Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 2

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Thomas228
Stammgast
#1 erstellt: 18. Jun 2006, 12:42
1. Geschichtlicher, biographischer Hintergrund

Die zwanziger Jahre waren in Russland eine Zeit voller Hoffnungen. Nach Jahren der Katastrophe ging es endlich wieder aufwärts. Die in Malerei, Theater und Literatur vorherrschende Avantgarde hatte auch die Komponisten erreicht. Überall entwickelten sich neue musikalische Formen, erklang Neues. Werke von Schönberg und Krenek wurden aufgeführt. Milhaud, Bartok, Hindemith und Berg besuchten Russland. Die herrschende Aufbruchstimmung beschrieb der Theatermacher Tairow wie folgt (zitiert nach Meyer): "Wie unser Gedankengang war? Die Revolution reißt die alten Lebensformen nieder, und wir reißen die alten Kunstformen nieder. Also sind wir Revolutionäre und können mit der Revolution Schritt halten." Auch Schostakowitsch, Mitglied des Verbands der Gegenwartsmusik, war der Auffassung, dass der politischen Revolution die künstlerische zu folgen habe.

Indes wurden die Stimmen zunehmend lauter, die Musik für die arbeitende Masse forderten, möglichst eingängige Vokalmusik mit linker, positiver Programmatik. Kultur sollte Massenkultur sein. Experimentelle Stücke, zudem akademisch geprägte, wurden vermehrt angegriffen. Der laborartige Charakter würde die Kunst dem Leben entfremden und sich einer für die Massen unverständlichen Sprache bedienen. Noch allerdings hielt der Staat sich zurück.

Schostakowitsch war nach Beendigung des Studiums trotz des Erfolges der ersten Sinfonie in eine kompositorische Krise geraten ("Ich weiß nicht mehr weshalb, aber kurz nach Beendigung des Konservatoriums überfielen mich plötzlich Zweifel ob meiner kompositorischen Berufung. Ich konnte nicht mehr komponieren, und in einem Anfall von Enttäuschung habe ich fast alle meine Manuskripte vernichtet", schrieb er später). Vor die Entscheidung gestellt, Komponist oder Pianist zu werden, versuchte er daher letzteres. Nicht ohne Erfolg: Neben anderen wurde er auserkoren, die Sowjetunion im Jahre 1927 beim ersten Chopin-Wettbewerb zu vertreten. Trotz gesundheitlicher Schwierigkeiten erzielte Schostakowitsch ein respektables Ergebnis, kam er in die Runde der letzten acht und erhielt ein Ehrendiplom. Gleichwohl verfolgte er die pianistische Laufbahn letztlich nicht weiter.

Der Grund dafür dürfte nicht zuletzt in der wieder gefundenen Freude am Komponieren gelegen haben. Bereits Ende 1926 hatte Schostakowitsch seine kompositorische Krise überwunden. Befeuert vom futuristischen Zeitgeist hatte er eine Klaviersonate komponiert, die ebenso wie die folgenden Aphorismen für Klavier, in ihrem experimentellen Charakter der oben genannten Aufbruchstimmung vollends entsprach. Für Schostakowitsch musste es wie eine Bestätigung erscheinen, dass er bald schon, im März 1927, seinen ersten Kompositionsauftrag erhielt. Er wurde offiziell vom Staat beauftragt, anlässlich des zehnten Jahrestages der Revolution ein symphonisches Werk zu schreiben. Dem Werk zugrunde liegen sollte ein propagandistisches Gedicht von Besymenski. Schostakowitsch mochte das Gedicht nicht, fand es schlecht. Trotzdem nahm er den Auftrag an. Dass er hierdurch propagandistischer Auftragskomponist der Sowjetregierung wurde, schreckte ihn nicht. Im Gegenteil sah er die russische Führung damals noch positiv.

Obgleich die Uraufführung am 5. November 1927 ein Erfolg war - wer hätte ein Werk zur Feier der Oktoberrevolution, in dem Lenin gepriesen wird, auch zu kritisieren gewagt? -, wurde die Sinfonie weitaus weniger gespielt als die erste. In den dreißiger Jahren verschwand sie vom Spielplan. Sie passte nicht mehr zur herrschenden Musikauffassung. Erst 1965 wurde sie wieder gespielt.

