Michael H. Kater: Die missbrauchte Muse - Musiker im Dritten Reich

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stolte1969
Hat sich gelöscht
#1 erstellt: 02. Jan 2005, 20:50
Um das mal aus dem falschen Thread rauszuleiten, einfach ein neues Thema. Natürlich ist dieses Buch sehr kontrovers aufgenommen worden. Vor allem, weil er sich ungewohnt explizit gegen die vorangegangen Veröffentlichungen anderer Autoren richtet. Allerdings begründet er diese Kritik: In keinem der von ihm erwähnten vier Arbeiten (inkl. Priebergs) seien die vorhandenen Originalquellen ausreichend berücksichtigt worden und zum Teil seien aus den verwendeten Quellen die falschen Schlüsse gezogen worden. Ersteres ist ein durchaus legitime Kritik (Kater selbst hat viele bis dato nicht genutzte Archive benutzt), zweites zumindest ein nachvollziehbarer Weg, wenn ein Wissenschaftler ein Thema bearbeitet und zu anderen Schlüssen kommt.

Zum Buch selbst: Kater untersucht *nicht* die nationalsozialistische Kulturpolitik im allgemeinen, oder auch nur die Musikpolitik im speziellen. Es wird *nicht* aufgezeigt, ob, und wenn ja, wie die Nazis die Musik instrumentalisierten. Zwar werden die einzlenen Bürokratien vorgestellt, systematisch untersucht werden sie nicht (und das hat bisher leider noch keiner so richtig gemacht nach dem Motto: "Die Rolle der Musik in der Politik des Nationalsozialismus).

Kater geht es vor allem um die Verwicklung der Musiker in das Regime, um deren aktive und passive Teilhabe, ihre Instrumentalisierung durch die Diktatur oder deren Instrumentalisierung zugunsten ihrer Karriere. Beleuchtet werden verschiedenste Persönlichkeiten, z. T. in Gegenüberstellung: Knapperstbusch (PFUI!!!) vs. Clemens Krauss, Strauss vs. Pfitzner etc.

Auch die Blut-und-Boden-Musik wird angerissen (s. o. nicht systematisch), die Rolle von Goebbels und Rosenberg, Peter Raabe (DOPPEL-PFUI) etc. beleuchtet. Man erfährt Details aus der beruflichen Laufbahn von Böhm, Karajan (sehr begrenzt), Furtwängler, Schuricht etc.

Insgesamt ist es ein informatives, leicht zu lesendes Buch. Pauschalurteile à la "Der und der war ein Nazi" sind nicht zu lesen, wenn es nicht angebracht ist (und bei manchen war es durchaus angebracht).

Pauschalurteile sind sicherlich auch unpassend. Übrigens in beiden Richtungen, wobei ich oftmals überrascht bin, wie schnell und pauschal heute manche der damals aktiven Persönlichkeiten einfach reingewaschen und mit einem Heiligenschein versehen werden - sei es aus Unkenntnis oder aus Ignoranz - und beides haben wir ja schon innerhalb weniger Stunden in einem anderen Thread lesen können (von ein und derselben Person).


[Beitrag von stolte1969 am 02. Jan 2005, 22:48 bearbeitet]
plume
Hat sich gelöscht
#2 erstellt: 02. Jan 2005, 21:27

stolte1969 schrieb:
Um das mal aus dem falschen Thread rauszuleiten, einfach ein neues Thema.


Gute Idee, bin schon gespannt auf die zu erwartenden Beiträge.
AcomA
Stammgast
#3 erstellt: 02. Jan 2005, 22:42
hallo stolte1969,

ich danke dir für den hinweis auf das buch (s.o.). ich werde es mir besorgen und lesen.

hierzu eine begebenheit:

concours reine elisabeth bruxelles 1938. jury-mitglieder waren u.a. walter gieseking und arthur rubinstein. gieseking befand sich ständig in begleitung eines funktionärs. die jury-mitglieder verabredeten sich zum essen. rubinstein sagte zu gieseking, 'aber lassen sie ihren wachhund zuhause'. gieseking wurde zornig und erwiederte daraufhin, 'ich bin überzeugter nationalsozialist, adolf hitler ist der retter des deutschen volkes'(meine glücklichen jahre, arthur rubinstein). ein mann, der debussys werke so fein und duftig interpretierte, schmetterlinge sammelte und sich in seiner autobiographie als völlig naives häuflein entpuppt !

