auf unzählige Arten entziffern können, ohne je die richtige oder beste Antwort zu finden. Kraft dieser vielfältigen Auslegung evoziert Musik vergleichbar einem katalysierenden Kristall alle möglichen Phantasmagorien.“ [Iannis Xenakis: Programmheftbeitrag La légende d’Er (première version). geste de lumière et de son du Diatope au Centre Georges Pompidou, in: Programmheft Le diatope. geste de lumière et de son, Hg. Centre Georges Pompidou, Paris 1978, S. 5.]


Abschließend noch einige ungeordnete Gedanken zu Kreislers Argument der "Unübersetzbarkeit" der Musik: dieses Problem teilt die Musik - wie Kreisler, da er in diesem Zusammenhang stets allgemein von "Kunstwerk" spricht, offenbar weiß - im Grunde genommen mit jeglicher Kunst, also auch mit der Literatur, bei der im Falle der sprachlichen "Übersetzung" anders als bei der Musik oder der bildenden Kunst kein medialer Wechsel stattfände. Ist der ins Deutsche übersetzte Ulysses noch der Ulysses und der ins Isländische übersetzte Zauberlehrling noch der Zauberlehrling? Was bleibt von einem Trakl-Gedicht, einem Haiku oder einem Limmerick in polnischer oder französischer oder koreanischer Übersetzung? Und wird bei einer solchen Übersetzung nur die sprachliche Form oder mit ihr auch der semantische Inhalt - von dem erst noch geklärt werden müsste, ob er sich in ein paar alltagssprachlichen Sätzen angeben ließe - verändert?

Man kann sich aber auch fragen, ob derartige Übersetzungen nicht gerade zu semantischen Anreicherungen des ästhetischen Objekts führen und ob die Produktion von kulturellem Sinn nicht stets an vielfältige Transkriptionsprozesse gebunden ist, bei denen Lesbarmachung zugleich Neu- und Umschreibung impliziert.

In diesem Forum reden wir nahezu ausschließlich über Musik. Und wir reden nicht nur, sondern wir tauschen uns aus, wir verständigen uns. Täten wir das in dieser Intensität, wenn wir nicht den Eindruck hätten, dass wir damit nicht nur unser kognitives Wissen über Musik oder unsere Kenntnisse über CD-Neuerscheinungen, sondern auch unser Erfahren und Verstehen von Musik vertiefen und bereicherten? Wie aber kann so etwas möglich sein, wenn wir mit der Sprache stets gleichsam nur an der Oberfläche der Musik kratzen?

Ich kann für mich jedenfalls durchaus behaupten, das die Musikbeschreibungen bei E. T. A. Hoffmann, Jean Paul, in Thomas Manns "Doktor Faustus", Hanns Henny Jahnns "Fluss ohne Ufer", Theodor W. Adornos Mahler-Monographie, Stefan Kunzes Mozart-Analysen, Peter Gülkes Schubert-Monographie - und eben auch in manchen Postings dieses Forums - mein hören und Verstehen von Musik durchaus verändert haben, weil sie Musik für mich auf andere und vertiefte Art lesbar gemacht haben.


Vielleicht entsteht musikalischer Sinn also nur in einer Art Oszillation (also nicht einer einseitigen und einsinnigen Übersetzung) zwischen der Musik und anderen Medien. Auch bei absoluter Musik ist unsere Rezeption vielfältig geprägt von kulturell vermittelten außermusikalischen Vorstellungen, die uns teilweise gar zu einer Art zweiten Natur geworden sein mögen: ob wir nun beim Hören eines Streichquartetts an die Goethesche Metapher eines "vernünftigen Gesprächs" denken oder in einem Concerto grosso einen "Dialog" zwischen den ersten und zweiten Geigen verfolgen, ob wir ein Sonatenallegro als "dramatisch" oder eine Cellokantilene als "lyrisch" empfinden, ob wir "helle" oder "dunkle", "hohe" oder "tiefe", "rauhe", "zarte" oder "festliche" Klänge, einen "schüchternen" Oboen-Einsatz oder ein "triumphales" Paukensolo wahrnehmen - immer überschreiten wir dabei den Bereich einer rein musikalischen Verständnisweise, ohne dass wir der betreffenden Musik damit gleich ein Programm unterschieben. All diese Metaphern lassen sich schwerlich rein deduktiv herleiten; doch sind sie offenbar auch nicht beliebig ausstauschbar. Würden wir versuchsweise als Sprachkonvention etablieren wollen, dass Kontrabässe "hell" und Violinen "dunkel" klingen,würde die musikalische Welt nicht nur im Rheingold-Vorspiel kopfstehen...

