Schostakowitsch - Sinfonie Nr. 3

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Thomas228
Stammgast
#1 erstellt: 02. Jul 2006, 10:23
1. Geschichtlicher, biographischer Hintergrund

Im Entstehungsjahr der dritten Sinfonie, 1929, wurde Stalin zum unangefochtenen Führer der Sowjetunion. Nach und nach hatte er im Kampf um Lenins Nachfolge sämtliche innerparteilichen Gegner aus dem Weg geräumt. Nun, 1929, wurde auch Trotzki des Landes verwiesen. Im Bestreben, in der Sowjetunion den Sozialismus mittels einer Revolution von oben aufzubauen, ging Stalin über Leichen. Seit 1928 war der zwischenzeitlich ruhende Kampf des Regimes gegen die Gesellschaft wieder aufgenommen. Die Zwangskollektivierung, bei der gegen den Willen der Bauern Staatsgüter und Kolchosen geschaffen wurden, kostete elf Millionen Menschen das Leben. Säuberungskampagnen fielen Professoren, Direktoren, Ingenieure, Geistliche und sonstige Bürgerliche zum Opfer, wenngleich auch die "große Säuberung" noch bevorstand.

Schostakowitsch, von diesen größtenteils abseits der Öffentlichkeit stattfindenden Geschehnissen unberührt, bewegte sich derweil weiterhin im Bereich der Avantgarde. Er vollendete seine erste Oper ("Die Nase"), ein Werk, dessen futuristischer Gehalt die proletarische Linke veranlasste, die Kompliziertheit und Unzugänglichkeit zu rügen und von einer ungesunden, grauenhaften Grimasse zu sprechen, und geriet sodann unter den Einfluss des für seine ultra-modernen und anti-realistischen Inszenierungen bekannten Theaterregisseurs Meyerhold. Von dessen Enthusiasmus begeistert, zog Schostakowitsch zu dem 32 Jahre Älteren nach Moskau, um dort in dessen Wohnung zu wohnen und mit ihm gemeinsam zu arbeiten. Frucht dieser Arbeit ist unter anderem die Bühnenmusik zur "Wanze". Nachdem Schostakowitsch inzwischen auch Filmmusik komponiert hatte - das Medium Film hatte damals noch etwas Fortschrittliches, war also grundsätzlich mit der Avantgarde in Einklang zu bringen, gefordert war aber gleichwohl Unterhaltungsmusik -, beschloss er nun, die mittlerweile gewonnenen Erfahrungen in eine Sinfonie einfließen lassen.

2. Werkbeschreibung:

Die dritte Sinfonie ist aufgebaut wie die zweite. Ebenso wie diese ist sie einsätzig und besteht sie aus einem Instrumentalteil und einem sich anschließenden Vokalteil. Auch die Sinfonie Nr. 3, die den Beinamen "Der erste Mai" trägt, ist ein Propagandawerk. So heißt es in dem vertonten, abermals sehr schlechten Gedicht: "Wir werden das Land ernten, unser Tag ist gekommen... Jeder 1. Mai ist ein Schritt auf den Sozialismus hin."

Der genaue Anlass für die Komposition der dritten Sinfonie bleibt im Dunklen. Meyer schreibt in seiner Biographie, Schostakowitsch habe beschlossen, die während der Arbeit an der Musik zur Wanze und zum Neuen Babylon, einer Filmmusik, gewonnenen Erfahrungen in eine Symphonie einzubringen. Es habe Schostakowitsch gereizt, stilistische Elemente wie Humor, Groteske, Persiflage, Komik und Sarkasmus der großen symphonischen Form einzupflanzen. Außerdem habe Schostakowitsch den für eine Symphonie nicht alltäglichen, aus der Filmmusik übernommenen Aufbau ausprobieren, insbesondere ein Werk ohne thematische Wiederholungen schreiben wollen. Auch Gojowy betont die Nähe der dritten Sinfonie zum Film. So schreibt er, die dritte Sinfonie wirke bei all ihrer experimentellen, konsequent wiederholungslosen Form sehr filmisch und illustrativ.

