Selbstkommentare von Komponisten

+A -A
Autor
Beitrag
Thomas228
Stammgast
#1 erstellt: 24. Aug 2007, 12:53
In dem Thread Neue Musik schrieb AladdinWunderlampe:


Was die von Dir mehrfach angesprochenenen Selbstkommentare Rihms betrifft, so berührst Du meiner Meinung nach ein sehr spannendes Thema. Ich frage mich nämlich unter anderem

- ob Musik grundsätzlich kommentarbedürftig ist,
- inwieweit Komponistenkommentare unserer Hören der betreffenden Musik verändern, und - wenn ja - ob dies für unsere Wahrnehmung dieser Musik immer positiv ist,
- ob Komponisten privilegierte Kommentatoren ihrer Musik sind oder nur eine (möglicherweise sogar fragwürdige oder falsche) von vielen möglichen Ansichten auf dievon ihnen komponierte Musik anbieten,
- ob es ein Maß für das Gelingen eines Werkes ist, inwieweit es den im Komponistenkommentar artikulierten Intentionen entspricht.



Ich halte diese Fragen ebenfalls für interessant und eröffne daher diesen Thread. Vermutlich enthalten die Fragen Stoff genug für eine Dissertation, so dass wir nicht hoffen können, die Fragen auch nur annähernd erschöpfend zu erörtern. Vielleicht gelingt uns aber eine Annäherung. Ich beginne mit einigen Gedanken:

1) Ist Musik grundsätzlich kommentarbedürftig?

Bedürftig zu welchem Zweck? Um die Musik genießen zu können? Um sie richtig verstehen zu können? Gibt es überhaupt das richtige Verständnis?

Zwangsläufig ergeben sich Differenzierungen:

- bzgl. der Art der kommentierten Musik: Absolute Musik dürfte weniger kommentarbedürftig sein als Programm-Musik. Musik des Barock oder der Wiener Klassik dürfte weniger kommentarbedürftig sein als Neue Musik.

- bzgl. der Art des Kommentars: Ist er eine Beschreibung oder Erklärung des musikalischen Geschehens mit musikwissenschaftlichen Termini oder geht es um außermusikalische Hinweise (z.B.: Im zweiten Satz geht es um den Tod meines Kindes?

- bzgl. der Vorbildung des Hörers: Inwieweit besitzt er musikalisches Vorwissen? Ist er vertraut mit der Lebenswelt, der die Sinfonie entstammt? (Extrembeispiel: Jemand, der noch nie etwas von Gott gehört hat, der die Bibel nicht kennt, wird den Sinn der h-moll-Messe nicht nachvollziehen können).

Zwischenergebnis: Musik kann kommentarbedürftig sein. Sie ist es umso mehr, je programmatischer die Musik und je ungebildeter der Hörer in musikalischer und in allgemeiner Hinsicht ist.

2) Inwieweit verändern Komponistenkommentare unser Hören der betreffenden Musik? Falls ja, ist dies für unsere Wahrnehmung dieser Musik immer positiv?

Meines Erachtens haben Komponistenkommentare, soweit sie über das Erklären des rein musikalischen Vorgangs hinausgehen, kaum Einfluss auf das Hören der Musik. Die Wahrnehmung des jeweiligen Hörers ist derart subjektiv und kann derart verschieden sein, dass ein derartiger Kommentar das Hören kaum verändern dürfte.

Vielleicht sollte man aber auch hier unterscheiden: Das Empfinden beim Hören bleibt unberührt, das Verstehen der Musik, die Gedanken über die Musik verändert bzw. verändern sich.

3) Sind Komponisten privilegierte Kommentatoren ihrer Musik? Oder bieten sie nur eine (möglicherweise sogar fragwürdige oder falsche) von vielen möglichen Ansichten auf die von ihnen komponierte Musik an?

Auch hier sollte man differenzieren, um was für eine Art Kommentar es sich handelt. Geht es nur um Erklärungen der musikalischen Vorgänge, ist der Kommentator egal – solange er es versteht, zu kommentieren. Geht es um Geheimwissen welcher Art auch immer, ist der Komponist selbstverständlich privilegiert. Man braucht sich nur mal auszumalen, welche Fragen man seinem Lieblingskomponisten zu bestimmten Werken stellen würde, dann fällt die Antwort leicht. Möglich ist allerdings auch, dass das Werk größer wird als der Künstler. Es ist in der Kunstgeschichte keine Seltenheit, dass das sprachliche Vermögen mit der speziellen künstlerischen Ausdrucksfähigkeit nicht Schritt gehalten hat.

Im Übrigen kann ein falsches Verständnis für den Genuss eines Werkes durchaus förderlich sein. Auch ich denke bei der Peer Gynt-Suite lieber an einen Sonnenaufgang in Skandinavien als an einen in der Wüste.

Andererseits ist – an das oben ausgeführte anknüpfend – zu berücksichtigen, dass der Komponist ein anderer Mensch ist als der Hörer. Sein Verständnis des Werkes kann ein ganz anderes sein als das des Hörers. Seine Verständnis hilft dem Hörer dann nicht weiter, es stört sogar.

4) Ist es ein Maß für das Gelingen eines Werkes, inwieweit es den im Komponistenkommentar artikulierten Intentionen entspricht?

Hier sind beide Antworten möglich, denke ich. Aus Sicht des Komponisten lautet die Antwort: Aber selbstverständlich. Aus Sicht des Hörers: Das muss nicht sein. Ist das Werkverständnis des Hörers ein anderes, mag das Nichtgelingen den Hörer nicht stören. Geht es allerdings um die Schilderung ganz naturalistischer Vorgänge, z. B. das Plätschern eines Gebirgsbaches, sollte es sich allerdings nicht nach einem trüben Rinnsal anhören.

So, fertig fürs erste. Ich hüte mich davor, das soeben Geschriebene noch einmal zu lesen und zu verbessern - das könnte ewig dauern - und sehe erst einmal, was euch einfällt.

Thomas
enkidu2
Inventar
#2 erstellt: 24. Aug 2007, 21:34
Na dann versuche ich mal an einer Antwort, und folge Deinen Fragen.

ad 1) Ist Musik grundsätzlich kommentarbedürftig?

Zumindest glauben es diejenigen, die Werkeinführungen oder Werkanalysen schreiben sowie die Verfasser von Booklets. Vielleicht liegt es ja an der mangelnden Vorbildung der Hörer wie Du erwähnst, aber so wie manche schreiben, kann ihnen der ungebildete Hörer gerade deshalb nicht folgen. Festzustellen ist hierbei aber, dass díe Kommentatoren hier kaum zwischen Absoluter und Programm-Musik unterscheiden, will sagen, im Zweifelsfall sogar in Absoluter Musik ein Programm oder zumindest Anklänge an Parallelen zu Phasen im Leben des Komponisten zu hören glauben.

Natürlich ist das Vorwissen manchmal erforderlich, wer einen musikalischen Spass als solchen nicht versteht, überhört die Pointe. Und wenn man das Original nicht kennt, kann auch ein Zitat nicht wiederkennen.

Und selbst Absoluter Musik liegt ja manchmal ein Programm zugrunde, weniger ein erzählerisches denn ein konstruktives. Sprich: der Bauplan ist das Programm.

ad 2) Inwieweit verändern Komponistenkommentare unser Hören der betreffenden Musik? Falls ja, ist dies für unsere Wahrnehmung dieser Musik immer positiv?

Zumindest erweitern sie unsere Wahrnehmung der Musik. Ich möchte bewusst nicht Verändern sagen, denn ich kenne für mich Fälle, wo die Aussage des Komponisten neben meine eigene Wahrnehmung/Empfindung tritt, ohne dass ich diese nach Kenntnis der Auffassung des Komponisten nunmehr als falsch ansehe. Ähnlich wie in der Malerei finde ich auch in der Musik, dass durchaus mehrere Auffassungen wahr sein können. Das ist ja vielleicht das Reizvolle an Musik, vor allem der Musik ohne Worte, dass es nicht um die eine verbindliche wahre Auffassung geht, sondern das Raum für die eigene Wahrheit gegeben ist, unabhängig davon, was andere als wahr empfinden. Kann mir jemand folgen?

