Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 1

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Thomas228
Stammgast
#1 erstellt: 11. Jun 2006, 12:55
Liebe Schostakowitsch-Freunde!

Anlässlich des laufenden Schostakowitsch-Jahres sollen der Reihe nach Threads zu den einzelnen Sinfonien entstehen. Mit der Achten wurde begonnen, jetzt also die Erste:

1. Geschichtlicher, biographischer Hintergrund

Schostakowitsch, geboren und aufgewachsen in Sankt Petersburg (Anm.: Ich werde der Einfachheit halber immer von Sankt Petersburg sprechen, die Namen Petrograd und Leningrad also weglassen), war ein Wunderjugendlicher. Das Wort Wunderkind passt nicht, weil Schostakowitsch erst als neunjähriger Klavierunterricht erhalten und sich zuvor nicht sonderlich für Musik interessiert hat. Seine außergewöhnlichen musikalischen Fähigkeiten zeigten sich schnell. Er machte riesige Fortschritte am Klavier, besaß ein phänomenales Gehör und komponierte ohne Unterlass. Mit nur dreizehn Jahren wurde er vom örtlichen Konservatorium aufgenommen. Laut Meyer, dessen Biographie höchst empfehlenswert ist, handelte es sich bei diesem Institut, dem Glasunow als Direktor vorstand, um die beste Musikhochschule des Landes. Schostakowitsch nahm ein Doppelstudium auf, Klavier und Komposition, und betrieb es mit enormem Fleiß. Die Sinfonie Nr. 1 in f-moll, sein opus 10, das er 1925 als Achtzehnjähriger fertig stellte, war seine Diplom-Arbeit. Sie wurde von der Prüfungskommission als Ausdruck höchsten Talents gewürdigt und, eine besondere Ehre, 1926 von den Leningrader Philharmonikern unter dem Dirigenten Malko uraufgeführt. Die Aufführung wurde zum Triumph. Die Erste begann ihren Siegeszug um die Welt. 1927 führte Bruno Walter sie auf, 1928 Stokowski, 1931 Toscanini.

Jeder nur leidlich mit der russischen Geschichte Vertraute weiß, dass Schostakowitsch in schwierigen Zeiten aufwuchs. Seit 1914 wütete der erste Weltkrieg. 1917 rissen die Bolschewiki in Sankt Petersburg die Macht an sich. In den folgenden Jahren des bolschewistischen Terrors und des Bürgerkriegs versank das Land in Chaos, Gewalt und Tod. 1921 wurde direkt vor den Pforten Sankt Petersburgs die Rebellion der Matrosen des Marinestützpunktes Kronstadt blutig niedergeschlagen. Der Hunger war allgegenwärtig.

Zurzeit der Oktoberrevolution war Schostakowitsch elf Jahre alt. Die alltägliche Gewalt bekam er hautnah mit. Vor seinen eigenen Augen wurde ein Arbeiter erschossen. Der Familie von Schostakowitsch, der Vater war Chemiker, ging es zunächst noch leidlich gut. Dann aber, als Schostakowitsch sechzehn Jahre alt war, verstarb der Vater. Um nicht zu verhungern, war die Familie Schostakowitsch auf fremde Unterstützung angewiesen. Zum Glück blieb diese nicht aus. Schostakowitsch selbst half bei der Sicherung des Lebensunterhalts, indem er in Stummfilmkinos unter erbärmlichen Bedingungen Klavier spielte.

2. Werkbeschreibung:

Die erste Sinfonie, Dauer ca. 33 Minuten, besteht aus vier Sätzen: 1. Allegretto, 2. Allegro, 3. Lento, 4. Allegro molto. Sie ist kein Jugendwerk, sondern enthält bereits den ganzen Schostakowitsch. Die Sinfonie steckt voller Ideen, Farbe, Tatendrang, Musizierlust und besticht durch eine Instrumentationskunst, die ihresgleichen sucht. Was im Vergleich zu den späteren Sinfonien auffällt, ist das Fehlen des Todes, des Leides, der Verzweiflung. Die erste Sinfonie ist das Werk eines jungen Mannes, voller überbordender, stürmender Lebensfreude. Sie ist frisch. Sie hat Schwung.

Der erste Satz wird solistisch von der Trompete eröffnet, die vom Fagott umspielt wird. Die Bläser melden sich leise zu Wort. Die Klarinette folgt mit einem Solo. Zaghaft tritt das Orchester hinzu. Der Klang gewinnt an Farbe, das Orchester an Kraft. Bald schon ist es soweit: Mitgerissen von seinen Themen, eines erinnert an einen Marsch, ein anderes an einen Walzer, lässt Schostakowitsch munter drauf los musizieren. Verschiedenste Instrumente tun sich hervor, oftmals mit Soli. Das Schlagwerk hat Interessanteres zu tun als meist. Sogar das Klavier hat Gewichtiges beizutragen. Auf alle erdenklichen Arten erzielt Schostakowitsch herrliche Kontrastwirkungen: Klangfarbenwechsel, Laut-Leise-Effekte, Solo-Tutti-Wechsel, alles kommt vor. Die herrschende Stimmung wird gern mit Strawinskys Petruschka verglichen. Der Vergleich passt. Leise geht der Satz zu Ende. Er ist einer von jenen, die ansteckend wirken und die man gleich noch einmal hören will.

Der zweite Satz, wieder solistisch eingeleitet, dieses Mal von der Klarinette, ist traditionell dreiteilig. In den Randteilen herrscht wieder die muntere Spielfreude des ersten Satzes. Das Orchester ist kaum zu bremsen. Das Klavier, welches sich bereits kurz mit einem Lauf zu Wort melden durfte, stürmt übermütig los und musiziert voller Freude.

Nach etwa einer Minute des ausgelassenen Treibens beginnt der Mittelteil. Die dort ertönende Musik ist von völlig anderem Charakter: deutlich langsamer, fremdfarbig, geheimnisvoll. Der Beitextautor der Kondrashin-CD schreibt von einem recht ernsten, russischen Thema, das an eine langsame Prozession erinnere, Meyer in seiner Biographie von einer überaus originellen melodischen Linie, die deutlich an die russische Klassik des 19. Jahrhunderts anknüpfe. Mag sein. Nur höre ich etwas anderes. Was ich höre, ist Musik aus Tausendundeiner Nacht (Anmerkung: Dieses und das Folgende ist bildhaft gesprochen und keinesfalls wörtlich zu nehmen). Es ist, als würde plötzlich eine Kamelkarawane vorüber ziehen, das Orchester dies bemerken, verblüfft sein Spiel einstellen und dem langsamen Zug zusehen, um schließlich, nachdem die Fata Morgana verschwunden ist, unbetrübt weiterzumusizieren.