2. Werkbeschreibung:

Die Symphonie besteht aus einem Satz von knapp 20 Minuten Dauer. Allerdings war mit ihr kein Bruch mit der klassischen viersätzigen Form bezweckt. Schostakowitsch hatte das Werk ursprünglich gar nicht als Symphonie angesehen, es erst später als solche betrachtet.

Obwohl einsätzig ist die Symphonie doch gegliedert in Einleitung, Scherzo, Fugato und Vokalteil. Einleitung, Scherzo und Fugato haben experimentellen Charakter, sind mit ihrer teils ausgeprägten Wildheit der Klangwelt des Futurismus zuzuordnen. Der mit einer Fabriksirene (Stichworte: Urbanismus, Maschinenmusik) eingeleitete Vokalteil hingegen entspricht ganz den Vorgaben der Linken: Er beinhaltet simple, pathetische Vokalmusik, mit der Lenin und der Kommunismus verherrlicht werden. Die zweite Sinfonie ist somit als Kompromiss zwischen den beiden oben genannten Strömungen - einerseits futuristische Avantgardemusik, andererseits massenkompatible Vokalmusik - entstanden.

Die Einleitung erinnert stark an den Beginn des Rheingolds: Anfangs dunkel und langsam treten nach und nach immer mehr Instrumente hinzu, jeweils kleinere, auch höhere Notenwerte spielend, so dass bei wachsender Komplexität der Eindruck eines anwachsenden Rauschens entsteht, das mehr und mehr bedrohlich wirkt. Vor dem Hintergrund dieses Rauschens spielt eine Trompete einzelne Töne, die so weit auseinander gezogen sind, dass sich eine Melodie nicht einstellen will. Die Lautstärke und die Spannung wachsen weiter, bis schließlich der erste Höhepunkt erreicht wird.

Nach gut vier Minuten beginnt das Scherzo, wie der Abschnitt trotz fehlender Heiterkeit und vorherrschender Dissonanzen gern genannt wird. Zur Solovioline treten Klarinette und Fagott hinzu. Es erklingt aber kein munteres Trio, sondern die Musik wird zunehmend spannungsreicher, lauter, greller, wilder und endet schließlich in einem zweimaligen Ausbruch, der zweite nach kurzer Ruhepause extrem gewalttätig.

Bei Barshai nach 6:42 Minuten beginnt das Fugato. Zu den Streichern treten nach und nach immer mehr Instrumente, Stimmen hinzu. Eine höchst interessante zunehmende Verdichtung des Klangbildes erfolgt, die schließlich in etwas mündet, das Schostakowitsch eine 27-teilige Ultra-Polyphonie genannt haben soll. Fünf Streichergruppen, 20 Blasinstrumente und zwei Schlagzeuge spielen unterschiedliche Linien. Laut Meyer, der von dreizehn Stimmen schreibt, entsteht am Schluss des Fugatos ein ungewöhnlicher Klangeffekt: Die Polyphonie werde zu einem einzigen vibrierenden Klangfleck, ähnlich einem beweglichen Cluster.

Nach einer ruhigen Episode - es sei nicht verschwiegen, dass ich im Netz die sich angeblich auf einen Brief Schostakowitschs stützende Auffassung gefunden habe, Schostakowitsch beschreibe hier den Tod eines Kindes; eine Auffassung, die ich vor dem Hintergrund dessen, was ich höre, für wenig wahrscheinlich halte - beginnt, eingeleitet von Fabriksirene und Pauke, der letzte Abschnitt der Symphonie. Die Musiksprache ändert sich völlig. Fort ist der experimentelle Charakter, ist die Komplexität, ist die Moderne. Die Musik ist einfach, fast schon simpel, pathetisch, heroisch. Erzählt wird vom Hunger, vom Kampf, von der Kommune, von Lenin. Der Tonfall fällt des Öfteren ins Deklamierende, Skandierende. Assoziationen an eine Volksmenge entstehen. Am Ende schreit der Chor den Namen Lenins.