Manchmal können die Kommentare von Komponisten aber auch sehr ernüchternd sein, wenn man alles nur eben nicht das herausgehört haben mag. Mir fällt jetzt allerdings kein konkretes Beispiel ein. Würde das meine Wahrnehmung ändern? Vielleicht, als ich jetzt versuchen würde, das zu hören, von dem der Komponist behauptet, es wäre drin, ich aber beim besten Willen nicht hören kann.

ad 3) Sind Komponisten privilegierte Kommentatoren ihrer Musik? Oder bieten sie nur eine (möglicherweise sogar fragwürdige oder falsche) von vielen möglichen Ansichten auf die von ihnen komponierte Musik an?

Gibt es eigentlich Fälle, in denen Komponisten widersprüchliche Aussagen zu ihrem Werk abgegeben haben? Bin dafür zu wenig belesen.

Im Deutschunterricht wurde mir mal eingetrichtert, dass in einem Werk eines Autors mehr stecke, selbst wenn dieser es verneine, da er die unbewussten Einflüsse ignoriere.

ad 4) Ist es ein Maß für das Gelingen eines Werkes, inwieweit es den im Komponistenkommentar artikulierten Intentionen entspricht?

Ich glaube es kommt zum einen darauf an, ob man als Hörer erst die Musik oder erst den Kommentar hört. Kommt der Kommentar zuerst, wird man das Werk mehr daran messen, inwieweit die Vorgaben aus dem Kommentar erfüllt werden, selbst wenn einem die Musik gefallen sollte. So im Stile von "Schöne Musik, aber leider das Thema verfehlt."

Bei erst nachträglich erfolgender Kommentierung hat die Musik eine Chance, für sich selber zu sprechen, d.h. auf den noch unvoreingenommenen Hörer zu wirken. Man wäre dann wohl auch eher geneigt, die Musik (bzw. exakter die eigene Wahrnehmung der Musik) gegen die Auffassung des Komponisten zu verteidigen.
Klassikkonsument
Inventar
#3 erstellt: 24. Aug 2007, 23:42
Hallo Thomas und Aladdin,
vielen Dank für diesen Thread mit zwar allgemeinen, aber trotzdem spannenden und wohl kaum je abschließend zu beantwortenden Fragen.


Thomas228 schrieb:

1) Ist Musik grundsätzlich kommentarbedürftig?


Es geht ja zunächst mal um Kommentare von Komponisten zu ihren eigenen Werken. Allgemein glaube ich wie wohl enkidu (bzw. sein Deutschunterricht), dass man den Autor in dieser Hinsicht überschätzen nicht sollte. Auch wenn er, was die äußeren Umstände der Entstehung angeht, wohl am informiertesten ist (nicht unbedingt am zuverlässigsten).

Zum Teil klingt für mich aber auch noch eine Frage an, die vielleicht zu sehr von diesem Thread ablenkt. Nämlich inwieweit Musik "an sich" wirken kann.
Also z. B. ob man Moll-Tonarten auch dann als eher traurig verstehen würde, wenn man diese Assoziation nicht von Kindesbeinen an beigebracht bekäme. Dann wäre die Auslösung von Traurigkeit durch bestimmte Klänge eine "ewige Wahrheit", so wie ja manchmal behauptet wird, die herkömliche Dur-Moll-Harmonie sei für den Menschen natürlich, alle Abweichungen von ihr widersprächen seiner Natur.
Nun ist die letztere Behauptung zwar ziemlich platt und durch Beispiele aus verschiedenen Gegenden und Epochen leicht zu widerlegen. Aber bei mir stellt sich ein seltsames Gefühl ein, wenn ich mir vorstelle, dass mich eine Musik mitreißt oder langweilt, weil mir Kommentare bzw. der aktuelle gesellschaftliche Diskurs mir Klänge auf irgendeine Weise erklärt hat. Sicher sind Gefühle wandelbar, aber gibt es nicht doch einen natürlichen, übersubjektiven Kern, wenn mich Musik unmittelbar anspricht? Aber dann gäbe es ja darüber keinen Streit.
Das war jetzt leider keine Antwort, sondern eine weitere Frage.

zu 2)

Meines Erachtens haben Komponistenkommentare, soweit sie über das Erklären des rein musikalischen Vorgangs hinausgehen, kaum Einfluss auf das Hören der Musik. Die Wahrnehmung des jeweiligen Hörers ist derart subjektiv und kann derart verschieden sein, dass ein derartiger Kommentar das Hören kaum verändern dürfte.

Vielleicht sollte man aber auch hier unterscheiden: Das Empfinden beim Hören bleibt unberührt, das Verstehen der Musik, die Gedanken über die Musik verändert bzw. verändern sich.

Das sehe ich nicht ganz so. Jeder schiebt zu einer Musik wohl seinen privaten Film. Aber wenn der Komponist den seinigen preisgibt, neigt man leicht dazu, dass er damit ausplaudert, was die Musik zu bedeuten hat.
Doch Programme haben ja das Problem, dass sie schön und gut sein können - darum muss die dazu komponierte Musik noch lange nicht gut sein. Umgekehrt kann die Musik begeistern, ohne dass man versteht, was die mit dem (langweiligen) Programm zu tun haben soll.
zu 3) Sind Komponisten privilegierte Kommentatoren ihrer Musik? Oder bieten sie nur eine (möglicherweise sogar fragwürdige oder falsche) von vielen möglichen Ansichten auf die von ihnen komponierte Musik an?

enkidu2 schrieb:
Und selbst Absoluter Musik liegt ja manchmal ein Programm zugrunde, weniger ein erzählerisches denn ein konstruktives. Sprich: der Bauplan ist das Programm.

Ich höre gerne Fugen, aber eine horizontale Umkehrung kriege ich vielleicht gerade noch so mit und einen Krebs habe ich noch nie gehört. Diese Kunststücke muss ich also gar nicht erkennen, um Spaß beim Hören zu haben. Sie sind für mich erstmal so belanglos wie die Auskunft, welche Farben Messiaen oder Skrjabin beim Hören ihrer Werke gesehen haben (und das ist wohl auch von Synästhetiker zu Synästhetiker verschieden).
Allerdings würde sich mein Spaß wohl noch vertiefen, wenn ich "struktureller" hören könnte.

Das war's erstmal von mir.

Viele Grüße
vom
Klassikkonsumenten
Klassikkonsument
Inventar
#4 erstellt: 26. Aug 2007, 00:13
Hoffentlich habe ich euch nicht mit meinem langem Beitrag verwirrt oder gar das Thema doch vollständig erschöpft (kann ich allerdings nicht glauben).

Alkoholisierte Grüße vom Klassikkonsumenten
Thomas228
Stammgast
#5 erstellt: 26. Aug 2007, 11:29
Hallo Klassikkonsument,

ob du uns verschreckt hast? Nein, keine Rede davon.

Ich finde die Gedanken von dir und enkidu2 anregend.

An enkidus Beitrag finde ich besonders interessant, dass er den Zeitpunkt erwähnt, in dem der Hörer den Kommentar des Komponisten zur Kenntnis nimmt. Tatsächlich macht es wohl einen großen Unterschied, ob der Hörer die Gelegenheit hat, zunächst einen eigenen Zugang zu finden.

Gerade bei Musik der Wiener Klassik finde ich es z.B. zum Verständnis wichtig, den Aufbau des Sonatenhauptsatzes zu kennen. Vermutlich ging es Aladdin aber nicht um das musikalische ein mal eins, sondern um darüber hinausgehende Kommentare, in der Regel mit außermusikalischem Inhalt.

Ein Fall, in dem ein Komponist widersprüchliche Aussagen zu seinem Werk abgegeben haben, fällt mir auf die Schnelle ebenfalls nicht ein. Schostakowitsch hat dies getan, aber das hatte besondere politische Gründe, gehört also in einen anderen Zusammenhang.

Ohnehin scheinen mir die Komponisten ein erhebliches Problembewusstsein bzgl. der Abgabe von Kommentaren oder Programmen zu haben. Mahler hat seiner ersten Sinfonie zunächst nolens volens ein Programm beigefügt, es später aber wieder zurückgezogen. Schostakowitsch hat nur äußerst ungern und nur sehr selten über seine Musik gesprochen. R. Strauß wollte das Programm zu Till Eulenspiegel zunächst nicht herausgeben. Und auch Rihm zeigt mit seinen Kommentaren, die in dem Neue Musik-Thread z.T. wiedergegeben wurden, Problembewusstsein.

Ganz sicher gibt es Werke, die ohne Kenntnis ihres Programmes, ihres Sollens nicht verstanden werden können. Ein Hörer, der Cages "4,33" hört, ohne zu wissen, was das soll, wird verständnislos bleiben. Till Eulenspiegel oder auch die Alpensinfonie gewinnen meines Erachtens durch die Kenntnis des jeweiligen Programms.