Unser musikalisches Erleben franst ständig mit einer solchen Selbstverständlichkeit in andere mediale Ebenen aus, dass es schwerfällt, diese Ebenen kurzerhand als "außermusikalisch" zu klassifizieren. Und was würde an musikalischem Sinn übrigbleiben, wenn man diese - nicht zuletzt sprachlich vermittelten - Ebenen aus dem originären Bereich der Musik aussschlösse?

Genug der Fragen. Ich muss ins Bett.


Mit herzlichen Grüßen
Aladdin
Joachim49
Inventar
#11 erstellt: 24. Mrz 2009, 13:32
Hallo Aladdin,
schön mal wieder längeres von Dir zu lesen. Und jetzt haben wir Dir gleich auch noch die Nachtruhe geraubt. Vielen Dank für die anregenden nächtlichen Aufzeichnungen. Im Moment habe ich wenig Zeit zu reagieren - und das Thema ist zu diffizil, um aus dem 'Handgelenk raus' etwas zu schreiben.
Freundliche Grüsse
Joachim
Klassikkonsument
Inventar
#12 erstellt: 24. Mrz 2009, 17:12
Hallo Aladdin und überhaupt alle am über Musik Philosophieren Interessierte,

besonders Elaboriertes kriege ich zu dem Thema zwar nicht hin. Aber ein Aspekt ist mir wichtig:
Bei "schwammigen" Charakterisierungen von Musik bin ich immer zwiegespalten; ich denke da etwa an E.T.A. Hoffmann oder auch Adorno, die ja durchaus vom Fach waren und auch selbst komponiert haben.
Ihre enthusiastischen Beschreibungen scheinen oft "abzuheben"; es ist nicht immer klar, worauf in der besprochenen Musik genau sie sich beziehen, woran sie sich festmachen lassen. Womöglich sind es Pauschalisierungen, die stark in Richtung Klischee tendieren.
Andererseits befriedigt mich eine bloß nüchterne Beschreibung von Musik auch nicht, die nur mit Fachtermini bestimmt, was in ihr vorgeht.
So kommt man kaum auf einen bestimmten Charakter der Musik, denn man nicht feststellen kann wie ein naturwissenschaftliches Resultat, auf den sich vielleicht nie alle Menschen ganz einigen können.
Aber die terminologisch abgesicherte Analyse scheint mir nur die Mittel zu benennen, mit denen die Musik etwas ausdrückt, wenn schon nicht direkt aussagt.

Viele Grüße
Mellus
Stammgast
#13 erstellt: 31. Mrz 2009, 22:16
Hallo Musiksemantiker,

zu diesem Thread wollte ich ja noch ein wenig von meinem Senf beigeben. Ich knüpfe an Joachims Ikonozitäts-Beitrag an, da ich da unkompliziert weiterspinnen (weiter spinnen?) kann.

Dort wurde der Vorschlag gemacht, einen nicht auf wahre Prädikation beruhenden Ansatz zum Weltbezug mancher (Teile von) Musik auf einer ikonischen Relation, d.i. auf eine Ähnlichkeitsbeziehung zu gründen. Nun ist "Ähnlichkeit" ein sehr schwacher, unpräziser Begriff. So blieb es nicht aus, dass er und mit ihm ikonische Bezugnahme heftiger Kritik ausgesetzt wurde. Gegen die bezugsstifetende Kraft der Ähnlichkeitsbeziehung gibt es drei schlagkräftige Argumente, die ich kurz nennen möchte.