3. Interpretationen auf CDs

Zunächst sei auf die unter folgendem link zu findende Zusammenstellung hingewiesen, wo auch die Cover der Aufnahmen und Angaben zu der Dauer der Sätze zu finden sind:
http://develp.envi.o...dsch/work/sym2e.html

Sodann sei eine Vorbemerkung erlaubt: Die Diskrepanz zwischen dem dritten und dem vierten Teil entspricht frappierend dem zwischen den eingangs genannten Strömungen. Die Ultra-Polyphonie steht für die futuristische Avantgarde, der Vokalteil für die linke, einfache Massenmusik. Zentrale Interpretationsaufgabe ist daher die Auslotung des Verhältnisses zwischen den Teilen drei und vier. Im Wesentlichen gibt es zwei Interpretationsmöglichkeiten:

Einerseits kann die Vielstimmigkeit des dritten Teils als negatives Sinnbild des aus sowjetischer Sicht schädlichen, die Bürgerlichkeit prägenden Individualismusses verstanden werden. Der abschließende Vokalpart wäre dann im Kontrast dazu positiv zu verstehen, pathetisch und heroisch. Bei diesem Verständnis müsste der dritte Teil betont kakophon gespielt werden. Im vierten Teil dürfte keine Trübung zu hören, müsste der Heroismus ungebrochen sein.

Andererseits könnte das Verhältnis genau umgekehrt verstanden werden: Die Ultrapolyphonie wäre dann etwas Positives, eine bereichernde Vielgestaltigkeit, der folgende Vokalpart hingegen primitiv und hohl. Bei diesem Verständnis müsste Teil drei zwar vielstimmig, aber nicht kakophon gespielt werden. Die Primitivität des Vokalteiles müsste herausgearbeitet, bloßgelegt werden. Er klänge nicht mehr heroisch, sondern hohl.

Zu den CDs:

Ich besitze folgende:

Barshai, WDR Sinfonie-Orchester, Brilliant-Gesamtaufnahme, aufgenommen 1995
Kondrashin, Moscow Philharmonic Orchestra, Melodiya-Gesamtaufnahme, aufgenommen 1972

Barshai gelingt eine hervorragende Aufnahme. Der Klang ist sehr gut, die Durchhörbarkeit vorbildlich. Die Einleitung wird wunderbar gespielt, der allmähliche Aufbau der Spannung gelingt Barshai sogar besser als Kondrashin, der in Sachen Spannungsaufbau eigentlich nicht zu schlagen ist. Der dritte Teil ist ebenfalls äußerst gelungen. Die Polyphonie klingt im obigen Sinne schön, nicht schrill und kakophon. Die Fabriksirene ist markant gesetzt, ist deutlicher ein Signal als bei Kondrashin. Der Chor, leider, singt wenig idiomatisch. Von der Aussprache her richtig, hört man doch sofort, dass die Sänger keine Muttersprachler sind (Anmerkung: Ich spreche zwar nicht Russisch, hatte es aber als zweite Fremdsprache). Aber, und das ist viel wichtiger: Es wird eine Aussage getroffen. In der Art, in der Barshai den Chor singen lässt, hat der Hörer von soviel heroischem Pathos schnell genug. Solch Dauerjubel in hohen Lagen nervt. Überdies entsteht der Eindruck, als singe der Chor mit angezogener Handbremse, als stünde der Chor nicht hinter dem Gesungenen.

Anders bei Kondrashin , dessen Aufnahme gemessen an der sonstigen Gesamtaufnahme-Qualität erstaunlich gut klingt. Bei ihm findet der geneigte Hörer den typischen russischen Orchesterklang. Das Blech ist schmetternder, die Flöten schneidender, das Holz körniger, die Streicher knarziger, die Trommeln militärischer als bei Barshai. Auch deshalb klingen bei Kondrashin der zweite und dritte Teil deutlich aggressiver. Der dritte Teil wirkt grell und schrill. Der vierte Teil wird von einem wunderbaren Chor mit Enthusiasmus und Inbrunst wunderschön gesungen. Nun ja, es ist die sowjetische Sicht der Dinge – die Aufnahme entstand 1972. Sie dürfte die authentische sein, da Schostakowitsch wie dargestellt, zurzeit der Entstehung der Sinfonie der Sowjetführung noch positiv gestimmt war. Mir aber ist die Interpretation von Barshai - darf ich sagen die sowjetkritische? - tausendmal lieber.

4. Die zweite Sinfonie ist unbestritten eine der schwächsten von Schostakowitsch. Ich höre sie sehr, sehr selten. Und wenn, schalte ich oft bei Beginn des Vokalteiles ab. Interessant finde ich sie aber doch. Missen möchte ich sie nicht.