Ohnehin bin ich jemand, der "Geschichten" zur Musik gern hat. Ich lese Komponistenkommentare zu ihren Werken immer mit großem Interesse. Das bedeutet nicht, dass ich mit dem Gesagten immer einer Meinung bin. Horizonterweiternd sind sie aber zumeist.

@Klassikkonsument:
Die Frage, wie Musik an sich wirkt, ist ähnlich zu beantworten, wie die nach dem unverfälschten Geschmack. Es gibt ihn, aber er wird schon sehr früh durch äußere Einflüsse verändert. Die Frage, welche Intervalle als harmonisch empfunden werden, ist ein gutes Beispiel, hat sich musikgeschichtlich hier doch manches getan.

Wer ist schon in der Lage, einen Krebs herauszuhören? Ich bin es nicht. Fugen sind ab einem gewissen Grade nicht mehr zum Hören gemacht, habe ich irgendwo mal gelesen. Ja, da ist etwas dran. Es gibt ja auch zahlreiche Hinweise auf Nummerologie in Bachs Werk. Kommentare dazu sind mir persönlich trotzdem völlig schnuppe.

Gruß, Thomas
Martin2
Inventar
#6 erstellt: 22. Sep 2007, 21:23
1. Ist Musik kommentarbedürftig?

Ich halte Musik nicht für kommentarbedürftig. Gute Musik ist immer mehr als es jeder Kommentar sein könnte. Wenn Thomas schreibt, daß neue Musik kommentarbedürftiger sei als alte, so macht mich das sehr mißtrauisch - gegenüber der neuen Musik.

Allerdings schätze ich es schon, wenn ein Musiker einen Text auch vertonen kann, etwa in einer Oper oder in einem Lied. Das ist eine besondere Begabung, hier zwei künstlerische Ebenen miteinander verbinden zu können. Allerdings ist der Text eines Lieds nicht der Kommentar zum Lied. Sondern es ist eben eine andere künstlerische Ebene.

Von wirklich "kommentarbedürtiger Musik" halte ich nichts, man muß sich einer Musik auch einfach hingeben können. Man muß sich einhören, sicher, aber mehr darf eine Musik auch nicht von mir verlangen. Da bin ich konservativ. Gut, Hinweise zum Aufbau eines Stücks ( Sonatensatzform und dergleichen) können nicht schaden.

Ich habe ja auch diverse Musikführer. Den Konzertführer, den Kammermusikführer, den zweibändigen Klaviermusikführer und den Orgelmusikführer - alles von Reklam. Ich weiß nicht, ob diese Musikführer immer so besonders herausragend sind, aber ich benutze sie schon. Sie helfen bei dem Verständnis von Musik. Aber es ist durchaus nicht so, daß ich sie immer benutze, ich tue es manchmal, aber nicht ständig, wenn ich es mit mir neuer Musik zu tun habe.

Das scheint ein Widerspruch zum oben gesagten zu sein, daß Musik nicht kommentarbedürftig wäre. Ich sehe im Kommentar von Musik aber letzlich auch nur eine Unterstützung. Letzlich denke ich, ist jeder Kommentar überflüssig, er kann einem nur manchmal den Zugang zu einem Werk erleichtern, in vielen Fällen ist es auch einfach nur so, daß er erst einmal nur Interesse weckt.

Ich nehme diese Musikführer auch nicht zu ernst, zuweilen befleißigen sie sich auch einer mir zu grellen Sprache, etwa wie ich neulich las, die Opus 59 von Beethoven hätten eine "bestürzende Konzeption". Ich finde an den Opus 59 nichts "bestürzend", schon gar nicht an ihrer Konzeption, ich halte sowas für musikkommentatorische Grellheiten, für Übertreibungen, die zunächst einmal das Interesse wecken sollen und sich sehr gewichtig geben.

2. Inwieweit verändern Komponistenkommentare unser Hören der betreffenden Musik?

Sie verändern sie aber immer zum Positiven? Die naiven Kommentare Bruckners zu seiner Musik sind ja ganz reizend, sie verführen aber dazu, den musikalischen Intellekt Bruckners völlig zu unterschätzen, der sicher sehr groß war. Umgekehrt kann aber ein Komponist mit schweitschweifigen eloquenten Worten auch die Tatsache verstecken, daß er als Komponist eigentlich eine ziemliche Null ist. Also ich halte davon gar nichts.

3. Sind Komponisten priviligierte Kommentatoren ihrer Musik?

Ich weiß nicht, Kommentare von Komponisten zu ihren Werken sind mir irgendwie kostbar. Die Betonung liegt hier auf dem "irgendwie". Ein Komponist muß kein guter Kommentator seiner Werke sein, aber es ist mir kostbar, etwas von ihm zu seinem Werk zu finden. Dabei kann ein Komponist auch ein miserabler Kommentator sein, das schadet nichts, es ist eine Quelle aus erster Hand. Aber ein gutes Werk ist eben mehr als jeder Kommentar, auch der des Komponisten. Robert Simpson macht sich etwa über die Brucknerschen Kommentare ( ich glaube speziell der 4. ) ein wenig lustig. "Die Musik ist soviel mehr als diese Brucknerschen Programme" schreibt er.

4. Ist es ein Maß für das Gelingen eines Werkes, inwieweit es den im Komponistenkommentar artikulierten Intentionen entspricht?

Klares Nein. Es sei denn vielleicht in der Oper, wo es schon der Fall sein mag, daß ein Künstler eine dramatische Handlung nicht gestalten kann. Was taugen eigentlich die Schubertschen Opern? Ich weiß es nicht, ich kann mir eigentlich nicht vorstellen daß ein musikalischer Gigant wie Schubert da einfach nur Mist abgeliefert hat, aber wir erfahren es ja nicht, wir erfahren nur: Schubert war definitiv kein Operndramatiker.
Aber ansonsten wiegesagt klares Nein. Der Wert eines Werkes ist nur an ihm selbst zu messen, nicht an seinen Intentionen.


[Beitrag von Martin2 am 22. Sep 2007, 21:27 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#7 erstellt: 03. Okt 2007, 23:04
Hallo zusammen,

ohne konkret auf die bisherige Diskussion einzugehen, möchte ich zwei Dinge betonen, die meiner Meinung nach eine wichtige Rolle spielen:

1. Programmmusik vs. absolute Musik. Die Unterscheidung, die hier auch schon das ein oder andere Mal getroffen wurde, finde ich absolut wichtig. Handelt es sich um "erzählende" Musik oder um "reine" Musik? Dieser Unterschied -- oder das, was diesem Unterschied zu Grunde liegt --, so wage ich mal in die Runde zu werfen, ist fundamental auch über die Musik hinaus: so gibt es gegenständliche und abstrakte Malerei; es gibt induktives und deduktives Schließen; es gibt "bottom-up" vs "top-down"; es gibt Empirie und Theorie; ... Etwas Prosaischer: man kann sich den Dingen aus der praktischen, gestalterischen, tätigen Richtung nähern, man kann aber auch eine logische, rationale Position einnehmen. Das meine ich alles ohne Wertung. Es sind einfach verschiedene Ausgangspositionen für das künstlerische (und, wenn das, was ich vorher behauptet habe stimmt, auch wiisenschaftliche, gesellschaftliche, ...) Wirken. Wer, als Maler, von der rein theoretischen Prämisse ausgeht, dass die Grundformen allein Dreieck, Kreis und Quadrat sind, wird wohl bei suprematistischer Malerei alá Malewitsch oder abstrakter Malerei alá Mondrian landen. Einen bottom-up Zugang findet man beispielsweise bei Kandinsky und Konsorten. Nun scheint es so zu sein, dass der theoretische, also absolute, nicht-erzählende, Zugang zur Musik erheblich kommentarbedürftiger ist als sein Gegenstück. Warum? Vielleicht weil der Mensch aus irgendeinem Grunde äußerst gut darin ist, Bedeutung aus etwas zu ziehen, oder Bedeutung in etwas hineinzulegen, das "über etwas geht". Der Mensch, auch als Musikhörer, ist ein semantisches Wesen. Kommt es allein auf die Form, die Syntax, an -- absolute Musik --, sieht es schon schlechter aus. Strukturen sind schwer zu hören. Hier brauchen wir Hinweise.