Allein das Bisherige hätte gereicht, um den Satz zu einem meiner Lieblingssätze werden zu lassen. Jetzt aber wird es ganz verrückt. Der Satz endet an der Stelle, an der er eigentlich enden sollte, ja müsste, gerade nicht. Sondern: Völlig überraschend und herrlich exzentrisch erklingt drei Mal das Klavier mit jeweils demselben Akkord. Es sind drei klingende ironische Ausrufezeichen! Die Streicher erlauben sich leise Bemerkungen. Nochmals erklingt drei Mal das Klavier. Die Streicher, immer noch leise, murmeln trotzdem weiter. Das Schlagwerk gibt mit wenigen Tönen zu bedenken, dass jetzt Schluss sein sollte. Alle sind einverstanden. Nur die tiefen Streicher können es nicht lassen: Noch einmal müssen sie zupfen.

Auch der dritte Satz beginnt mit einem Solo. Die Oboe singt eine lyrische Melodie. Andere Melodien treten hinzu. Nach etwa 1 ½ Minuten werfen die Blechbläser ein prägnantes Sechstonmotiv ein, das im Verlaufe des Satzes immer wieder auftaucht. Die Spannung steigt allmählich an, bis sie sich schließlich entlädt. Einen Moment artikuliert das Orchester sich nur nebelhaft. Da, wir befinden uns etwa in der Mitte des Satzes, erscheint eine wunderschöne Melodie der Oboe. Die Streicher finden wieder ihre Linie. Das Sechstonmotiv kehrt zurück. Die Musik gewinnt wieder an Stärke, entwickelt sich, endet schließlich leise, um nahtlos mit einem Tremolo in den vierten Satz überzugehen.

Der vierte Satz beginnt ebenfalls langsam, findet jedoch zügig zu einem schnelleren Tempo, auch zu mehr Spannung. Das Klavier nimmt erneut regen Anteil. Wieder erklingen einzelne solistische Passagen. Bald wird der der dramatische Höhepunkt im Fortissimo erreicht. Im Anschluss erstirbt die Musik für eine kurze Weile. In diese Ruhe hinein intonieren die großen Pauken eindrucksvoll das im dritten Satz eingeführte Sechstonmotiv. Es folgt das Cello mit einer zarten, wunderschönen Solo-Kantilene, im Hintergrund begleitet vom leise immer wiederkehrenden Sechstonmotiv. Nach Meyers Ansicht handelt es sich bei dieser Stelle um eine der beseeltesten in der ganzen Musik von Schostakowitsch, voller Tiefe und tragischem Ausdruck. Inspiriert von so viel Schönheit blüht das Orchester auf. Zu immer größerem Strahlen schwingt es sich empor. Da, ganz oben, wird es jäh unterbrochen von dem Presto der Schlusscoda. Jugendliches Ungestüm dringt ein bzw. kehrt aus dem ersten und den Randteilen des zweiten Satzes zurück, schmettert das verkürzte, variierte Sechstonmotiv und schreit seine Lebenslust heraus. Im Taumel der Übermut endet der Satz, endet die Sinfonie.

3. Interpretationen auf CDs

Zunächst sei auf die unter folgendem link zu findende Zusammenstellung hingewiesen, wo auch die Cover der Aufnahmen und Angaben zu der Dauer der Sätze zu finden sind: http://develp.envi.o...dsch/work/sym1e.html

Ich besitze folgende CDs (Bestellt ist die Legendary Recordings-Box von Sanderling, die unter anderem eine Aufnahme der ersten Sinfonie enthält. Die Box ist aber leider noch nicht eingetroffen. Ggf. werde ich nachberichten):

Barshai, WDR Sinfonie-Orchester, Brilliant-Gesamtaufnahme, 1994
Järvi, N., Scottish National Orchestra, Chandos, 1984,
Kondrashin, Moscow Philharmonic Orchestra, Melodiya-Gesamtaufnahme, 1961

Klanglich unterscheiden sich die Aufnahmen immens.

Die Barshai-CD klingt hervorragend, warm, detailreich und nah. Allerdings hat diese Nähe etwas Unnatürliches. Anders als im Konzertsaal mischen sich die einzelnen Instrumente kaum. Es ist, als würde man vor jedem Instrument zugleich sitzen. Dieses Konzept des Tonmeisters hat deutliche Vorteile, aber auch Nachteile. Die wesentlichen Vorteile sind die bessere Durchhörbarkeit, verbunden mit der deutlicheren Darstellung von Nebenstimmen, sowie die Plastizität und Klangschönheit der einzelnen Instrumente. Die wesentlichen Nachteile sind die beschriebene Unnatürlichkeit und Einbußen bei der Räumlichkeit, insbesondere bei der räumlichen Staffelung der Instrumente. Ob man das Konzept des Tonmeisters gutheißt, ist Geschmacksache. Meines Erachtens kommt es der Sinfonie schon wegen der vielen Soli sehr zugute.

Die Melodiya-Aufnahme von Kondrashin klingt leider nur mittelmäßig. Das Orchester wird als Ganzes, natürlicher dargestellt, quasi aus sechster Reihe. Nur ist die technische Qualität der Aufnahme schlecht. An einen schlechten Klang kann man sich gewöhnen, wenn einen das ansonsten Gebotene hinreichend fesselt. Ärgerlich und sehr störend ist es aber, wenn der Klang sich auch noch mehrfach ändert. So ist es hier. Zu Beginn des dritten Satzes beispielsweise wirkt es, als würde die Sinfonie plötzlich in einem anderen Raum gespielt. Es scheint sich um den Vorgang zu handeln, der andernorts hier im Forum als Aufziehen der Stützmikrofone beschrieben worden ist.