1. Bezug und Ähnlichkeit haben unterschiedliche relationale Eigenschaften. Die Ähnlichkeitsrelation und die Bezugsrelation haben unterschiedliche logische Eigenschaften. Wenn ein A einem B ähnlich ist, dann ist auch das B dem A in demselben Ausmaß ähnlich. Ähnlichkeit ist eine symmetrische Relation. Das gilt nicht für Bezug. Wenn sich ein A auf ein B bezieht, dann bezieht sich in der Regel B nicht auf A. Ebenso bezieht sich ein A normalerweise nicht auf sich selbst. Ähnlichkeit ist aber reflexiv: jedes A ist maximal ähnlich zu sich selbst, nämlich identisch. Wenn ein A einem B ähnlich ist und das B einem C, dann ist es nicht unplausibel, dass das A auch dem C ähnelt. Das Argument ist nicht zwingend (warum das so ist, wird in 2. deutlich), wir wollen es aber der Einfachheit halber einmal annehmen und die Ähnlichkeitsrelation als transitiv ansehen. Die Bezugsrelation ist sicher nicht transitiv; wenn sich A auf B bezieht und B auf C trifft das keine Aussage über den Bezugszusammenhang zwischen A und C. Wir sehen also, dass Ähnlichkeit eine Äquivalenzrelation ist (reflexiv, symmetrisch, transitiv). Für Bezug gilt das nicht. Aufgrund der logischen Unterschiede zwischen beiden Relationen ist es mehr als fraglich, wie die eine aus der anderen hergeleitet werden kann.

2. Die Ähnlichkeitsbeziehung ist beliebig, Bezug aber nicht. Die Ähnlichkeitsbeziehung setzt nicht einfach zwei Gegenstände in toto in Relation, sondern bezieht sie über ein Drittes, ein tertium compartionis (C.S. Peirce nennt es den iconic ground), aufeinander. Ein Beispiel von Joachim: eine musikalische Gewitterimitation ähnelt einem wirklichen Gewitter in klanglichen, aber nicht in hydrostatischen Eigenschaften (wir wollen es den Musikern wenigstens wünschen!). Das Problem ist nun, dass der iconic ground beliebig allgemein sein kann; wir können die Dinge in der Welt nach maximal groben Vergleichseigenschaften betrachten, zum Beispiel nach "Ding-in-der-Welt". Das Ergebnis dieser Regression ist, dass Alles Jedem in irgendeiner Hinsicht ähnelt. Ist die Ähnlichkeitsrelation Träger der Bezugsbeziehung, dann bezieht sich alles auf alles (diese "pan-semiotische" Sicht hätte Peirce vermutlich gefallen). Für den Weltbezug hätten wir aber gerne einen schärfer unterscheidenden, ja überhaupt unterscheidenden Begriff.

3. Konventioneller Anteil an ikonischer Bezugnahme. Ist es vorstellbar, dass jemand eine Gewitterimitation mit einem wirklichen Donnerschlag verwechselt? Wie ähnlich ist überhaupt ähnlich? Ein wirklicher Donnerklang entsteht durch eine Druckwelle, die sich mit Überschallgeschwindigkeit ausbreitet. Das hat bei näherer Betrachtung doch recht wenig mit einer manuell auf einem Instrument erzeugten Schallwelle zu tun. Die Ähnlichkeit, die wir zwischen beiden Ereignissen hören wollen, kann also nicht allein in einer tatsächlich Ähnlichkeit (auch nicht in Bezug zu einem Dritten) begründet sein. Je genauer wir hinschauen, desto mehr schwindet die Ähnlichkeit zwischen den angeblich ikonisch aufeinander bezogenen Dingen. Es muss also noch etwas anderes hinzukommen. Und dieses "Andere" ist eine (kulturelle) Konvention: wir haben Erfahrung mit Musik, wir wissen, wie die musikalischen Erzeugnisse unserer Kultur funktionieren. Wir wissen, dass Musik als klingendes Zeichensystem gehört werden kann und suchen diesem Wissen entsprechend Bezugsgegenstände. Nicht selten wird explizit ein konventionelles Zeichensystem, nämlich Sprache, eingesetzt, um den Bezug herzustellen, zum Beispiel ein Programm, das eine Gewitterszene beschreibt.