2. Stellung des Künstlers in seiner Zeit. Die Rolle von Musik hat sich natürlich im Laufe der Jahre (Jahrhunderte) verändert. Vor dem Tonbandgerät und dem Plattenspieler konnte man Musik nur live hören, d.h. im Konzert, in der Kirche oder bei der Hausmusik. Die Rezeption von Musik war entsprechend: ein Komponist konnte davon ausgehen, dass jeder potentielle Hörer einen Grundstock an Kircheliedern oder berühmten anderen Kompositionen oder auch an Kompositionstechniken (Kanon, Tonartwechsel, etc.) hatte. Auf dieser Grundlage war bedeutunsvolles Komponieren natürlich gut möglich. Was, wenn diese Grundlage wegfällt, wie es in unserer Gegenwart der Fall ist? Dann können wir "alte" Musik nicht mehr ohne Weiteres hören -- wir brauchen einen Kommentar (man vgl. viele Werke von Bach). Aber was machen Komponisten von heute? Im Gegensatz zu viel früher fehlt ihnen das (verständige) Publikum. Die Live-Musik-Praxis, dem Publikumsgeschmack, dem sich auch jemand wie Bbeethoven ausgesetzt sah, gibt es nicht mehr.
Konzerte sind nicht mehr die einzige Art, Musik zu genießen; Konzerte sind nicht mehr die einzige Art, mit Musik Geld zu verdienen. Damit fehlt auch das Publikum als "Kompositions-Korrektiv". Das muss man nicht beklagen; im Gegenteil gibt es viele Argumente dafür, dass diese Entwicklung der Musik gut tat. Aber fest steht eines: Musik und Hörer haben sich entfernt. Kein Gegenwartskomponist kann sich sicher sein, das das Publikum (so er eines hat!) sich der 12-Ton-Musik und der seriellen Komponierweise sicher ist (so wie Bach sich auf die Kenntnis bestimmter Kanons verlassen konnte). Solche Kommunikation zwischen Komponist und Hörer kann nicht funktionieren. Acuh hier besteht Kommentarbedarf, um das mindeste zu sagen.

Was ist das Fazit daraus? Vielleicht dieses: Kommentarbedarf von Musik ist DAS Anzeichen für eine Entfremdung von Musik (Komponist) und Hörer. Und als solches ist das Problem gar kein Kommentarproblem mehr, sondern ein pädagogisches und kulturelles Problem in Umgang, Stellung und Vermittlung von Musik.

Man, jetzt werde ich ein bisschen Depri! Trotzdem Grüße, Mellus
Martin2
Inventar
#8 erstellt: 04. Okt 2007, 12:35
Hallo Mellus,

Du schreibst, es fehle heute, im Zeitalter der Tonkonserve, das verständige Publikum. Da mag was dran sein, es ist zum Beispiel schon schade, daß die alte Tradition der Hausmusik ein bißchen ausgestorben ist.

Nur: Sehe das mit der Konserve auch mal positiv. Bruckner hatte mit seiner gewiß sehr schwierigen Musik große Probleme, sich durchzusetzen. Hätte es zu jenen Zeiten schon die Tonkonserve gegeben, wäre das vielleicht anders gewesen.

Der große Vorzug der Tonkonserve: Du kannst Dir in einer Spitzeninterpretation etwas immer und immer wieder anhören. Du kannst Dir jede Zeit der Welt nehmen, um Musik weiter und immer weiter zu erforschen ( gerade auch sinfonische Musik, wer hat schon bei sich zu Hause jederzeit ein Sinfonieorchester parat).

Insofern muß man doch auch die positiven Seiten der Tonkonserve sehen. Ich glaube jedenfalls nicht, daß die Schwierigkeiten der modernen Musik ausschließlich an der Unverständigkeit des Publikums liegen.

Der Welterfolg von Goreckis 3. liegt sicher nicht nur darin begründet, daß dies einfache Musik ist, sondern daß die melodisch und harmonisch gefällige Musik ist. Das ist ganz einfach die Musik, die das allgemeine Klassikpublikum schätzt und liebt. Das Komische daran ist, daß ich den Verdacht habe, daß Goreckis 3. in ihrer außerordentlichen Einfachheit eher ein Rückschritt als ein Fortschritt ist. Mahlers 9. meinetwegen, empfinde ich schon als anspruchsvoller als dieses Teil von Gorecki.

All das ist offtopic. Aber auch Dein Beitrag war ein wenig offtopic. Wir sollten das vielleicht im Thread über neue Musik weiterdiskutieren. Ich sollte vielleicht mal in der Hamburger Bücherhalle gucken, was die denn so an Werken moderner Musik hat. Vielleicht kommen wir über Avantgarde ja doch noch mal ins Gespräch; ich mag sie eigentlich nicht, ich denke auch, daß sie etwas ist, was das Konzertpublikum deutlich spaltet. Am meisten reizen würde mich übrigens dieses König Lear von Aribert Reimann, das habe ich mal gehört und mir hat es damals auch gefallen, nur leider hatte ich mir dies auf einer schrottigen Musikcassette mitgeschnitten, die inzwischen längst im Orkus verschwunden ist. Komponisten wie Lachenmann sagen mir jedenfalls wenig.

Es kann allerdings sein, daß ich bei einem neuen Versuch, mich mit moderner Musik auseinanderzusetzen, am Ende auf Avantgarde genauso ablehnend reagiere wie vorher. Im Grunde genommen reizt mich der Lachenmann auch gar nicht so sehr, ich kenne ihn ja nicht. Mich würde es wenn überhaupt, dann wohl zum Beispiel eher reizen, mich mit der Sinfonik von Karl Amadeus Hartmann auseinanderzusetzen. Oder mit Oliver Messiaen. Es gibt einfach unendlich viel Musik und Du kannst schlicht nicht alles kennen, auch nicht alles gute, bei weitem nicht!

Gruß Martin
Mellus
Stammgast
#9 erstellt: 05. Okt 2007, 20:35
Hallo Martin,

ja, da sagst Du etwas: es gibt wirklich wahnsinnig viel gute Musik! Ich fürchte auch, dass es zu viel ist für ein Menschenleben. Leider. Dieser Eindruck wird dummerweise auch nicht gemildert, wenn ich mir den "Noch-zu-Hören"-Stapel CDs in meinem Regal oder meine Wunschlisten ansehe!

Mit Reimann bin ich noch nie in Berührung gekommen; von Hartmann kenne ich immerhin die "Sinfonia tragica". Und die finde ich richtig gut! (Es ist ja nicht so, dass man nur Neue Musik hören muss...)

Ich wollte übrigens auch keinesfalls den Eindruck erwecken, dass Tonkonserven den Untergang der Menschheit einläuten. Im Gegenteil: was wären wir ohne LPs, CDs, etc.! Ich habe mich nur gefragt, WARUM Musik kommentarbedürftig sein könnte. Mal angenommen, sie ist es. War das schon immer so? Ich habe natürlich keine Zeitmaschine, daher weiß ich die Antwort letztlich nicht. Aber ich habe mir ausgemalt, dass früher (ich weiß nicht, bis 19. Jh. oder so) der Austausch zwischen Komponist und Hörer viel direkter war. Und das dieser Austausch dazu beigetragen hat, die Musikkultur zu regulieren. Hörer gehen (und bezahlen!!) nur in Konzerte, in denen sie unterhalten werden. Unterhalten werden sie in Konzerten, die den Hörer in seiner Hörerfahrung abholen und dazu ein Quäntchen (ja, neue Rechtschreibung!) Überraschung bieten. Das heißt, dass allzu avantgardistische Werke genauso ausgebuht worden waren wie allzu konservative. Das ist zunächst mal unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um Konzerte oder um Tonträger handelt. Es geht um diesen Austausch zwischen Musikproduzent (Komponist) und Musikkonsument (Konzertbesucher, CD-Käufer). Der Produzent hat eine gewisse Unterhaltungspflicht (im positven, durchaus anspruchsvollen Sinne), der Konsument beurteilt die Erzeugnisse des Produzenten. (Viele Werke waren ja auch Auftragswerke. Da musste der Produzent gewisse Normen erfüllen, um die Kohle zu kassieren.) In diesem -- ich nenne es mal durch meine rosarote Brille so -- Ökosystem haben sich also Musikhörer und Musikmacher gegenseitig beeinflusst. Irgenwann hat sich dann die Stellung des Künstlers aus diesem Kreislauf verabschiedet. Und damit wurde der Hörer abgehängt. Das musss man noch nicht einmal bedauern; für den Künstler kann das durchaus berfreiend sein und es hat uns bestimmt viele außergewöhnliche Kunstwerke beschert. Nur gibt es da jetzt diese Kluft zwischen Eingeweihten und anderen. Diese Kluft, und das sollte der ganze Gag des vorherigen Beitrages sein, erzeugt Kommentarbedarf. Irgendwann haben sich Hörer und Komponist aus den Ohren verloren. Indizien dafür: wieviele Uraufführungen finden auf den Konzertbühnen statt? Was sind die meistgespielten Komponisten? Es hat den Anschein, als sei der Hörer etwa 80 Jahre (!) (!!) (!!!) hinter der Musikproduktion hinterher. Das 20. Jh. ist erst noch dabei, in den Konzertkanon aufgenommen zu werden (hat der Metzmacher nicht gerade Stress wegen seiner Pfitzner-Aufführungen? -- Zugegeben, hier gibt es noch einen anderen Hintergrund -- dessen ungeachtet wird trotzdem ständig Wagner und Strauss gespielt...). Von dem was unter Neuer Musik -- also mehr oder weniger der musikalischen Gegenwart -- firmiert ganz zu schweigen. Wer zu Beethovens Zeit hätte denn CPE Bach oder Haydn hören wollen?