gruß, siamak
plume
Hat sich gelöscht
#4 erstellt: 02. Jan 2005, 23:57

AcomA schrieb:

concours reine elisabeth bruxelles 1938. jury-mitglieder waren u.a. walter gieseking und arthur rubinstein. gieseking befand sich ständig in begleitung eines funktionärs. die jury-mitglieder verabredeten sich zum essen. rubinstein sagte zu gieseking, 'aber lassen sie ihren wachhund zuhause'. gieseking wurde zornig und erwiederte daraufhin, 'ich bin überzeugter nationalsozialist, adolf hitler ist der retter des deutschen volkes'(meine glücklichen jahre, arthur rubinstein). ein mann, der debussys werke so fein und duftig interpretierte, schmetterlinge sammelte und sich in seiner autobiographie als völlig naives häuflein entpuppt !

gruß, siamak


Interessanter Bericht von Rubinstein! Interessant zu wissen wäre auch, warum nur Gieseking, wenn er das gesagt hat (denn - leider, oder Gott sei Dank war Rubistein bekanntermassen ein großer "parleur") sich genötigt sah, das zu sagen. Man müsste von Zeitzeugen hören, daß es üblich war - wie in der Sowjetunion - Künstlern einen "Wachhund" beizugeben. Ich frage mal bei meinen amerikanischen "alten Hasen" in dieser Sache nach. Der Wettbewerb 1938 in Brüssel hieß übrigens nicht "Reine Elisabeth", sondern "Concours international de musique Eugène Ysaye". Damals kam Gilels auf den ersten Platz, Benedetti auf den siebten... Beide, Rubinstein und Giesking, waren übrigens nur für die Finalrunde angereist. Die Finalisten waren: Emil Gilels (UdSSR), Moura Lympany (GB), Jakov Flier (UdSSR), Lance Dosser GB), Nivea Marino-Bellini (Uruguy), Robert Riefling (N), Arturo Benedetti Michelangeli (I), André Dumortier (B), Rosl Schmid (D), Monique de la Bruchollerie (F), Marcelle Booth-Barzetti (I) und Colette Gaveau (F). Wem derartige Informationen etwas bringen, der sollte sich die Publikationen von Dr. Gustav A. Alink besorgen. Er hat auch, soweit ich weiß, eine Webseite.
plume
Hat sich gelöscht
#5 erstellt: 03. Jan 2005, 15:07
Ich sehe gerade bei eBay eine Auktion mit Fred Priebergs Buch "Musik im NS-Staat" --> dringend zugreifen!!!

Hier der Link

http://cgi.ebay.de/ws/eBayISAPI.dll?ViewItem&item=6501376203
AcomA
Stammgast
#6 erstellt: 03. Jan 2005, 16:02
hallo plume,

du hast recht, der wettbewerb in brüssel hieß damals noch 'concours...eugene ysaye'. yakov flier, der spätere lehrer von elena gilels und michail pletnev, wurde übrigens dritter.
der wettbewerb stand damals unter der schirmherrschaft der belgischen königin (elisabeth), nach der dieser wettbewerb heute sich nennt, so wie ich es leider formulierte.

die oben geschilderte begebenheit lief folgendermaßen ab, dass arthur rubinstein nach einer arbeitssitzung die kollegen ignacy friedman, nicholas orloff und eben walter gieseking, welcher alleine in einer ecke stand, zum essen einlud. deutschland hatte einen unbedeutenden musiker, der auch parteifunktionär war, als zusätzlichen beobachter geschickt. und dieser beobachter war zu dem zeitpunkt, als rubinstein seine essenseinladung aussprach nicht anwesend. rubinstein sagte im freundlichen ton zu gieseking, er möge doch den beteiligten den nazi vom halse halten. daraufhin antwortete gieseking, wie im vorherigen posting beschrieben.

rubinstein hatte ansonsten mit keinem nichtjüdischen deutschen pianisten von internationalem rang kontakt. das erklärte sich u.a. dadurch, dass er schon während des 1. weltkrieges nach einmarsch der deutschen in belgien geschworen hatte, niemals wieder deutschen boden zu betreten.

rubinsteins schilderung ist schon glaubhaft, zumal er in seinen erinnerungen auch giesekingsche auftritte in paris schildert und hier erwähnt, dass seine debussy-interpretationen auf ihn auch einen ungemein positiv-nachhaltigen eindruck hinterließen, undzwar wiederholt.