Leider liegt genau in dieser wiederholungslosen Filmhaftigkeit das Problem. Die Sinfonie wirkt, als wären einzelne Teile zusammenhanglos aneinandergefügt worden. Obgleich deutlich tonaler als die Zweite, ist es dem Hörer praktisch unmöglich, einen roten Faden zu finden. Es gibt schlicht keinen. Der Sinfonie fehlt der Pulsschlag, das Gerüst, die Seele. Schostakowitschs Versuch des wiederholungslosen filmischen Aufbaus ist gescheitert. Die Sinfonie wurde und wird kaum aufgeführt. Auch Schostakowitsch, der von der Sinfonie nur wenig hielt, war an Aufführungen dieses Werks nicht interessiert. Sein Sohn, der Dirigent Maxim Schostakowitsch, berichtet, er habe einmal seinem Vater gesagt, er beabsichtige, die dritte Sinfonie zu dirigieren. Schostakowitsch habe das nicht gefallen. Er habe gefragt: "Kannst du nicht etwas anderes dirigieren?". Meyer resümiert treffend: Die dem 1. Mai gewidmete Sinfonie stelle lediglich eine Etappe in der Entwicklung der symphonischen Programmatik Schostakowitschs dar, nicht aber eine künstlerische Leistung, die seinem Talent gemäß sei.

3. Interpretationen auf CDs:

Eine Übersicht der vorhandenen Aufnahmen findet sich hier: http://develp.envi.o...dsch/work/sym3e.html Fast alle Aufnahme entstanden anlässlich von Gesamtaufnahmen der Sinfonien.

Ich besitze folgende CDs:

Barshai, WDR-Sinfonieorchester, Brilliant-Gesamtaufnahme, aufgenommen 1994
Kondrashin, Moscow Philharmonic-Orchestra, Melodiya-Gesamtaufnahme, aufgenommen 1972

Einen Vergleich der Interpretationen schenke ich mir. Hier nur soviel: Das zur Klangqualität und zur Qualität des Chores bei der zweiten Sinfonie Geschriebene trifft auch hier zu. Wer eine der beiden Aufnahmen besitzt, benötigt keine andere.

Thomas
teleton
Inventar
#2 erstellt: 03. Jul 2006, 08:25
Hallo Thomas,


Fast alle Aufnahme entstanden anlässlich von Gesamtaufnahmen der Sinfonien.

Für mich als Hörer gilt auch parallel zu diesem Satz:
Alle Aufnahmen die ich besitze sind in den Gesamtaufnahmen integriert.

Dies sind die Aufnahmen mit
1.) Barshai / WDR SO Köln auf Brillant
2.) Roshdestwensky / Moskauer PH auf Eurodisc
3.) Kondraschin / Moskauer PH auf Eurodisc (LP)

Das diese alle drei TOP sind versteht sich bei den Dirigentennamen fast von selbst, aber was nützt es - ich höre sie höchst selten.
Schostakowitsch selbst gibt die Antwort: Er hielt im Nachhinein auch nicht viel von dem Werk (schwächste Sinfonie des Großmeisters).

Dein Beitrag (zur Vollständigkeit der Schostakowitsch-Sinfonien) ist wieder interessant und enthällt Einzelheiten, die mir auch so nicht bewußt waren.
Auch die Story mit Sohn Maxim ist interessant.
--------------------
Da Du ja am liebsten in der Reihenfolge vorgehst, bin ich schon gespannt auf deinen Beitrag für die Sinfonie Nr.4, die ich sehr schätze.
Thomas228
Stammgast
#3 erstellt: 03. Jul 2006, 09:59
Hallo teleton,

danke für die Blumen. Der chronologische Aufbau ergab sich nahezu automatisch aus meiner Überlegung, der Werk- und dem Interpretationsvergleich wegen der besonderen Bedeutung für das Verständnis von Schostakowitschs Musik einen Abschnitt über den geschichtlichen, biografischen Hintergrund beizufügen. Ohne dieses chronologische Vorgehen wäre nebenbei bemerkt von mir wohl kein Thread zur dritten Sinfonie entstanden. Um so mehr freue ich mich, bald etwas zur Sinfonie Nr. 4 schreiben zu können, die ich ebenfalls sehr schätze. Bis es dazu kommt, kann es aber noch etwas dauern, da ich erst einmal in den Urlaub fahre.

Viele Grüße, Thomas
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