Zugegeben, auf die Fragen, die das Thema ausmachen, habe ich nicht direkt geantwortet. Insofern ist das hier off-topic. Auch ist es ein bisschen auf die Musik der Gegenwart gerichtet. Da hast Du sicher recht. Das Thema schien mir allerdings eine historische Dimension zu haben, und an der lag mir.

Im Übrigen halte ich Neue Musik nicht für schwieriger oder komplexer als andere (klassische (im weiten Sinne)) Musik. Hey, Bach hat 6-stimmige (!) Fugen komponiert, komplexer geht es ja kaum. Und das war vor etwas 400 Jahren! Neue Musik bedient sich nur einer Ästhetik (naja, vieler Ästhetiken), die nicht mehr im kulturellen Alltag der Musikwelt ein Echo findet. Und das liegt wahrscheinlich nicht nur an der Musik...

Beste Grüße,
Mellus
Martin2
Inventar
#10 erstellt: 06. Okt 2007, 09:28
Hallo Mellus,

ich kann mich da nur wiederholen: Ich glaube letzlich nicht an "kommentarbedürftige" Musik, Musik also, deren Sinn sich mir nicht von selbst erschließt, sondern die erst eines Kommentars bedarf.


Es hat den Anschein, als sei der Hörer etwa 80 Jahre (!) (!!) (!!!) hinter der Musikproduktion hinterher. Das 20. Jh. ist erst noch dabei, in den Konzertkanon aufgenommen zu werden


Na ja, da gibt es aber doch wohl die große Ausnahme Dimitri Schostakowisch. Der starb ja in den 70ern und seine Musik hat sich wirklich vollkommen durchgesetzt. Schostakowitsch dürfte heute einer der populärsten Komponisten überhaupt sein. Auch Prokofiev dürfte durchgesetzt sein, desgleichen Messiaen und sicher auch Britten. Kann sein, daß sich Pfitzner noch nicht so durchgesetzt hat, aber Richard Strauss sicher schon und der war ja ein absoluter Zeitgenosse und vielleicht eben auch das größere Talent.

Also das mit dem "wir hängen 80 Jahre hinter der Entwicklung her" kann so ganz nicht stimmen. Was sich eben nie so wirklich durchgesetzt hat, ist die Avantgarde.

Natürlich muß man eben auch sagen, daß die Konzertprogramme der Konzertsäle äußerst phantasielos sind und daß da nur immer wieder dieselben Werke gespielt werden.

Und natürlich hörst Du auch heute solche Bemerkungen in Klassikforen wie: Ich höre Musik nur bis zu den 20 ern oder 50ern des vergangen Jahrhunderts. Diese Haltungen sind mir durchaus bekannt. Aber diese Haltungen ändern sich auch so nach und nach.

Aber sind Konzertprogramme überhaupt noch so wichtig? Wir haben CDs und wir haben das Internet, jeder kann sich über Musik so weit wie möglich informieren und es gibt gigantische CD Kataloge. Und Musik, die hier ihre Interessenten findet, wird sich letztenendes auch durchsetzen. Auch wenn Malcolm Arnold es meinetwegen nicht in die deutschen Konzertsäle schafft, er wird doch hier in Deutschland seine Fans haben und die werden dieses musikalische Erbe auch weitertragen. So leicht gerät da nichts mehr in Vergessenheit.

Gruß Martin
Klassikkonsument
Inventar
#11 erstellt: 10. Okt 2007, 14:11
Hallo Martin,


Martin2 schrieb:
Was sich eben nie so wirklich durchgesetzt hat, ist die Avantgarde.


ein interessanter Aspekt bei der Akzeptanz der Avantgarde sollte aber auch nicht vergessen werden: einige "junge" Leute, die mit Klassik im weit verbreiteten Sinne (Mozart, Verdi, Brahms) kaum bis gar nichts anfangen können, sind der Avantgarde gegenüber durchaus aufgeschlossen. Schließlich gibt es da noch andere Übergänge als Brahms, Wagner, Mahler und Busoni:

- im Bereich des Jazz etwa Lennie Tristano, ein Pianist, der bereits in den 40'ern des letzten Jahrhunderts mit "Free Jazz" anfing; dann Ornette Coleman, der 1960 mit einem Doppelquartett eine Platte mit dem Namen "Free Jazz" aufnahm; der dabei vertretene Eric Dolphy ist auch noch nicht ganz vergessen; von John Coltrane, Cecil Taylor oder Archie Shepp mal zu schweigen - und der verhältnismäßig mainstreamige Charlie Parker hat bei der Entwicklung dorthin schon eine gewisse Rolle gespielt

- im sogenannt "subkulturellen" Bereich von Punk und elektronischer Musik (in dem ich mich noch weniger gut auskenne) wäre wohl u. a. unbedingt die provokative Band "Throbbing Gristle" aus Großbrittanien zu erwähnen. Oder "Merzbow" aus Japan(?).

Viele Grüße
Martin2
Inventar
#12 erstellt: 10. Okt 2007, 17:17

Klassikkonsument schrieb:
Hallo Martin,


Martin2 schrieb:
Was sich eben nie so wirklich durchgesetzt hat, ist die Avantgarde.


ein interessanter Aspekt bei der Akzeptanz der Avantgarde sollte aber auch nicht vergessen werden: einige "junge" Leute, die mit Klassik im weit verbreiteten Sinne (Mozart, Verdi, Brahms) kaum bis gar nichts anfangen können, sind der Avantgarde gegenüber durchaus aufgeschlossen.


Dieses Phänomen ist mir durchaus vertraut. Ich kenne selber zwei Personen aus meinem Bekannten/Freundeskreis, die gerne moderne Musik hören, aber mit der gesamten Tradition eigentlich nichts anfangen können.

Umgekehrt ist es aber so, daß sehr viele Klassikliebhaber mit avantgardistischer Musik gar nichts anfangen können. Das geht dann soweit, daß viele Klassikliebhaber die Avantgarde am liebsten gar nicht zur Klassik zählen möchten, sondern als eine eigene Gattung ansehen, ähnlich wie Rock oder Jazz.

Allerdings glaube ich nicht, daß alle Musik nach dem zweiten Weltkrieg zur Avantgarde gerechnet werden muß, es gibt da mit Sicherheit "gemäßigte Avantgardisten" wie Dutellieux, Messiaen oder Hartmann, oder auch einen solchen Komponisten wie Malcolm Arnold, der zwar gelegentlich auch schon mal etwas moderner klingt, aber eigentlich von allem Avantgardistischen völlig unbeleckt ist.

Gruß Martin
Mellus
Stammgast
#13 erstellt: 10. Okt 2007, 18:11
Hallo,

der Punkt mit der unterschiedlichen Akzeptanz von Avantgarde durch verschiedene Hörergruppen ist mit auch schon begegnet. Wahrscheinlich betrifft das nicht nur Komponisten und Werke, sondern sogar Aufführungen/Einspielungen. Wer hörtechnisch eher im 20. Jh. zu Hause ist, wird wohl auch bei den Großmeistern der Romantik (wenn er sie denn hört) modernere Einspielungen denjenigen der großen, berühmten Dirigenten, die ja mit wenigsten einem Bein in der romantischen Musiziertradition verwurzelt sind, vorziehen. Vielleicht brauchen die aber einfach nur die richtigen Kommentare zur Romantik!
Martin2
Inventar
#14 erstellt: 11. Okt 2007, 20:59
Hallo Mellus,

in meiner Jugend war ich für die ganze Avantgarde auch offener. Irgendwie hat sich mein Geschmack da auch verlagert. Ich war zum Beispiel mal in einem reichlich ausgefallenen Konzert mit russischer Filmmusik. Schnittke hat mir da am besten gefallen, Schostakowitsch gar nicht. Es mag sein, daß ich mich Schnittke noch mal widmen werde.