Wie geht es euch mit der zweiten Sinfonie? Gibt es überhaupt jemanden, der sie ab und zu hört?

Übrigens: Den Text des Vokalteiles konnte ich im Internet nicht finden. Für einen Link wäre ich sehr dankbar.

Thomas
s.bummer
Hat sich gelöscht
#2 erstellt: 18. Jun 2006, 21:38
Hallo und
danke Thomas.
Die 2. gehört für mich zu den unverzichtbaren Werken von Schostakowitsch, sie ist in vielen Dingen eindeutig zukunftsweisend.
Der anfängliche Klangteppich ist weniger Wagner, vielmehr erklingt hier ein Kanon in 13 Stimmen, der (Detlev Gojowy) Ligetis Atmospheres atmen läßt.
Die Fabriksirene findet sich dann auch später bei Edgar Varese und wenn man seine knapp vorher entstandene Oper "Die Nase" sowie die Ballette hinzunimmt, so finde ich, dass sich Schostakowitsch mit an der Spitze der damaligen Avantgarde befand.
Dieser Schostakowitsch existierte bis einschließlich der 4. Sinfonie, die er schon nicht mehr aufzuführen wagte. Sie kam bekanntlich erst 1961 ans Licht der Welt.
Danach wurden sein heiterer, greller Witz und seine Lust am Provozieren und Ausprobieren seltener und die Stimmung der Werke aufgrund bekannter Ereignisse dunkler und dunkler.

Ich habe die Aufnahme der 2. mit Roshdestwenski und Haitink und finde letztere überlegen. Vielleicht auch, weil bei Haitink der Bezug zu der modernen Musik stärker zu spüren ist.
Gruß S.

PS. Der Text zur Zweiten liegt der Haintink Aufnahme bei.
Hier auf Deutsch: (Ich verkneife mir jegliche Bewertung außer)

Wir marschierten und forderten Arbeit und Brot,
unsere Herzen gepackt im Schraubstock der Not,
Farbikschlote ragten zum Himmel empor,
wie Hände noch nicht zur Faust geballt
Die schrecklichen Namen unserer Fesseln:
Schweigen und Leiden
Unser Aufschrei der Trauer durchbrach das Schweigen
lauter als aller Kanonendonner
O Lenin:
Aus der Qual hast Du Freiheit geschmiedet
Freiheit aus unseren geschundenen Händen
Wir lernten, Lenin, von Dir unser Schicksal:
Kampf, Kampf
Kampf hat uns schließlich die Freiheit gebracht
Kampf, belohnt mit dem Sieg der Arbeit.
Niemand wird je uns den Sieg wieder rauben
über Bedrückung und Finsternis
Jung und tapfer sei jeder im Kampf
Der Name des Siegs sei Oktober
Oktober verkündet das Morgenrot
Oktober heißt Freiheit in kämpfenden Zeiten
Oktober ist Arbeit, Freude, Gesang
Oktober ist Glück auf dem Feld, an der Werkbank
Die Parole lautet: Oktober und Lenin
die neue Zeit, und Lenin
die Kommune und Lenin
Thomas228
Stammgast
#3 erstellt: 19. Jun 2006, 11:33
Hallo s.bummer,

vielen Dank für das Aufschreiben des Textes. Wenn ich das so lese... Kein Wunder, dass Schostakowitsch das Gedicht schlecht fand!

Dem, was du zu Schostakowitschs Stellung in der Avantgarde geschrieben hast, stimme ich voll zu. Leider, leider gibt es in der zweiten Sinfonie das beschriebene massenkompatible Element, ist die Sinfonie letztlich ein Kompromiss. Was hätte für ein Werk entstehen können, wenn Schostakowitsch frei hätte komponieren können, wenn die ganze Sinfonie das Niveau der Teile eins und drei hätte! Andererseits: Ohne den offiziellen Auftrag wäre die Sinfonie gar nicht entstanden. Und, worauf du zu Recht hinweist: Es gibt ja immer noch "Die Nase".

Gruß, Thomas


[Beitrag von Thomas228 am 19. Jun 2006, 11:36 bearbeitet]
teleton
Inventar
#4 erstellt: 19. Jun 2006, 13:58
Hallo Thomas,

Dein mehr als für die Sinfonie Nr.2 angemessen gewesene weitere aufschlußreiche Beitrag ist fast interessanter als das Werk selbst.