Die Chandos-Aufnahme von Järvi klingt ebenfalls nicht gut. Sie ist, um im Bild zu bleiben, aus der vierzigsten Reihe aufgenommen. Der Aufnahmeraum scheint viel zu groß, der Klang ist hallig, das Orchester zu fern. Wenigstens verändern sich diese Umstände nicht, kann man sich also daran gewöhnen.

Interpretatorisch nehmen die Aufnahmen einander nicht so viel. Barshai legt den Schwerpunkt auf die Jugendlichkeit, den Petruschka-Charakter des Werkes, Kondrashin eher auf die dunkle Seite. Bei Barshai erfasst mich eine positive, anregende Musizierfreude, bei Kondrashin eher nicht. Kondrashin spielt die Sinfonie im Bewusstsein des späteren, leiderfahrenen Schostakowitsch. Die Höhepunkte, Aufschwünge des Werkes werden stärker betont, die Streicher spielen mit größerer Intensität. Der Spannungsbogen des Werkes ist bei Kondrashin größer. Järvi befindet sich interpretatorisch in der Mitte. Bei ihm finden sich sowohl die Jugendlichkeit als auch der Schmerz. Aufmerken lassen mich immer wieder Järvis Pauken. Von ihnen geht ein unwiderstehlicher, erwähnenswerter Schub aus. Das Cellosolo im vierten Satz ist zum Sterben schön.

Fazit: Wenn ich die Sinfonie zehn Mal höre, höre ich sie sieben Mal mit Barshai und drei Mal mit Järvi. Kondrashin bleibt im Regal.

Thomas
vanrolf
Inventar
#2 erstellt: 12. Jun 2006, 00:01
Hallo Thomas,

zunächst einmal ein großes Lob an Dich für den engagierten und ausführlichen Bericht, den ich außerdem noch so flüssig und interessant geschrieben finde, daß ich ihn gleich ein zweites Mal gelesen habe. Sehr gut finde ich auch Deine Angaben zu historischen und persönlichen Begleitumständen des Werkes bzw. des Komponisten. Du bist offenbar ein wirklicher Enthusiast, und mich hat Dein Beitrag dahingehend angesteckt, daß ich mich heute abend noch einmal ausgiebig den beiden Versionen der Symphonie No. 1 f-moll Op. 10, die in meiner Sammlung stehen, gewidmet habe.

Ich hoffe, Du bleibst uns mit Deinem Tatendrang noch lange erhalten. Das muss ich jetzt einfach mal so sagen.

Meine Aufnahmen der No. 1 sind:

Rudolf Barshai / WDR Sinfonie-Orchester (Brilliant-GA, Aufnahme von 1994)
Kurt Sanderling / Berliner Sinfonieorchester (Edel Classic, "Legendary Recordings"-Box, Aufnahme von 1983)

Die Barshai-Aufnahme gefällt mir insgesamt auch sehr gut. Deiner Beschreibung des Klangbildes und der tontechnischen Besonderheiten der Aufnahme stimme ich voll zu und finde, daß das ganze, detailreiche "Innenleben" des Werkes (v.a. des ersten Satzes) ein derartiges Aufnahmekonzept durchaus rechtfertigt. Man hat trotzdem nicht das Gefühl, hier würden mittels aufnahmetechnischer Mätzchen andere interpretatorische Mängel ausgebügelt, Barshais Zugriff zeigt absolut auch den Blick fürs Ganze.
Die Sanderling-Aufnahme besitze ich erst seit kurzem. Ich hatte sie bis heute erst zweimal gehört und habe sie heute abend noch zwei weitere Male laufen lassen sowie einzelne Stellen mit Barshai verglichen. Sie ist in etwa aus der Position des Dirigenten aufgenommen, manchmal (aus Sicht des Publikums) scheinbar etwas davor. Das Orchester wird also recht naturbelassen abgebildet, der Klang ist sehr gut, die Ortung der einzelnen Instrumente gut möglich. Es könnte allerdings im Einzelfall auch noch besser sein, als kleines Manko empfinde ich z.B. die Pauken, die bei Barshai natürlich mit viel mehr Druck kommen. Dafür sind die Holzbläser sehr schön, z.B. die angesprochene Oboe zu Beginn des dritten Satzes ist für mich noch präsenter als bei Barshai. Auch das Klavier ist intensiver und hat einen dramatischeren Stellenwert. Wenn auch die ganzen Details und "Soloeinlagen" natürlich alle da sind, wirken sie nicht so galleriehaft aneinandergereiht wie bei Barshai, sondern sind klar dem Gesamtbild untergeordnet. Die "Karawanenszene" im zweiten Satz wirkt bei Sanderling noch eindringlicher als solche, er lässt sich bei der "Beschreibung" mehr Zeit. Insgesamt könnte die Aufnahme also eine mögliche Lücke in Deiner Sammlung schließen, sie bietet einen natürlichen Orchesterklang bei adäquat erscheinenden Raumverhältnissen. Das ist jedenfalls mein Eindruck.

Die Zeiten:
1.Satz: 08:42 2.Satz: 05:01 3.Satz: 08:29 4.Satz: 09:40

Im Moment würde ich Sanderling wohl den Vorzug geben, auch wenn es für ein solches Urteil natürlich noch zu früh ist.

Gruß Rolf
teleton
Inventar
#3 erstellt: 12. Jun 2006, 08:58
Hallo Thomas,

es freut mich, dass der Schostakowitsch-Zyklus mit der Sinfonie Nr.1 weiter geht und das mit einem weiteren beispielhaften TOP-Beitrag.

Zunächst meine Aufnahmen der Sinf.Nr.1:

Roshdestwensky / Moskauer PH - Eurodisc (CD)
Kondraschin / Moskauer PH - Eurodisc (LP)
Barshai / WDR SO Köln - Brillant (CD)
Bernstein / NewYorker PH - CBS/SONY (CD)
Jansons / Berliner PH auf EMI (CD)

Meine große Begeisterung für Schostakowitsch begann mit den Kondraschin-und Swetlanow-Aufnahmen auf Eurodisc in den 80er-Jahren (die Sinfonie Nr.9 und 1 waren der Anfang). Andere Aufnahmen als die Russischen kamen für mich zunächst gar nicht in Frage, denn nur die russ.Orchester vermögen den typischen Klang für Schostakowitsch autentisch in Töne zu fassen.