Ich weiß aber zum Beispiel auch gar nicht, welche zeitgenössischen Komponisten heute hoch gehandelt werden. Henze, Reimann und Stockhausen sind schon ziemlich alt. Lachenmann ist mir ein neuer Name. Fortner wird vermutlich schon tot sein?

Ich habe nur einen Bekannten, der macht in einem "öffentlichen Kanal" Sendungen mit Kompositionen der Hamburger Musikhochschule mit jungen Hamburger Komponisten. Habe da mal rein gehört und fand es nur zum Weglaufen.

Ich weiß auch gar nicht, ob die jungen Komponisten von heute überhaupt noch ein solides handwerkliches Können lernen. Dieses Gefühl, daß mich bei moderner Kunst beschleicht, daß diese modernen Künstler eigentlich gar nichts können, beschleicht mich auch bei jungen Komponisten. Charles Ives, Arnold Schönberg und seine Schüler, Skrjabin ( kann man den eigentlich auch schon unter die Avantgardisten rechnen) haben ein solides handwerkliches Können im klassisch romantischen Stil gehabt, sie haben ja als Spätromantiker angefangen.

Gruß Martin
Mellus
Stammgast
#15 erstellt: 16. Okt 2007, 20:07
Hallo Martin,

Martin2 schrieb: (irgendwie sehen diese Quellenanmerkungen bei Euch anders aus; mache ich da was falsch?)

Schnittke hat mir da am besten gefallen, Schostakowitsch gar nicht


Ich muss zugeben, dass ich Schnittke nicht kenne, daher kann ich dazu gar nichts sagen. Schostakowitsch kenne ich natürlich schon. Ich finde es überraschend, dass Du den, mit Verweis auf "Avantgardeverdacht", gar nicht mochtest. Die kompositorischen Mittel, die Schostakowitsch einstetzt, scheinen mir eher konventionell zu sein. Und in diesem Sinne war auch der 80-Jahre-Spruch gemeint:

Martin2 schrieb:




Es hat den Anschein, als sei der Hörer etwa 80 Jahre (!) (!!) (!!!) hinter der Musikproduktion hinterher. Das 20. Jh. ist erst noch dabei, in den Konzertkanon aufgenommen zu werden


Na ja, da gibt es aber doch wohl die große Ausnahme Dimitri Schostakowisch.


(Ähm, die vielen Ausrufezeichen wirken bei Licht betrachtet doch etwas albern (jetzt würde ich gerne ein Emoticon einfügen, weiß aber nicht recht welches für Peinlichkeit steht) ) Die 80 Jahre waren vielleicht auch übertrieben. Einen Bruch mit der Tradition kann man vielleicht am ehesten am historischen Bruch festmachen, dem Jahre 1945. Zeitpunkte sind natürlich immer ein problematisches Kriterium. Im Einzelfall muss man da wohl Ausnahmen anerkennen, aber als Orientierunspunkt ist es vielleicht nicht schlecht. Schönberg war z.B. etwas eher und der hat ja was anderes gemacht. Vorher stand Komponieren schon sehr im Zeichen oder zumindest in der Fortführung der Romantik (Tavener?). Avantgardisten haben dann nach neuen Wegen gesucht. Z.B. durch Rückwendung auf alte Komponiertechniken (Pärt) oder durch das Erschließen von bisher unbenutzen Klangwelten (Lachenmann). Ich könnte mir vorstellen, dass ein Grund warum solche Musik abgelehnt wird ist, dass sie unangemessen gehört wird. Sonatenform und thematisch-motische Arbeit kann man da nicht unbedingt erwarten. Wenn man mit solchen Ohren daran geht, kann das ja nur in Enttäuschung enden. Und hier versuche ich nochmal die Kommentarkurve zu kriegen: ein Hinweis darauf, wie die Musik denn gehört werden kann, kann vielleicht hilfreich sein, da wir uns nicht mehr auf unsere Hörerfahrung und den musik-kulturellen Hintergrund verlassen können. Das sind die "happy new ears" (Hans Zender) von denen im Neue-Musik-Thread schon die Rede war.

Martin2 schrieb:

ich kann mich da nur wiederholen: Ich glaube letzlich nicht an "kommentarbedürftige" Musik, Musik also, deren Sinn sich mir nicht von selbst erschließt, sondern die erst eines Kommentars bedarf.


Wahrscheinlich hast Du damit sogar recht. Wenn ich mir zu diesem Thema den Luxus einer Meinung leisten würde, wählte ich auch diese. Aber einfach zustimmen ist ja langweilig! Vielleicht kann man ja doch einen Kommentarbedarf ans Tageslicht kitzlen. Folgende, nicht so originelle Analogie, möchte ich in die Runde werfen:

Wenn wir ein Röntgenbild betrachten können wir (vorausgestzt wir sind kein Radiologe oder ähnliches) das schön finden oder nicht, sehen bestimmte Formen, achten auf bestimmte Details. Aber vielleicht entgeht uns etwas entscheidendes: nämlich die feine Linie, die einen Knochenbruch anzeigt. Oder wir bemerken sie, wissen aber nicht, was sie bedeutet. Erfassen wir dann den Sinn des Röntgenbildes? Hier würde ein kurzer Kommentar das Verständnis enorm erleichtern bzw. verbessern. Ähnliches (klar, soll ja eine Analogie sein), so die Behauptung, spielt auch in der Musik eine Rolle.

Martin2 schrieb:

Habe da mal rein gehört und fand es nur zum Weglaufen.


Oh ja, solche Konzerte kenne ich auch! Vor einigen Monaten konnte ich ein Konzert mit Neuer Musik besuchen. Zwei Komponisten wurden vorgestellt. Der eine hat wirklich tolle Musik gemacht, auch leicht zugänglich, da Progammusik. Die andere hat ziemlich extreme Stücke für Soloschlagzeug komponiert. Da wünschte ich mich bisweilen auch weit weg.

Viele Grüße,
Mellus
Martin2
Inventar
#16 erstellt: 16. Okt 2007, 22:10

Mellus schrieb:



Schnittke hat mir da am besten gefallen, Schostakowitsch gar nicht


Ich muss zugeben, dass ich Schnittke nicht kenne, daher kann ich dazu gar nichts sagen. Schostakowitsch kenne ich natürlich schon. Ich finde es überraschend, dass Du den, mit Verweis auf "Avantgardeverdacht", gar nicht mochtest. Die kompositorischen Mittel, die Schostakowitsch einstetzt, scheinen mir eher konventionell zu sein.



Hier scheint möglicherweise ein Mißverständnis vorzuliegen. Schostakowitsch gehört für mich zu den überaus geschätzten Komponisten. Mein Zitat bezog sich nur auf dieses Konzert, das ich besucht habe, mit russischer Filmmusik. Natürlich kann man aus so einem Konzert auch noch nicht unbedingt Schlüsse ziehen. Ich hatte jedenfalls nach dem Konzert den Verdacht, daß Schostakowitsch Filmmusik nicht so ganz ernst genommen hat. Das klang äußerst konventionell.

Mit Schnittke wiederum kann ich mich nicht befreunden, kenne aber wenig von ihm, diese Filmmusik in diesem einen Konzert hat mir dagegen gut gefallen.

Ich reibe mich ein bißchen an dem Satz "Die kompositorischen Mittel, die Schostakowitsch einsetzt, scheinen mir eher konventionell zu sein." Ich störe mich doch sehr an diesem Wort "scheinen". Ja sicher, die kompositorischen Mittel "scheinen" konventionell zu sein. Ich wage jedoch die Behauptung, daß weder Du noch ich es wirklich beurteilen können, inwieweit Schostakowitsch konventionell ist oder nicht.