aber es gibt noch ein weiteres statement über gieseking, nämlich von nathan milstein (nathan milstein/solomon volkov: 'lassen sie ihn doch geige lernen, erinnerungen'. 'keiner der beiden männer (w. furtwängler, r. strauss) war etwa stolz auf das, was sich in deutschland zutrug. in dieser hinsicht konnte man sie z.b. nicht auf eine stufe mit walter gieseking stellen. er war ein glänzender pianist, aber auch ein in der wolle gefärbter nazi. gieseking prahlte sogar mit seiner parteimitgliedschaft. als er vor dem krieg nach amerika kam, um dort zu konzertieren, fragte ihn ein beamter der einwanderungsbehörde auf ellis iland: ''sind sie ein nazi ?'' stolz verkündete er: ''ja !'' '


gruß, siamak
plume
Hat sich gelöscht
#7 erstellt: 03. Jan 2005, 18:58

AcomA schrieb:
hallo plume,

aber es gibt noch ein weiteres statement über gieseking, nämlich von nathan milstein (nathan milstein/solomon volkov: 'lassen sie ihn doch geige lernen, erinnerungen'. 'keiner der beiden männer (w. furtwängler, r. strauss) war etwa stolz auf das, was sich in deutschland zutrug. in dieser hinsicht konnte man sie z.b. nicht auf eine stufe mit walter gieseking stellen. er war ein glänzender pianist, aber auch ein in der wolle gefärbter nazi. gieseking prahlte sogar mit seiner parteimitgliedschaft. als er vor dem krieg nach amerika kam, um dort zu konzertieren, fragte ihn ein beamter der einwanderungsbehörde auf ellis iland: ''sind sie ein nazi ?'' stolz verkündete er: ''ja !'' '

gruß, siamak


Danke für diese neue Geschichte, Milstein berichtet hier ganz offensichtlich aus zweiter Hand. Aber Sie haben angedeutet, die (fragmentarische) Biographie Giesekings zu kennen. In dieser berichtet im zweiten, nicht von G. stammenden Teil, seine Tochter:

"Das Ende des Krieges erlebte er in Wiesbaden. Obwohl es nicht zutraf, machte man ihm den Vorwurf, Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, und verbot ihm für einige Zeit jedes öffentliche Auftreten...." Gieseking selbst berichtet im letzten Teil der Memoiren (Kapitel XIV und XV) gerade aus der von Ihnen angesprochenen Zeit, wobei sich natürlich ein anderes Bild ergibt.

Trotz relativer Belanglosigkeit dieser Dinge gehe ich der Sache mal auf direktem Wege nach, irgendwo müßte mann doch an die Unterlagen der Parteimitgliedschaften kommen. Prieberg hat das auch geschafft.

Gruß,
GiselherHH
Ist häufiger hier
#8 erstellt: 03. Jan 2005, 20:30
Hallo plume,

Ihre Anfrage sollten Sie an das Bundesarchiv in Berlin richten. Dort befinden sich seit 1994 die Bestände des ehemaligen "Berlin Document Center", welches u.a. die (fast) vollständige Mitgliederkartei der NSDAP verwahrte.

Da Gieseking 1956 verstorben ist, unterfallen seine eventuell vorhandenen Daten nicht mehr der dreißigjährigen Archiv-Schutzfrist (postmortaler Persönlichkeitsschutz). Einen Antrag können Sie zunächst ganz formlos per e-mail an das Bundesarchiv schicken, man wird Ihnen dann ein Antragsformular zusenden. Die Bearbeitung kann allerdings ca. 6 Monate dauern, evtl. vorhandene Unterlagen kann man auch gegen Entgelt kopieren und sich zuschicken lassen.

Hier der link:

http://www.bundesarchiv.de/

Grüße

GiselherHH
plume
Hat sich gelöscht
#9 erstellt: 03. Jan 2005, 21:37

GiselherHH schrieb:
Hallo plume,

Ihre Anfrage sollten Sie an das Bundesarchiv in Berlin richten. Dort befinden sich seit 1994 die Bestände des ehemaligen "Berlin Document Center", welches u.a. die (fast) vollständige Mitgliederkartei der NSDAP verwahrte.

Da Gieseking 1956 verstorben ist, unterfallen seine eventuell vorhandenen Daten nicht mehr der dreißigjährigen Archiv-Schutzfrist (postmortaler Persönlichkeitsschutz). Einen Antrag können Sie zunächst ganz formlos per e-mail an das Bundesarchiv schicken, man wird Ihnen dann ein Antragsformular zusenden. Die Bearbeitung kann allerdings ca. 6 Monate dauern, evtl. vorhandene Unterlagen kann man auch gegen Entgelt kopieren und sich zuschicken lassen.

Hier der link:

http://www.bundesarchiv.de/

Grüße

GiselherHH



Besten Dank für die vorzügliche Auskunft, ich werde das tun und ggf. hier berichten.