Darunter kranken auch alle "nicht russ." Aufnahmen.
Barshai, ein Schostakowitsch-Kenner und Freund des Komponisten ist mit dem WDR SO nah dran, aber das Orchester erreicht insbesondere bei den Blechbläsern nicht den harten, rauhen, eben typisch russ. Klang. Insgesamt finde ich die Aufnahme sonst gut und würde den Klangeindruck nicht so krass als "unnatürlich" umschreiben, wie Du (thomas).

Bernstein gefällt mit persönlich gut, er läßt die jugendliche Frische des 18jährigen Komponisten tönen und ist mir trotzdem im letzten Satz zu zurückhaltend. In einem anderen Forum wurden die amerikanischen Blechbläser bei Bernstein als "amerikanischer Brass-Sound" bezeichnet - so weit würde ich allerdings nicht gehen - mir gefällt der amerikanische Sound. Klanglich ist die CBS-Aufnahme aus den 70erJahren voll OK. Der typisch Russ.Orchesterklang stllt sich allerdings bei der recht trockenen Akkustik nicht ein.

Jansons, dessen Schostakowitsch - Aufnahmen sonst hochgelobt werden, gefällt mir gar nicht - die russische Seele bleibt absolut auf der Strecke - er macht eine klass.Sinfonie aus der Nr.1 - die Pauken ungewohnlich soft und viel zu brav - ohne Exzesse. Diese CD hatte ich mir auch nur wegen der Klavierkonzerte Nr.,1 und 2(M.Rudy) gekauft, die ebenfalls viel zu langsam und brav gespielt sind.

Kondraschin, mein erster großer Kontakt zu dieser von mir hochgeschätzen Sinfonie Nr.1 gefällt mir sehr gut. Ist die CD-Klangqualität tatsächlich so schlecht ??? Von meiner Eurodisc-LP war auch klanglich damals schon sehr positiv überrascht. Eine Wucht wie Kondraschin die Sinfooniue mit Spannung aufläd und besonders den letzten Satz mit den Solopauken aufbaut - Referenz.

Erst viel später Anfang der 90erahre kaufte ich alle Roshdestwensky-Eurodisc-Aufnahmen als Einzel-CD.
Mit noch härterem Zugriff als Kondraschin haut einem diese Aufnahme "die Ohren weg" und das mit einer TOP-DDD-Klangqualität bei gleichem Orchester - besser als diese Aufnahme kann man Schostakowitsch Sinfonie Nr.1 nicht hören - Referenz.
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Ein Jammer für alle, das diese Rosh-Aufnahmen zur Zeit nirgendowo greifbar sind - bei amazon vereinzelt zu Spiteznpreisen - aber meist liest man "Führen wir nicht mehr, gebraucht vorbestellen".
peet_g
Stammgast
#4 erstellt: 12. Jun 2006, 16:29
Ich kann die Referenz-Bedeutung der Roshdestwensky-Aufnahme bestätigen, sie ist weit entfernt von der "jugendlichen und lebenslustigen" Deutung. Wenn schon Schostakowitsch, dann eben ungeschminkt.

Die frühe Toscanini-Aufnahme ist übrigens voll Energie und imponierend, insbesondere im Vergleich mit so vielen anemischen Aufzeichnungen, die sich gerne Brilliant nennen. :-)
vanrolf
Inventar
#5 erstellt: 12. Jun 2006, 18:17
Hallo,

nun ja, ob eine Interpretation, die ihr Augenmerk hauptsächlich auf die "Jugendlichkeit und Lebenslust" ausrichtet, zwangsläufig weniger authentisch ist als eine, die das (spätere) Leid des Komponisten schon vorwegnimmt, sei dahingestellt. Schostakowitsch hat seine No. 1 nun mal mit erst 18 Jahren geschrieben, und da mag er im Zusammenhang mit den Revolutionsereignissen das eine oder andere unschöne durchaus schon erlebt haben. Trotzdem lässt sich das Werk auch ohne die Einbeziehung der kommenden Katastrophen als lebensbejahendes Werk der Moderne absolut glaubwürdig darbieten, und ein einziger Freudentaumel ist diese Musik ja nun wirklich auch nicht gerade.

Ich bestreite, daß Attribute wie "Referenz" oder "ungeschminkt" im Zusammenhang mit Schostakowitsch quasi automatisch und für jedes einzelne seiner Werke immer mit "leidvoll" gleichgesetzt werden müssen, erst recht nicht bezogen auf dieses relativ frühe Werk.
Sanderlings Aufnahme hat übrigens auch eine vergleichsweise dunkle Aura, ein Unterschied zur deutlich "strahlenderen" Barshai-Aufnahme, den ich vergass zu erwähnen.

Gruß Rolf
Thomas228
Stammgast
#6 erstellt: 12. Jun 2006, 21:02
Hallo Rolf, hallo, Wolfgang,

danke für das Lob. Das motiviert zum Weitermachen.


Kondraschin, mein erster großer Kontakt zu dieser von mir hochgeschätzen Sinfonie Nr.1 gefällt mir sehr gut. Ist die CD-Klangqualität tatsächlich so schlecht ??? Von meiner Eurodisc-LP war auch klanglich damals schon sehr positiv überrascht.


Nein, so schlecht ist die Kondrashin-CD-Klangqualität nicht. Sie ist mittelmäßig, nicht schlecht. Die beschriebene Uneinheitlichkeit des Klanges tritt auch nicht oft auf. Momentan erinnere ich nur die genannte Stelle zu Beginn des dritten Satzes. Dort stört es mich aber besonders. Und das, obwohl ich durchaus regelmäßig wirklich historische Aufnahmen höre, insbesondere von Opern bzw. Sängern. Den Vergleich mit der LP-Version kann ich nicht anstellen. Diese kenne wiederum ich nicht.


Ein Jammer für alle, das diese Rosh-Aufnahmen zur Zeit nirgendowo greifbar sind - bei amazon vereinzelt zu Spiteznpreisen - aber meist liest man "Führen wir nicht mehr, gebraucht vorbestellen".