Wenn ein Komponist ein Quartett für 3 Trillerpfeifen und eine Maulbeertrommel einsetzt, erkennt es jeder ( ich könnte auch schreiben "jeder Idiot") , daß dies "unkonventionell" ist. Wenn ein Komponist dagegen etwas schreibt, was nicht allzu disharmonisch klingt, meint gleich jeder, daß dies konventionell sei. Ich kann das bei Schostakowitsch überhaupt nicht beurteilen und ich vermute, Du auch nicht. Wenn wir jedoch schon beim "scheinen" sind, so kann ich nur sagen, daß mir Schostakowitsch als Komponist durchaus nicht so konventionell zu sein scheint. Ich glaube er ist in vielerlei Hinsicht, Instrumentation, formaler Aufbau von Werken, vielleicht auch Harmonik durchaus originell.

So, daß wollte ich nur loswerden. Ich wollte Dich da auch nicht angreifen, ich finde nur, man sollte vorsichtig sein, wenn man auf Grund eines oberflächlichen Höreindrucks meint, etwas wäre "konventionell".

Gruß Martin


[Beitrag von Martin2 am 17. Okt 2007, 00:06 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#17 erstellt: 17. Okt 2007, 16:16

Hier scheint möglicherweise ein Mißverständnis vorzuliegen. Schostakowitsch gehört für mich zu den überaus geschätzten Komponisten.


Ah! Alles klar, ich habe das tatsächlich falsch verstanden.

Die Einschätzung von Schostakowitsch als "konventionell" gründet sich einfach auf drei Punkte: (1) es gibt immer eine Grundtonart, (2) er verwendet meist traditionelle Satzformen, (3) seine Originalität spielt er mit den Mitteln aus (1) und (2) aus. Das alles sind Kennzeichen konventioneller Musik. Aber Du hasst natürlich zumindest auf mich bezogen recht damit,


daß weder Du noch ich es wirklich beurteilen können, inwieweit Schostakowitsch konventionell ist oder nicht.


Mir fallen gleich drei Gegengründe ein: Schostakowitsch unterläuft z.B. in einigen langsamen Sätzen aus seinen Sinfonien den Bezug auf eine Grundtonart. Zudem hat er tatsächlich, so habe ich es eben sicherheitshalber im Booklet nachgelesen, 12-Ton-Technik, und zwar in Sinfonie Nr. 15. Das Dritte ist, dass er ein hervorragender Instrumentator war, der wirklich Neues gemacht hat, man denke an reine Schlagzeugstücke in der "Nase". Trotzdem sind das alles Ausnahmen (ebenso wie ungewöhnlicher formaler Aufbau, der ja auch vorkommt). Daher meine Einschätzung, dass Schostakowitsch ein Konservativer ist, dem es nicht am Bruch mit der bestehenden Tradition liegt. Den Rest Unsicherheit, den das elendige Halbwissen nun mal mit sich bringt, steckte ich ins Wörtchen "scheint". Keine gute Wahl, das sehe ich ein.


Ich wollte Dich da auch nicht angreifen, ich finde nur, man sollte vorsichtig sein, wenn man auf Grund eines oberflächlichen Höreindrucks meint, etwas wäre "konventionell".


Gut, auf meiner Visitenkarte steht nicht "Schostakowitsch-Experte". Ich hoffe aber doch, dass ich glaubhaft machen konnte, dass der Einschätzung zumindest ein wenig mehr zu Grunde lag als ein "oberflächlicher Höreindruck". Was nicht heißen muss, dass sie stimmt. Um das herauszufinden sind natürlich "Angriffe" oder andere Meinungen/Argumente das einzig hilfreiche Mittel!

(Im Übrigen gehören einige Werke von Schostakowitsch zu meinen Lieblingsmusiken, dass wir uns da auch nicht missverstehen. "Konventionell" ist nicht zuletzt aus diesem Grund auch nicht (ab)wertend gemeint.)

Grüße,
Mellus


[Beitrag von Mellus am 17. Okt 2007, 16:44 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#18 erstellt: 17. Okt 2007, 23:55
Hallo Mellus,

es ist schwer zu sagen, inwieweit Schostakowitsch ein Konservativer war. Die zweite Sinfonie finde ich zum Beispiel überhaupt nicht konservativ. Tatsache ist wohl, er mußte den Stalinismus irgendwie überleben und deshalb auch Werke schreiben, die wenigstens an der Oberfläche konservativ waren. Aber 1953 war es mit Stalin vorbei und die Avantgarde hat meines Wissens auch in der Sowjetunion Einzug gehalten, wenn ich richtig informiert bin ( weiß schrecklich wenig über diese Dinge), aber Schostakowitsch hat da wohl nicht wirklich mitgemacht.

Es ist auch die Frage, wo man die Maßstäbe für Konservativismus anlegt. Pfitzner war denke ich schon sehr konservativ ( selbst unter der Berücksichtigung, daß er nicht dieselbe Generation ist), als so konservativ empfinde ich Schostakowitsch nicht. Es gab da mit Sicherheit in der Sowjetunion ganz andere Kaliber, die den reaktionären Musikgeschmack Stalins bedienten. Immerhin wurden Prokoview, Schostakowitsch und Mjaskovski bei einem dieser Scherbengerichte als Formalisten verurteilt. Lebensgefährlich unter Stalin und eine kulturhistorische Peinlichkeit ersten Ranges. Die drei sind wohl die größten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts und mußten sich unter Stalin wie die Schulbuben abkanzeln lassen. Ich finde alle drei nicht sonderlich konservativ, für mich stellen sie die geniale Mitte dar zwischen überborderndem Avantgardismus und Leuten, die wirklich konservativ waren und am liebsten im Stile Tschaikovskis weiter komponieren wollten.

All das ist auch ein Streit um Worte. Ich bin vielleicht auch reichlich konservativ, mag es aber trotzdem nicht, in eine konservative Ecke gestellt zu werden, und habe Schwierigkeiten damit, wenn Komponisten, die ich besonders schätze, in eine konservative Ecke gestellt werden.

Von all diesen Dingen weißt Du im übrigen möglicherweise mehr als ich. Es war mit Sicherheit reichlich unvorsichtig von mir zu schreiben: "das kannst weder Du noch ich beurteilen". Vielleicht kannst Du tatsächlich gewisse Dinge auch besser beurteilen als ich, so gut kenne ich Dich nicht.

Gruß Martin
Mellus
Stammgast
#19 erstellt: 18. Okt 2007, 08:19

Martin2 schrieb:
für mich stellen sie die geniale Mitte dar zwischen überborderndem Avantgardismus und Leuten, die wirklich konservativ waren


Deinem Fazit schließe ich mich ausdrücklich an! Wahrscheinlich trifft diese (mittlernde) Kennzeichnung auch am ehesten zu und nicht der Versuch, Schostakowitsch möglichst konventionell dastehen zu lassen. Zudem ist es wirklich unmöglich, und darauf weist Du zu Recht hin, Schostakowitsch losgelöst von seinem Leben in der damaligen Sowjetunion zu sehen.


All das ist auch ein Streit um Worte.


Auch hiermit hast Du wieder Recht. Irgendwie gibt es Assoziationsketten wie "neu = modern = besser = progressiv = fortschrittlich = ..." und "alt = konventionell = langweilig = schlechter = ...", die schwer zu unterlaufen sind. Und diese Ketten werden natürlich durch bestimmte, gerne auch unbedacht benutzte, Wörter angestoßen. Leider sind sie, denke ich, in den wenigsten Bereichen gültig, auf jeden Fall nicht in der Musik. Zwar gibt es eine Entwicklung, Musik aus unterschiedlichen Jahrzehnten klingt ja deutlich verschieden. Aber besser, fortschrittlicher, komplexer macht das die Musik des neueren Datums nicht. Verschiedene Aspekte der Musik haben halt zu verschieden Zeiten ihren Höhepunkt.

Von Pfitzner kenne ich nur ganz wenig, ich weiß nicht mal mehr, was. Das legt Nahe, dass es mich auch nicht so umgehauen hat. Mjaskovski, muss ich gestehen, kenne ich gar nicht: "Vielleicht kannst Du tatsächlich gewisse Dinge auch besser beurteilen als ich", möchte ich deshalb, quasi als Retourkutsche, schreiben.

Viele Grüße,
Mellus
Martin2
Inventar
#20 erstellt: 18. Okt 2007, 18:12
Hallo Mellus,

wie hat unsere Diskussion eigentlich diese Richtung genommen? Eigentlich sprachen wir über Selbstkommentare von Komponisten, von dort landet man sehr schnell bei moderner Musik, weil diese anscheinend kommentarbedürftig ist, und von dieser Diskussion landet man dann schnell beim vielleicht größten Protagonisten der noch ( fast) zeitgenössischen Musik bei Schostakowitsch. Dessen Musik fand ich übrigens nie kommentarbedürftig, obwohl die Hintergründe seines Lebens zu kennen, auch das soziale und gesellschaftliche Umfeld ( die Stalinzeit) zweifellos zur Vertiefung der Diskussion beiträgt.