Meine Aufnahmen mit Roshdestwensky (Eurodisc), Barshai (Brillant) und Kondraschin (Eurodisc - LP) habe ich natürlich alle mal gehört.
Aber im Gegensatz zu s.bummer ((was mich nicht wundert, denn bei uns gibt es in der Musikauffassung offenbar jede Menge Gegensätze )) höre ich die Sinfonie Nr.2 nicht sehr gerne und oft.
Wenn sie mal dran kommt, dann in der agressiven , mit ungeheurer fast gewalttätiger Energie aufgeladen Roshdestwensky-Aufnahme - diese dokumentiert den "einzigartigen Feueratem des jungen Schostakowitsch"(Zitat).
Die Barshai und Kitaenko-Aufnahmen bleiben in der Bläserattake wieder weit hinter den russ.Aufnahmen zurück.

Ob Haitink, wirklich hinter der Sinf.Nr.2 stand, wage ich zu bezweifeln. Die Chor- und Orchesterleistung sind TOP - aber reicht das für ein Werk wie die Sinf.Nr.2 aus ??? - Man höre Kondraschin und Roshdestwensky im Vergleich.

Schostakowitsch befand sich bei den Sinf.Nr.2 und der noch schwächeren Nr.3 in einer Testphase, die mit der Sinfonie Nr.4 wieder in eine große Orchestersprache mündete, die dort einfach zufrieden macht. das sie erst 1961 zur Aufführung kam hat politische Gründe. Das Schostakowitsch immer "dunkler und dunkler" wurde, wie Bummi schreibt, finde ich nicht - ich möchte nur an die mit Witz und Ironie ausgestattete Sinf.Nr.9 erinnern. Die nachfolgenden Werke werden immer Gegenteil immer besser und haben einen großen Kontrast zueninander, die sie unverwechselbar machen. Auf Grund der Thematik/Programm sind natürlich die Sinfonien Nr.11 und 12 mit sehr düsteren Sätzen ausgestattet, aber das ist Programm.

Ganz wichtig ist aber Schostakowitsch´s Meinung zu seiner 2.Sinfonie:

Schostakowitsch verleugnete später das Werk - ich bin aber der Überzeugung, daß das nichts mit dem Thema zu tun hatte (er hätte sonst auch das "Lied der Wälder" verleugnen müssen), sondern mit dem in der neuen Sowjetästhetik geradezu verbrecherischen ästhetischen Ansatz.

Zitat
Siehe auch den von s.bummer abgeschriebenen Gesangs-Text der Sinfonie Nr.2 dazu.
Thomas228
Stammgast
#5 erstellt: 20. Jun 2006, 07:38
Hallo teleton,

ich kenne das Zitat, kann es aber leider nicht zuordnen. Woher stammt es? Wer ist das „ich“, das die Verleugnung nach dem Gedankenstrich kommentiert? Wolkow?

In jedem Falle: Vorsicht!

Gerade bei Schostakowitsch verbietet sich die Gleichsetzung von womöglich offiziellen Verleugnungen mit der wirklichen Meinung von Schostakowitsch. Schostakowitsch hat sich regelmäßig wie von ihm erwartet, gar abverlangt geäußert. Das, was er in solchem Zusammenhang sagte, ist schwerlich seine Meinung. Oftmals hat er die von ihm unterzeichneten (Propaganda)Papiere nicht einmal gelesen. Selbst die Briefe muss man zwischen den Zeilen lesen. Schostakowitsch war eine Person von öffentlichem Interesse. Er stand unter Beobachtung und war sich dessen bei jeder Meinungsäußerung bewusst.

Im konkreten Fall halte ich die Gleichsetzung von Verleugnung und Meinung für nicht überzeugend. Wie der Kommentator in dem von dir wiedergegebenen Zitat („ich“) halte ich es für nahe liegender, dass Schostakowitsch sich bei dieser Verleugnung taktisch verhielt in dem im folgenden Zeitungsausschnitt wiedergegebenen Sinne (Berliner Morgenpost vom 21.12.02):


Schostakowitschs 5. Sinfonie ist so etwas wie die auskomponierte Selbstanzeige. Er hat sie «eines Sowjetkünstlers Antwort auf berechtigte Kritik» genannt. Er schmähte sich sicherheitshalber selbst. Er wollte schließlich nicht den mörderischen Säuberungen zum Opfer fallen, die das öffentliche Leben seiner russischen Heimat blutig nach Konterrevolutionären durchkämmten. Schostakowitsch verleugnete sicherheitshalber sein früheres, aufsässiges Werk. Er sprach den ästhetischen Forderungen des Tags nach dem diktatorischen Munde, doch dies auf unverwechselbar genialische Weise.