Ja, wirklich ein Jammer. Immerhin habe ich die vierte von Roshdestwensky neulich vergleichsweise günstig kaufen können. Vielleicht werde ich ja bei der Besprechung dieser Sinfonie auch von peet_g ein zustimmendes Wort bekommen. Bin schon gespannt. Erst einmal sind aber die zweite und dritte Sinfonie dran. Nun ja...


Ich kann die Referenz-Bedeutung der Roshdestwensky-Aufnahme bestätigen, sie ist weit entfernt von der "jugendlichen und lebenslustigen" Deutung. Wenn schon Schostakowitsch, dann eben ungeschminkt.


Genau das ist der Punkt. Bei der ersten Sinfonie halte ich die "jugendliche und lebenslustige" Deutung für überzeugender. Das und nicht die Klangqualität ist für mich der ausschlaggebende Grund, Kondrashin im Regal zu lassen.

Es ist, um einen Vergleich aus einem anderen Bereich zu wählen, wie beim Schüler-Theater. Es wirkt auf mich stets nicht so recht überzeugend, wenn ein 17-, 18-jähriger den Faust-Monolog rezitiert. So ist es auch bei der ersten Sinfonie von Schostakowitsch. Auf mich wirkt sie bei Betonung der - selbstredend vorhandenen - Spannungen überfrachtet.

Jedenfalls bin ich - anders als peet_g - der Auffassung, dass die Sinfonie beide Deutungen zulässt, also, um es vereinfacht und überspitzt auszudrücken, sowohl die jugendliche als auch die brutale. Welche der jeweilige Hörer bevorzugt, mag ihm selbst überlassen bleiben. Ein richtig im Sinne von: Wenn schon, dann ungeschminkt, gibt es hier meines Erachtens nicht. Ich halte, wie gesagt, die jugendliche Deutung für überzeugender.

Ein Sinn dieses Threads ist es, solche unterschiedlichen Werkverständnisse zu diskutieren oder zumindest anzusprechen. Wäre ich daran nicht interessiert, könnte ich auch einen Artikel bei Wikipedia einstellen. Jedoch: Ein bloßes "Bei Schostakowitsch muss es so brutal wie möglich sein, das Holz muss grob und körnig klingen, das Blech schneidend, nur das ist russisch", wie es immer wieder zu hören ist, ist mir zu wenig. Es ist eine bloße Behauptung ohne jede argumentative Unterfütterung. Auch ich bin der Auffassung, dass es Sinfonien von Schostakowitsch gibt, es dürfte sich sogar um die Mehrzahl handeln, die genau eine solche Interpretation fordern. Nicht aber die Sinfonie Nr. 1.

Klar ist übrigens auch, dass Jugendlichkeit nicht nur Lebenslust beinhaltet.

Grüße an alle

Thomas
teleton
Inventar
#7 erstellt: 13. Jun 2006, 07:35
Hallo Thomas,

Deine Meinung zu Schostakowitsch´s Sinfonie Nr.1 akzeptiere ich voll. Du ziehst eben "die jugendlichere" Sicht vor, während ich den direkteren Zugriff und den russischen Orchesterklang schätze.
Für Dich währe dann neben der Barshai-Aufnahme auch die von mir erwähnte Bernstein-CBS-Aufnahme eine gelungene Alternative - eine schöne Aufnahme, die ich vor einigen Monaten bei Ebay ergattert habe.

Ich denke aber das Du auch an der Roshdestwensky-Aufnahme eine Menge Positives entdecken würdest - das ist Gänsehautfeeling pur - zum abheben.
peet_g
Stammgast
#8 erstellt: 14. Jun 2006, 10:56
Zwei kleine Korrekturen: Schostakowitsch war 19, als er die Erste vollendete, nicht 18. Das ist aber nicht so schlimm. :-)

Viel wichtiger ist es den Sinn der letzten Takten des Werkes genauer zu interpretieren. Die Symphonie endet mit einer Frage in einem f-moll: nach einem Versuch zwischen der Dur- und moll-Variante entscheidet sich das Motiv für die moll-Variante und wird abrupt mit einem Schlag beendet. Für Lebenslust und Freudentaumel sehe ich darin kein Zeichen. Man muß nicht übertreiben mit Katastrophen, es ist viel mehr faust-ähnliche (Liszt) Frage nach dem Sinn des Lebens. Es bleibt trotzdem nur bedingt "jugendlich", diese Seite zu überbetonen wäre auch eben eine Übertreibung oder eine Untertreibung, je nachdem. :-)
Thomas228
Stammgast
#9 erstellt: 14. Jun 2006, 18:33
Zur ersten Korrektur: Schostakowitsch wurde geboren im September 1906. Meyer schreibt in seiner Biograpie: "Die Symphonie war im Mai fertig, und am 1. Juli beendete Schostakowitsch die Reinschrift der letzten, der 99. Seite seiner Partitur... Im Dezember 2005 reichte Schostakowitsch die Partitur und den Klavierauszug seiner Symphonie bei der Prüfungskommission ein." Wenn Meyers Angaben stimmen, wovon ich ausgehe, war Schostakowitsch bei Vollendung seiner Sinfonie also noch 18. Bitte: Dies ist nicht beckmesserisch gemeint. Ich habe nur nachgeschaut, weil es mich interessiert hat.

Zur wichtigeren zweiten Korrektur: Die Moll-Dur-und schließlich Moll-Wendung am Ende war mir noch nicht aufgefallen. Sehr interessant. Danke für den Hinweis.

Ja, in der Tat, die im Presto aufspielende "Lebensfreude" ist nicht ungetrübt. Nicht nur am Schluss, sondern während des gesamten Prestos höre ich einen Unterton, finde ich bereits die Doppelbödigkeit, die Schostakowitsch später perfektioniert hat. Ich hatte deshalb auch überlegt, nur zu schreiben: "Die Sinfonie endet mit einem Presto", fand es dann aber doch besser, Farbe zu bekennen.