Alles zusammengenommen ist es doch sehr unplausibel Ähnlichkeit als bezugsstiftende Relation anzunehmen, also Ikonizität als denotativ oder referentiell wirksam aufzufassen. Aber wenn wir uns 2. und 3. noch einmal ansehen, kann man auf eine geschicktere Idee kommen. Nach 2. sind sog. ikonische Zeichen denotativ maximal vage. Die oben genannte Gewitterimitation hat ja auch Ähnlichkeit mit einem in einen Tunnel fahrenden Zug, einem Mit-der-Faust-auf-den-Tisch-schlagen, dem Lärm einer Baustelle, einem platzenden Luftballon, etc. pp. oder "metaphorische Ähnlichkeit" (das wäre eigentlich gesondert zu untersuchen) mit aufbrausenden, wütenden emotionalen Zuständen und was auch immer sich die Fantasie noch vorzustellen vermag. Der denotative Umfang kann aber dadurch eingeschränkt werden, dass ikonischen Zeichen symbolische Zeichen an die Seite gestellt werden. Die entscheidende Beobachtung ist dann, dass der Weltbezug durch die symbolischen Zeichen hergestellt wird (wie das funktioniert ist vergleichsweise gut verstanden, "Konvention" soll als grobes Stichwort genügen), in der Musik zum Beispiel durch ein Programm, das eine Gewitterszene oder eine Baustellenszene vorschreibt. Im Lichte des auf diese Weise sprachlich gegebenen Referenzobjektes kann dann das ikonische Zeichen als Gewitter oder als Maschinenlärm interpretiert werden. Das symbolische Zeichensystem nimmt das ikonische gleichsam huckepack und eine Ähnlichkeit zwischen ikonischem Zeichen und symbolisch eingeführtem Bezugsgegenstand kann dann nachträglich entdeckt werden. Anstatt als primäre erscheint uns Ähnlichkeit nun als sekundäre Relation. Sie sichert nicht den Weltbezug (was die primäre Funktion wäre), sondern kann aus einem gegebenen Bezug (sekundär) abgeleitet werden.

Kann Musik nur mittels eines untergelegten Programms Beudeutung haben? Was, und das wird Joachim gefallen, wenn das Programm vorsieht, über den gegenwärtigen König von Frankreich oder über ein Einhorn zu handeln? Was, wenn das Programm einfach durch ein anderes (synonymes? konträres?) ausgetauscht wird? All das schafft große Probleme für den unmittelbaren Weltbezug von Musik. Vielleicht stimmt etwas mit der unmittelbaren Bezugnahme nicht? Auch ohne Programm (= Bezug) kann man musikalische Ereignisse durchaus sinnfällig, wenn auch nicht denotativ wahrnehmen. Ein ganz simples Beispiel: eine aufsteigende Tonfolge ist eben das: aufsteigend; eine fallende ist fallend. Worauf auch immer die Tonfolgen Bezug nehmen (Sonnenaufgang/-untergang? Aufhorchen/Zusammensinken?...), wir können auf jeden Fall die Prädikate "steigend" bzw. "fallend" auf sie anwenden. Die Richtung der Bezugnahme kehrt sich hier geradezu um: nicht das (ikonische) Musikstück bezieht sich auf etwas Außermusikalisches, sondern das Musikstück ist dasjenige, worauf sich sprachliche Prädikate beziehen. Schöngeistig zugespitzt: Nicht die Musik nimmt Bezug auf die Welt -- Musik ist die Welt, auf die Bezug genommen wird. (Vielleicht kann der Klasikkonsument hier auch seine Unterscheidung zwischen "ausdrücken" und "aussagen" wiederfinden.) Diesem Gedankengang folgend, kann vielleicht die Verbindung von Musik und Sprache genauer bestimmt werden. Die Schnittstelle zwischen beiden, der Kontaktpunkt, der beide nicht-arbiträr aufeinander bezieht, wäre dann dieser unheimliche Bereich, der "sprachliche Bedeutung" (von Frege, terminologische Verwirrung, "Sinn") genannt wird.