Unabhängig davon habe auch ich gelesen, dass Schostakowitsch später mit der zweiten Sinfonie unzufrieden gewesen sein soll. Nur ist eine solch pauschale, undifferenzierte Unzufriedenheit wenig aussagekräftig. Womit genau war Schostakowitsch unzufrieden? Ich weiß es nicht. Wie in den vorangegangenen Beiträgen ausgeführt, halte ich Teile der Sinfonie Nr. 2 für herausragend gut, andere, insbesondere den Vokalteil, für herausragend schlecht. S.bummer hat ebenfalls nicht die gesamte Sinfonie gelobt, sondern nur den avantgardistischen Teil. Es wäre doch möglich, dass Schostakowitsch das ähnlich sah.

Vielleicht schämte er sich auch in späteren Jahren, nach dem Durch- und Überleben des stalinistischen Terrors, dafür, ein Propagandawerk zu Ehren der Sowjetunion, der ja bereits damals Stalin vorstand, geschrieben zu haben, ekelte er sich gar?. Vielleicht war er auch nur damit unzufrieden, dass die zweite Sinfonie über Jahrzehnte nicht aufgeführt wurde, färbte die Unzufriedenheit mit dem Nichtaufführen gewissermaßen im Wege der Schattenprojektion ab auf die Sinfonie selbst? Vielleicht ging es Schostakowitsch nur um technische Aspekte, kompositorische Probleme, die der fortgeschrittene Schostakowitsch besser gelöst hätte – so erscheinen mir die Übergänge zwischen den einzelnen Teilen zuweilen etwas plump. Wir wissen es nicht. Alles ist reine Spekulation.

Gruß, Thomas
s.bummer
Hat sich gelöscht
#6 erstellt: 20. Jun 2006, 18:56
Hallo,
eine ganz gute Einführung in die Bedeutung der ersten 5 Sinfonien findet man bei
http://www.siue.edu/~aho/musov/reccom/reccom.html
und auch bei
http://de.wikipedia.org/wiki/Dmitri_Schostakowitsch
Ich denke, die dortigen Kommentare helfen auch bei der Einordnung der 2.
Gruß S.


[Beitrag von s.bummer am 20. Jun 2006, 20:10 bearbeitet]
teleton
Inventar
#7 erstellt: 28. Jun 2006, 10:59
Hallo Schostakowitsch - Kenner,

ein alter Kollege und Klassik-Freund hatte mir mal erzählt, dass er die Sinfonie Nr.2 in einer Fassung mit dem Einsatz von Sirenen im Radio gehört und aufgenommen hatte.

Auf meine Mailanfrage dazu schrieb er als Antwort:

Leider kenne ich die Interpretation nicht mehr, es war eine Aufnahme aus dem Radio, die ich nicht mehr besitze. Interessant ist jedoch, dass Schostakowitsch Sirenen in der Sinfonie vorgab und nur als 2te Lösung an der besagten Stelle Kesselpauken vorsah (nach meinen Informationen jedenfalls).


Wer kennt diese Fassung und ggf.die Aufnahme mit Sirenen ?
s.bummer
Hat sich gelöscht
#8 erstellt: 28. Jun 2006, 22:26
Hallo,
nochmal nachgesetzt.
Wer die Zweite hört und einen großen Teil vom Werk Schostakowitschs im Kopf hat, der hört sofort (2-3 Minuten vor dem Choreinsatz) Anklänge
- an die 4. (Schluß des dritten Satzes) und an das
- Andante aus der 10.
Im Orchesterteil des Chores:
- die 5. (1. Satz)
- Ähnlichkeiten mit Copland (der mehr als 10 Jahre später eine ähnliche Sprache fand).
Im Chor und dessen Behandlung
- Sinfonie Nr. 13 Babi Jar
- Das goldene Zeitalter.
Und das findet man nach wenigem Hineinhören.