Gruß

Thomas


[Beitrag von Thomas228 am 14. Jun 2006, 18:34 bearbeitet]
peet_g
Stammgast
#10 erstellt: 15. Jun 2006, 11:52
@ Thomas228

Das ist mir neu, gut, dass du es nachgeprüft hast. In allen mir bekannten Quellen wird die Erste als das Werk des 19-jährigen bezeichnet. In dem Alter ist jedes Jahr wichtig. Also - gut zu wissen.
teleton
Inventar
#11 erstellt: 16. Jun 2006, 08:15
Die große Roshdestwensky-Melodia-Aufnahme der Schostakowitsch-Sinfonien gab es auch als Gesamtaufnahme:

amazon.de

Diese Box wird zur Zeit bei amazon von zwei Anbietern für wahnsinnige 971,80€ und 1013,-€ angeboten.
Schock--- ---
Hüb'
Moderator
#12 erstellt: 16. Jun 2006, 08:17
Hi!

Ich Trottel vermeine, irgendwo die entsprechende LP-Box zu einem sehr zivilen Preis stehen gelassen zu haben... (75,- DM?)...
Könnte mich heute noch selbst in den Hintern treten!

Grüße

Hüb'
vanrolf
Inventar
#13 erstellt: 16. Jun 2006, 14:37
teleton schrieb:

Diese Box wird zur Zeit bei amazon von zwei Anbietern für wahnsinnige 971,80€ und 1013,-€ angeboten.


Als gebrauchte Exemplare, wohlgemerkt. Wie Du schon sagst: absolut wahnsinnig.

Ich frage mich, wie die zu solchen Preisen kommen, offenbar muß es doch Leute geben, die sowas zu zahlen bereit sind, sonst gäbe es diese Händler doch gar nicht mehr. Sie bieten aber schon seit Jahren über amazon an.

Meine Hoffnung bleibt eine künftige Budget-Edition.

Gruß Rolf
musiccreator
Ist häufiger hier
#14 erstellt: 17. Jun 2006, 12:17
Hallo!

Von Bernstein gibt es außer der CBS-Einspielung auch noch die bei der deutschen Grammophon erschienene spätere Aufnahme (als 2-CD-Box, gekoppelt mit der Leningrader); ich habe nicht viele Vergleichaufnahmen, aber sie gefällt mir sehr gut; auch die Celibidache-Einspielung mag ich, die überrraschenderweise der Bernstein-Aufnahme in Vielem ähnlich ist.
Miles
Inventar
#15 erstellt: 17. Jun 2006, 17:40

vanrolf schrieb:
teleton schrieb:

Diese Box wird zur Zeit bei amazon von zwei Anbietern für wahnsinnige 971,80€ und 1013,-€ angeboten.


Als gebrauchte Exemplare, wohlgemerkt. Wie Du schon sagst: absolut wahnsinnig.

Ich frage mich, wie die zu solchen Preisen kommen, offenbar muß es doch Leute geben, die sowas zu zahlen bereit sind, sonst gäbe es diese Händler doch gar nicht mehr. Sie bieten aber schon seit Jahren über amazon an.

Meine Hoffnung bleibt eine künftige Budget-Edition.


Es gibt bei Amazon und Ebay Händler die bieten dieselben Exemplare der Raritäten über Jahre zu völlig unrealistischen Preisen an. Das heisst, sie werden sie nicht los.

Ich denke auch dass die Aufnamhne irgendwann wieder auf CD erscheinen. Einige andere Melodyia-Aufnahmen wurden vor kurzem wieder aufgelegt (ich habe aber die Details vergessen).


[Beitrag von Miles am 17. Jun 2006, 17:44 bearbeitet]
Thomas228
Stammgast
#16 erstellt: 21. Okt 2006, 11:08
Liebe Schostakowitsch-Freunde,

nun besitze ich ebenfalls Jansons Einspielung der ersten Sinfonie aus dem Jahre 1994 mit den Berliner Philharmonikern, enthalten in der Gesamtaufnahme-Box. Sie findet mein Gefallen nicht.

Im Kleinteiligen hervorragend gespielt – kein Wunder bei dem Klangkörper –, wirkt die Musik insgesamt gesehen zu domestiziert, zu gebremst, zu gepflegt.

Im ersten Satz spielt Schostakowitsch unentwegt mit den Erwartungen des Hörers, streckt er ihm sozusagen, wenn das Erwartete mal wieder nicht eintrifft, immer wieder die Zunge heraus. Dieses Überraschende findet bei Jansons kaum statt. Bei ihm hat die Musik nichts Keckes.

Auch im zweiten Satz regiert die angezogene Handbremse. Das vorwärts Stürmende, dringlich Drängende kommt nicht zur Geltung.

Dem dritten Satz bekommt Jansons Ansatz besser. Im vierten jedoch zeigt sich wieder das bekannte Bild der gepflegten, nun ja, Langeweile ist wohl doch zu stark.

Es gibt einen Mitschnitt einer Probe der Ersten von L. Bernstein mit dem Schleswig-Holstein Musik Festival Orchester von 1988. Dort äußert Benstein, dass die ersten beiden Sätze der Sinfonie dem dritten und vierten Satz in ihrer Qualität nachstünden. Ich bin nicht dieser Meinung. Von Jansons Interpretationshaltung der Abgeklärtheit her wird diese Wertung aber verständlich. Von diesem Standpunkt aus mag man die ersten beiden Sätze als zu ungeschlacht, als zu wenig auskomponiert, als zu abrupt bezeichnen. Mir aber gefällt gerade die in diesen Sätzen zum Ausdruck kommende Ungebärdigkeit und jugendliche Aufmüpfigkeit. Wer das ebenso empfindet – das dürfte in der Regel derjenige sein, dessen Lieblingssinfonie die Vierte ist –, ist bei Jansons falsch.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Orchesterklang. Die Berliner Philharmoniker spielen schön. Es ist eine Streitfrage, ob ein solches Spiel dem Werk Schostakowitschs gerecht wird. Oftmals wird apodiktisch ein russischer, rauer Orchesterklang verlangt. Solcher findet sich hier nicht. Wer jedoch keinen Wert auf Schroffheit legt, wen ungestüme Wildheit eher abschreckt – bösartig gesprochen: der Mozart-Hörer alter Prägung –, mag bei Jansons genau richtig liegen. Allerdings frage ich mich, ob ein solcher Hörer bei Schostakowisch richtig aufgehoben ist.

Abschließend stellt sich die Frage: Ist die Aufnahme gut oder schlecht? Tontechnisch, spieltechnisch ist die Aufnahme hervorragend, die Orchesterkultur ist hoch, alle Soli gelingen glänzend. Entscheidend ist, wie dargelegt, der Geschmack des Hörers.