Nach dieser Auffassung ergeben sich dann eine Reihe weiterer interessanter Fragen, zum Beispiel: Ist die Interpretation eines Musikstückes das kohärente Zusammenbringen all derjenigen Prädikate, die auf das Musikstück zutreffen? Ändert sich die Interpretation eines Musikstückes mit dem Bedeutungswandel, dem natürliche Sprache unterworfen ist? Gibt es, um Aladdins reizvolle Oszillationsidee aufzugreifen, einen (vielleicht multimedialen) "heuristischen Zirkel" in der Interpretation eines Musikstücks oder sind alle zutreffenden Prädikate zugleich und unabänderlich präsent? Lassen sich verschiedene Rezeptionsweisen oder Detailstufen der Anylyse durch das Vokabular erklären, das auf das Musikstück angewendet wird (z.B. musikwissenschaftliche Analyse vs. metaphorische Eindrucksbeschreibung)? ...

Viele Grüße,
Mellus

Beeinflusst von: Nelson Goodman, Umberto Eco, Arthur Burks, Gottlob Frege.
Mellus
Stammgast
#14 erstellt: 05. Mai 2009, 22:06
Ein weiterer Bereich aus dem Spannungsfeld von Sprache und Musik, der zudem hervorragend ins gegenwärtige Darwin-Jahr passt, ist die Evolution von Sprache und Musik. Gemäß dem Motto, dass nur eine evolutionäre Erklärung eine gute Erklärung ist, liegt das Problem auf der Hand: Wie sollte ein sinnloses Tun wie das Praktizieren von Musik einen evolutionären Nutzen haben können? Eine sympathische Antwort ist die "Pfau-Antwort": Musizieren entspricht dem Schlagen eines Pfauenrades. Wer so ein tolles Federkleid hat bzw. so schön singen oder flöten kann, der hat einen Sexualpartner verdient. Schließlich muss er über so große biologische Resourcen verfügen, dass er es sich leisten kann, sich die Zeit mit nutzlosen Beschäftigungen wie Federkleidpflege bzw. Stimm- oder Flötentraining statt mit Nahrungsbeschaffung zu verbringen.

Ein anderer Gedankengang geht folgenderweise: Sprachliche Bedeutung wird gerne mit propositionaler oder denotativer Bedeutung gleich gesetzt, Musik hingegen wirke emotional. Diese beiden Pole sind jedoch nicht scharf und wechselseitig auschließend getrennt. Einerseits finden sich in Sprache viele nicht-propositionale Signale; sie sind beispielsweise sprichwörtlich geworden in "Der Ton macht die Musik". Andererseits gibt es musikalische Ereignisse, die auf etwas Außermusikalisches Bezug zu nehmen scheinen, die wir als denotativ (wenn vielleicht auch nicht propositional) verstehen. Wenn man zwei Pole hat, die "Reste" des jeweils anderen Pols in sich tragen, kann es sein, dass sie sich aus einem gemeinsamen Vorläufer herausgebildet haben, so wie Menschen und Affen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen. Vielleicht gab es also zu Anfang der Entwicklung von Sprache und Musik ein Vorstadium von beiden, eine "Sprasik" oder "Muche". Im Laufe der Evolution haben sie sich nach ihren Funktionen -- um im Schwarz-Weiß-Bild zu bleiben: Denotation vs. Emotion -- spezialisiert.

Viele Grüße,
Mellus
Mellus
Stammgast
#15 erstellt: 28. Jun 2009, 12:21
Passend zum letzten Beitrag: Ein ZEIT-Artikel zur Enstehung der Musik.
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