Der ganze Schostakowitsch ist mE. schon in der zweiten zu erkennen, noch nicht in der ersten.
Deshalb ist dies Werk trotz des teilweise schwer träglichen Chores so wichtig.
Dass der Meister sein Werk nicht so gelungen fand, habe ich nirgends belegt gefunden, anders als bei der dritten, aber was solls?
Auch Goethe liebte seine Farbenlehre über alles: Die Schöpfer sind beim Urteil über ihre Werke nicht immer die genauesten.
Das Problem mit der zweiten stellt sich mir so dar:
Sie ist kurz: Pech für Freunde langer Sinfonien ala Gustav (fin de siecle),
sie hat keine Wiederholungen: Pech für Freunde schöner Stellen,
sie wandert durch Stilarten. Pech an sich und
sie hat einen schlimmen Text. Tja....das wars es dann wohl.
Gruß S.


[Beitrag von s.bummer am 28. Jun 2006, 22:29 bearbeitet]
op111
Moderator
#9 erstellt: 20. Jun 2007, 21:15
Hallo zusammen,

erst einmal herzlichen Dank an Thomas für seinen - was sage ich, für alle seine kenntnisreichen und ausführlichen Beiträge. (Verspätet, da sie in meine DSch-arme Zeit fielen)

Thomas228 schrieb:
Wie geht es euch mit der zweiten Sinfonie? Gibt es überhaupt jemanden, der sie ab und zu hört?

Es ist wohl so, daß man die 2. bei einer Gesamtaufn. halt dazu bekommt und wie die 3. nur zufällig hört.
Ich kann mich kaum noch dran erinnern, ob ich sie nach dem Kauf überhaupt gehört habe.

Gestern allerdings habe ich man etwas genauer hingehört. So abstoßend war der Eindruck nicht.
Barschais glatte Aufnahme schien mir nicht den Charakter des Werks zu treffen,
Bei Roshdestwenskij dagegen "ging die Post ab". So muß ein wildes Jugendwerk klingen, wie "Sacre" und nicht "Apollon musagete".

Gruß
flugteo
Neuling
#10 erstellt: 03. Apr 2008, 23:52
@teleton

Die Sirene ist auf der Aufnahme mit dem Sinfonieorchester des BR, Leitung Mariss Jansons eingesetzt (EMI, 2006)
teleton
Inventar
#11 erstellt: 04. Apr 2008, 12:19
Hallo flugteo,

erstmal willkommen im HIFI-Forum und danke für die Beantwortung der Frage, welche Aufnahme der Sinfonie Nr.2 in der Sirenen-Fassung vorliegt.

Nur, die Sinfoie Nr.2 habe ich in allen Schostakowitsch -Sinfonien GA (am schlüssigsten mit Roshdestwensky).

Das Werk spricht mich aber so wenig an, dass ich mir kaum eine weitere zulegen werde und wenn die Sirenen noch so toll tönen.
flugteo
Neuling
#12 erstellt: 04. Apr 2008, 15:02
...ist eben ein Werk, das im OEuvre von Schostakowitsch "bloß" eine Erfüllungsarbeit darstellt, er fand ja selbst den zu vertonenden Text "scheußlich". Dennoch ist seine Tonsprache hier sicherlich am radikalsten (ähnlich in der "Nase"). Die Alternativlösung schreibt in der Partitur übrigens nicht Kesselpauken, sondern ein Blechbläser-Signal vor.
Martin2
Inventar
#13 erstellt: 09. Okt 2012, 18:43
Schade, hier hat ein Neuling - Dimitriwitsch- heute einen nicht uninteressanten Beitrag verfaßt, aber offensichtlich gelöscht, was ich sehr schade finde. Ist dieses Forum so einschüchternd, daß man in einer Überskupulösität etwas löscht, für dessen Löschung gar kein Grund besteht? Ich hatte mir heute mal wieder Schostakowitschs 2. angehört, angeregt durch Dimitriwitschs schönen Beitrag, dessen wichtigster Gehalt wohl der war, daß dieses "proletatarische" Chorfinale gar nicht so "primitiv" ist, wie man denkt, selbst an deren Tonalität hegte Dimitriwitsch Zweifel, bzw stellte sie schlicht in Abrede. Eine faszinierende Partitur, aber nichts, was man öfter hören mag vielleicht.

Ich habe übrigens Barschai, Janons ( die Boxen) und Slowak. Heute hörte ich den Slovak.

Dimitriwitsch, bitte melde Dich!!!
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