Thomas
teleton
Inventar
#17 erstellt: 26. Okt 2006, 08:13
Hallo Thomas228,

an deinem Beitrag zu Schostakowitsch´s Sinfonie Nr.1 mit Jansons gibt es nichts hinzuzufügen - volle Zustimmung.

Du hast es noch klarer und (wie immer) ausführlicher ausgedrückt, als ich in meinem Beitrag vom 12.06.2006 hier.

Du weißt an welcher Stelle auch eine sehr gute Rezension der Sinfonie Nr.1 steht.
Dort gibt es auch ein Pärchen, das die Jansons-Aufnahme wegen der hohen Orchesterkultur der Berliner PH gut findet -
muß man akzeptieren aber nicht teilen.
Werdan
Ist häufiger hier
#18 erstellt: 26. Okt 2006, 21:11
Die Musik Schostakowitschs bedeutet Mariss Jansons seit seiner Jugend Herzblut. Die 1. Sinfonie hat er mit den Berlinern geradezu exemplarisch eingespielt.
Er hat sich in den vergangenen Jahren als der bedeutenste zeitgenössische Dirigent dieser Musik profiliert.
Wer eine hervorragende Aufnahme dieser Sinfonie sucht, sollte zu Jansons greifen.

Gruss W.
teleton
Inventar
#19 erstellt: 27. Okt 2006, 08:59
Hallo Werdan,

die Jansons-EMI-Aufnahme der Sinfonie Nr.1 ist ja nicht wirklich schlecht, das hat keiner geschrieben und gemeint.

Aber was soll an dieser Jansons-Aufnahme "exemplarisch" sein ???
Thomas hat es, genauer als ich, in Worte gefaßt - alles Andere erübrigt sich.

Kennst Du die Kondraschin-Aufnahme (Melodia/Eurodisc) ?
An dieser müssen sich IMO alle anderen messen !
Thomas228
Stammgast
#20 erstellt: 28. Okt 2006, 18:26
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Beim erstmaligen Hören von Ancerls Aufnahme der ersten Sinfonie mit dem Tschechischen Philharmonischen Orchester aus dem Jahre 1964, neu remastered und herausgekommen gemeinsam mit der Sinfonie Nr. 5 in der Reihe Ancerl Gold, Vol. 39, verblüfft mich zweierlei: die erstaunlich gute Klangqualität und die unerwartet hohe Qualität des Orchesters.

Schon beim Erklingen der ersten Töne merke ich auf. So intensiv, so warm habe ich das Fagott an dieser Stelle noch nicht gehört. Das Lob lässt sich verallgemeinern: Sämtliche Holzbläser sind fantastisch. Auch für die Oboe zu Beginn des dritten Satzes gilt: Besser, intensiver, herzwärmer geht es nicht.

Der erste Satz besitzt Schub und Explosivität, allerdings keine Ruppigkeit, obgleich das Blech zuweilen sogar schneidend klingt.

Am zweiten Satz fällt vor allem der Mittelteil auf. Ancerl betont die üblicherweise im Hintergrund spielenden Violinen. Zur Folge hat dies, dass der von mir im Einführungsbeitrag beschriebene Eindruck einer gemächlich vorüber ziehenden Karawane sich nicht einstellt, sondern im Gegenteil der Mittelteil etwas unruhiges, zitterndes erhält. Interessant! Die Teile des Satzes vor und nach dem Mittelteil nimmt Ancerl zwar schnell, aber dennoch sehr kontrolliert. Mir zu kontrolliert, ich mag es an diesen Stellen, wenn der Eindruck entsteht, dass das Orchester, wenn der Dirigent nur noch ein klein wenig schneller spielen lassen würde, auseinander fiele. Kurz: Ich mag es ungestüm. Vielleicht ist das eine Kritik, die man bezogen auf die Aufnahme insgesamt äußern kann. Durchweg hat Ancerl den Faden in der Hand, kontrolliert er das Orchester mit sehr starker Hand. An sich ist das eine Stärke. An solchen Stellen, wie den eben erwähnten jedoch, wird diese Stärke in meinen Ohren zu einer Schwäche.

Der dritte Satz ist schlicht der beste, den ich kenne. Das Anfangssolo hatte ich bereits lobend erwähnt. Das Crescendo gleich danach ist ebenso großartig. Da will ich nur noch genießen. Die herrlich singenden Streicher, die mit Nachdruck spielenden Blechbläser erlauben das.

Der vierte Satz gefällt mir nicht uneingeschränkt. Die Pauke hält leider nicht das Niveau des übrigen Orchesters und am Ende ist mir die Dynamik nicht ausgeprägt genug. Der Übergang zur Schlusscoda wird in der Spielweise etwas verwischt, die Jähheit, der Einbruch der Schlusscoda eingeebnet.

Insgesamt gesehen aber handelt es sich um eine großartige Aufnahme, die ich noch sehr oft hören werde.

Gruß, Thomas
s.bummer
Hat sich gelöscht
#21 erstellt: 04. Nov 2006, 21:19
Stimmt haargenau Thomas,
eine wunderbare Aufnahme der ersten Sinfonie.
Ancerl macht m.E. alles richtig und hat ein wunderbares Orchester zur Hand.
Die 5. auf der CD ist auch ne Wucht und in aller Euphorie habe ich noch die 10. (DGG) in Mono gekauft. Dafür lasse ich fast alle anderen liegen.
Gruß S.
Klassikkonsument
Inventar
#22 erstellt: 16. Aug 2014, 05:02
Im "Was hört Ihr gerade jetzt?"-Thread schrieb ich im Laufe eines Beitrags doch mehr zu dieser vielleicht etwas unterschätzten Sinfonie, das vielleicht auch in diesen lang verwaisten Diskussionsstrang passt:


Aber den Petruschka habe ich auch mal wieder eingelegt, um Schostakowitschs Sinfonie Nr. 1 besser zu verstehen. Mein Eindruck bleibt, dass die Kegel-Aufnahme vom Schostakowitsch ordentlich ist, aber die nun zum 2. Mal gehörte Rozhdestvenski-Aufnahme, die man bei Youtube hören kann ('https://www.youtube.com/watch?v=U6kYuU89eQI), doch um eines lebendiger ist. Dort hat man den Eindruck, es geht um die Wurst. Zwar wird wohl manch Einsatz verpatzt und die Intonation ist nicht immer astrein. Aber schon der ganz andere, nicht so voll und runde, sondern rauhere Klang der Klarinette ist nicht zu vergleichen. Die Trompete oder überhaupt die Blechbläser klingen schärfer und spitzer. Trotzdem liefert Kegel keine schlechte Aufnahme ab, vielleicht kann man sagen: Eher sorgfältig für Ewigkeit eingespielt.