Mjaskovski, muss ich gestehen, kenne ich gar nicht:


Na ja, das ist nicht ganz verwunderlich, denn die Einspielungen der Musik von Mjaskovski stapeln sich nicht gerade. Trotzdem ist es unbedingt ein genialer Mann. In erster Linie Sinfonien, 27 an der Zahl. Seine Lebensdaten habe ich nicht mehr ganz genau im Kopf, so ungefähr 1881 - 1945. Also etwas älter als Prokofjev, mit dem er befreundet war. Die Sinfonien mit Swetlanov sind angeblich aus Rußland als Import zu beziehen, natürlich teuer. Einzelnes ist natürlich auch eingespielt worden. So furchtbar klein ist die Diskographie von Mjaskovski dann auch wieder nicht. Naxos hat mit der 24. und 25. mal einen Versuchsballon gestartet, die CD bekam schlechte Kritiken, ich habe sie mir trotzdem gekauft, war aber eher enttäuscht, vielleicht auch von der Musik. Ich finde nicht alles gut, was ich von ihm kenne, da ist auch manches nicht ganz so hochwertige dabei. Ich liebe aber zum Beispiel die 22., die ich mit Swetlanov habe, war mal eine Sonderaktion von Zweitausendeins vor vielen Jahren, wovon ich die meisten Mjaskovski CDs habe. Auch die 5. und die 27. sind sehr schön, auch sein letztes Streichquartett.

Deshalb sage ich nicht: Laufe ins Geschäft und kaufe von Mjaskovski alles, was Du kriegen kannst, aber ich bin sicher, daß es sich schon lohnt, diesen Komponisten im Auge zu behalten.

Es gibt in der klassischen Musik wie Du ja auch weißt einfach unheimlich viel. Mjaskovksis Cellokonzert zum Beispiel soll sehr schön sein, ich hatte auch schon Empfehlungen dafür, es war nicht mal teuer, aber ich habe es mir dann doch nicht gekauft und jetzt habe ich vergessen, was mir da eigentlich empfohlen wurde. So läuft es schon mal.

Bei Mjaskovski ist es wohl so, daß er immer konservativer wurde je älter er wurde und das hat wohl nicht nur mit Stalin zu tun. Manche wollen da in seinen späten Werken Nostalgie heraushören. Mjaskovski hat in jedem Fall sehr schöne Musik gemacht, ohne unbedingt ein musikalischer Reaktionär zu sein. Ich mag ihn schon sehr, er ist mir irgendwie sympathisch.

Gruß Martin
Mellus
Stammgast
#21 erstellt: 02. Dez 2007, 20:49
Von Mjaskovski habe ich bisher nichts gefunden, zumindest nicht beim Stöbern im CD-Laden. Dafür ist mir ein schönes Zitat von Dieter Schnebel, einem zeitgenössischen Komponisten, untergekommen, das prima zur (Selbst-)Kommentarbedürftigkeit von Musik passt. In voller Länge:


Dieter Schnebel schrieb:
"Ich halte immer noch daran fest, daß es wichtig ist, daß Kunst Emanzipation und Befreiung ausdrückt. Aber: was mir inzwischen sicher genauso wie vielen anderen klar wurde -- und was ich sogar von vielen anderen gelernt habe -- ist eben dies: daß die Befreiungsprozesse im einzelnen Menschen doch sehr langsam vor sich gehen, und daß der Mensch dazu Hilfe braucht. Hilfe einerseits in Form von Vermittlung, indem man ihm Kunstwerke erklärt -- wie man so einfach sagt "nahebringt". Ich finde, man sollte wegkommen von Kunstdarbietungen in der Weise, daß wir Kunstwerke einfach dem Hörer vorsetzen: Da iß!"


Was fällt einem dazu ein? Zunächst Gutes: engagierte Kunst, Änderung des Individuums und der Gesellschaft. Pädagogische Kunst. Allerdings liegt mir das böswillige Wort vom "betreuten Hören" auf den Lippen (bzw. steckt in den tippenden Fingern). Dennoch: generell symphatisiere ich mit Schnebels Haltung. Manchmal (oder auch öfter) braucht es einer kleinen Nachhilfe darin, die Ohren passend auszurichten. Neue Musik braucht neue Hörer.

Grüße,
Mellus
AladdinWunderlampe
Stammgast
#22 erstellt: 02. Dez 2007, 21:17

Mellus schrieb:
Neue Musik braucht neue Hörer.



Ich würde ergänzen: "..und alte auch". Vielleicht ist es bei Guillaume de Machaut, Josquin Desprez und Carl Philipp Emanuel Bach (und möglicherweise sogar noch bei Mozart und Mahler) nur ein wenig leichter als bei Neuer Musik, zu übersehen, dass man wenig bis gar nichts versteht...
Jedenfalls habe ich bei genügend Musik auch des gängigen Repertoires das Gefühl, nichts zuverstehen. (Beispielsweise bei Sibelius. Vielleicht erbarmt sich mal jemand meiner und sagt mir, wie zum Teufel ich diese Musik hören muss?)

Happy new ears
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 02. Dez 2007, 21:39 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#23 erstellt: 02. Dez 2007, 23:31

Aladdin schrieb:


Mellus schrieb:

Neue Musik braucht neue Hörer.


Ich würde ergänzen: "..und alte auch".


Da widerspreche ich nicht. Deiner Liste möchte ich noch beispielhaft sefardische Musik hinzufügen, also Musik, die sich, aufgrund der Sefardenwanderungen, aus mindestens zwei Kulturen speist. Klingt durchaus beeindruckend, auch "schön", ist aber ethnologisch verdammt tief und auch mir fremd verwurzelt.


Aladdin schrieb:
(Beispielsweise bei Sibelius. Vielleicht erbarmt sich mal jemand meiner und sagt mir, wie zum Teufel ich diese Musik hören muss?)


Ein Trick, der zumindest bei mir zuverlässig hilft, ist, den Verstärker einfach auf stumm zu stellen!

Ein zu Scherzen, die in Richtung Wahrheit gehen, aufgelegter
Mellus


[Beitrag von Mellus am 02. Dez 2007, 23:31 bearbeitet]
Suche:
Das könnte Dich auch interessieren:
Entstehen von Vorlieben und Abneigungen in der Musik
ph.s. am 05.10.2004  –  Letzte Antwort am 21.10.2004  –  5 Beiträge
Klassische Musik soziologisch
Martin2 am 14.11.2009  –  Letzte Antwort am 18.11.2009  –  31 Beiträge
Minimalistische Musik
FabianJ am 29.05.2014  –  Letzte Antwort am 27.06.2014  –  10 Beiträge
Programm-Musik / Berlioz
Jemima am 16.01.2004  –  Letzte Antwort am 21.01.2004  –  5 Beiträge
Frühklassik - Musik für Kenner?
Martin2 am 15.03.2007  –  Letzte Antwort am 23.03.2007  –  30 Beiträge
nationale Musik?
Martin2 am 18.03.2005  –  Letzte Antwort am 11.04.2005  –  42 Beiträge
Neue Musik für historische Instrumente
FabianJ am 11.10.2014  –  Letzte Antwort am 12.10.2014  –  13 Beiträge
Interessante Links rund um die klassische Musik - eine Linksammlung
Hüb' am 25.02.2005  –  Letzte Antwort am 13.02.2018  –  63 Beiträge
Spanische Musik
Martin2 am 07.10.2012  –  Letzte Antwort am 06.11.2012  –  33 Beiträge
"Kleinmeister" der klassischen Musik
Martin2 am 20.03.2013  –  Letzte Antwort am 15.04.2013  –  136 Beiträge
Foren Archiv

Anzeige

Produkte in diesem Thread Widget schließen

Aktuelle Aktion

Partner Widget schließen

  • beyerdynamic Logo
  • DALI Logo
  • SAMSUNG Logo
  • TCL Logo

Forumsstatistik Widget schließen

  • Registrierte Mitglieder925.509 ( Heute: 11 )
  • Neuestes MitgliedRobertWapse
  • Gesamtzahl an Themen1.550.292
  • Gesamtzahl an Beiträgen21.521.169

Hersteller in diesem Thread Widget schließen