Aber gut, das Strawinsky-Werk wird als ein wichtiger Einfluss genannt. Stimmt bestimmt, aber hilft dieser Hinweis konkret wirklich weiter?
Ich hab mir auch auf den Hinweis im englischen Wikipedia-Artikel hin nochmal Richard Strauss' Till Eulenspiegel mit Karajan angehört. Dieses Werk hat mit Strawinskys Petruschka ja gemein, dass auch hier eine komische Figur im Mittelpunkt steht, die am Ende ihr Leben lassen muss, aber dann als Geist überraschend präsent bleibt.

Auf jeden Fall spielt bei Schostakowitschs Nr. 1 das Humoristische eine Rolle, aber das Groteske von Vaudeville und Filmmusik (man darf der Einfachheit halber wohl auch an Tom & Jerry denken) scheint nochmal als ein neues oder anderes Element gegenüber dem Humor von Till & Petruschka vorzukommen.
Und die spannende Frage bei dieser Sinfonie ist dann halt, ob es nicht doch nicht ein ernsteres Werk ist. Die stellt sich eigentlich schon bei den Ausbrüchen und den tiefen Blechbläsern im ersten Satz. Dann auch im 2., wo die ruhigeren Teile Thomas an Folgendes denken lassen:

Es ist, als würde plötzlich eine Kamelkarawane vorüber ziehen, das Orchester dies bemerken, verblüfft sein Spiel einstellen und dem langsamen Zug zusehen, um schließlich, nachdem die Fata Morgana verschwunden ist, unbetrübt weiterzumusizieren.

Die Karawanen-Assoziation finde ich einleuchtend, aber was die Fata Morgana zeigt, scheint mir ambivalent. Es könnte etwas Faszinierendes, aber auch etwas Bedrohliches sein.

Der ruhige 3. Satz ist sehr merkwürdig. Ich habe mich gefragt, ob das Oboensolo (über einer zunächst einfachen Begleitung und vielleicht nicht ganz frei von den humoristischen Verrenkungen oder "falschen Tönen" des Neoklassizismus) als ironisch oder ernst gemeint zu hören ist. Die "Gefühlsaufwallung", ums mal flapsig auszudrücken, ist dann durchaus ernsthaft & recht romantisch so Richtung Tschaikowsky & Mahler. Aber doch vielleicht sinfonietta-mäßig abgespeckt wie tendenziell das ganze Werk.
Meinem Eindruck nach spielt Schostakowitsch, der ja bekanntermaßen noch nicht 20 war, als er diese Sinfonie ablieferte, mit der Erwartung, ob es ein ernstzunehmendes, ausgewachsenes Werk oder eine reizvolle, erfrischende Petitesse sei. Meinem Eindruck gelingt es ihm einigermaßen, in der Hinsicht eine Ambivalenz aufzubauen. Dabei ist ihm das Groteske dienlich, das ja die anerkannt humoristische Seite hat, aber eigentlich auch Brutalität und Unheimliches enthält.


[Beitrag von Klassikkonsument am 16. Aug 2014, 05:05 bearbeitet]
FabianJ
Inventar
#23 erstellt: 19. Aug 2014, 19:17
Petruschka und Till Eulenspiegel kamen mir beim Anhören dieser Sinfonie bisher noch nie in den Sinn. Auch als ich sie mir soeben, nach dem Lesen deines Beitrags, noch einmal zu Gemüte führte, hat es mich kaum an Strawinskis Ballett denken lassen. Ein paar der turbulenteren Stellen erinnerten mich jedoch schon etwas an den Eulenspiegel. Von allein wäre ich aber vermutlich nie darauf gekommen.

Eine gewisse Doppelbödigkeit, welche ja auch in vielen anderen Werken des Komponisten in Erscheinung tritt, gibt es auch hier schon. Nur fehlt hier noch die Bitterkeit mancher späterer Werke. Zu dieser Zeit hatte ihn die Staatsführung wohl auch noch nicht wegen seiner Musik auf dem Kieker (Formalismus-Vorwürfe). Ich würde auch vermuten, dass er mit der Erwartung seiner Zuhörer spielen wollte. Oder sind die Zweideutigkeiten in dieser Musik doch einfach nur sein Stil?


[Beitrag von FabianJ am 19. Aug 2014, 19:24 bearbeitet]
Klassikkonsument
Inventar
#24 erstellt: 20. Aug 2014, 18:30

FabianJ (Beitrag #23) schrieb:
Petruschka und Till Eulenspiegel kamen mir beim Anhören dieser Sinfonie bisher noch nie in den Sinn. Auch als ich sie mir soeben, nach dem Lesen deines Beitrags, noch einmal zu Gemüte führte, hat es mich kaum an Strawinskis Ballett denken lassen. Ein paar der turbulenteren Stellen erinnerten mich jedoch schon etwas an den Eulenspiegel. Von allein wäre ich aber vermutlich nie darauf gekommen.

Ja, direkte Anklänge an den Petruschka habe ich jetzt auch nicht herausgehört. Eine gewisse Ähnlichkeit hat bei Schostakowitsch die kecke Solo-Klarinette, die am Anfang der Trompete antwortet, mit dem 2. Thema im Till (anfangs auch von der Klarinette vorgestellt).
Allgemeiner kann man wohl sagen, dass Schostakowitschs 1. erstmal einen heiteren, satirischen Tonfall anschlägt. Und Till & Petruschka sind berühmte Exemplare dieses Genres. Als weitere mögliche Quellen kämen der Jazz und Vaudeville in Frage.
Jedenfalls gibt es immer wieder Stellen, die mich an die Musik zu grotesken Zeichtrickfilmen erinnern.
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