Gruß,
AcomA
Stammgast
#10 erstellt: 03. Jan 2005, 23:01
hallo plume,

ich hatte damals als gymnasiast die autobiographie giesekings gelesen und kam dabei zum ergebnis, dass es sich bei ihm um die sorte von genie handelte, der durch sein immenses talent (musik)auf seinem gebiet ohne anstrengung alles erreicht hat und dabei extrem kindliche züge behalten hat. also die kombination von extremem naturtalent und naivität. er wäre wahrscheinlich auf anderem gebiet (außer schmetterlinge sammeln, was er von seinem vater lernte) nicht sonderlich zu gebrauchen gewesen.

ich wäre auch am fortgang ihrer forschungen bzgl. der nsdap-mitgliedschaft interessiert. danke für ihr engagement.

gruß, siamak
plume
Hat sich gelöscht
#11 erstellt: 03. Jan 2005, 23:16

AcomA schrieb:
hallo plume,

ich hatte damals als gymnasiast die autobiographie giesekings gelesen und kam dabei zum ergebnis, dass es sich bei ihm um die sorte von genie handelte, der durch sein immenses talent (musik)auf seinem gebiet ohne anstrengung alles erreicht hat und dabei extrem kindliche züge behalten hat. also die kombination von extremem naturtalent und naivität. er wäre wahrscheinlich auf anderem gebiet (außer schmetterlinge sammeln, was er von seinem vater lernte) nicht sonderlich zu gebrauchen gewesen.


Seien Sie nicht zu hart mit G.! Warum hätte aus ihm nicht auch ein guter Neurochirurg werden können (abgesehen von der Tatsache, daß dieser Fachbereich wohl damals noch nicht am Horizont auftauchte, oder?


AcomA schrieb:
ich wäre auch am fortgang ihrer forschungen bzgl. der nsdap-mitgliedschaft interessiert. danke für ihr engagement.

gruß, siamak


Werde mich bemühen, beim Bunderarchiv etwas herauszufinden. Hier schon mal ein Zitat aus einer Besprechung von Gieseking-CDs durch einen amerikanischen Kritiker (in We gefunden):

"....When World War 2 broke out, Gieseking retreated to his home in Wiesbaden but did not retire from concert-giving in Germany or occupied countries, including "several propaganda-missions." Afterwards he was blacklisted until December 1946, when Allied investigators determined that he never joined the Nazi Party. R. D." (möglicherweise Richard Dyer, Chefkritiker des Boston Globe) (Fettdruck meine Hervorhebung) Sollten wir unseren amerikanischen Freunden hier mißtrauen??

bis bald vielleicht,
AcomA
Stammgast
#12 erstellt: 03. Jan 2005, 23:58
hallo plume,

ich muss ganz ehrlich sagen, ich glaube nicht, dass aus ihm überhaupt ein chirurg geworden wäre. dafür muss man bereit sein, große verantwortung zu übernehmen und sich leider auch häufig dem furchtbarsten elend zu stellen !

übrigens entwickelte sich die deutsche neurochirurgie rasant seit der jahrhundertwende. wesentliche pioniere waren: fedor krause (1857-1937), welcher seine ersten neurochirurgischen eingriffe im städtischen khs. hamburg-altona vollbrachte und dann als chefarzt im königl. augusta-khs. berlin arbeitete. krause hatte übrigens nebenbei das klavierspiel bis zur konzertreife erlernt. dann karl otfrid foerster aus breslau, der sich permanent im erfahrungsaustausch mit den damals führenden größen der sich entwickelnden neurochirurgie, harvey cushing und walter dandy, john-hopkins-hospital, baltimore, maryland, usa, befand. den ersten lehrstuhl für neurochirurgie erhielt in würzburg wilhelm tönnis (1898-1978) im jahre 1934. es weiter zu führen, sprengt den rahmen.

gruß, siamak
plume
Hat sich gelöscht
#13 erstellt: 04. Jan 2005, 01:24

AcomA schrieb:
hallo plume,

ich muss ganz ehrlich sagen, ich glaube nicht, dass aus ihm überhaupt ein chirurg geworden wäre. dafür muss man bereit sein, große verantwortung zu übernehmen und sich leider auch häufig dem furchtbarsten elend zu stellen ! [/b]


Daß Sie dies zu tun bereit sind, ehrt Sie ganz besonders.


AcomA schrieb:
übrigens entwickelte sich die deutsche neurochirurgie rasant seit der jahrhundertwende. wesentliche pioniere waren: fedor krause (1857-1937), welcher seine ersten neurochirurgischen eingriffe im städtischen khs. hamburg-altona vollbrachte und dann als chefarzt im königl. augusta-khs. berlin arbeitete. krause hatte übrigens nebenbei das klavierspiel bis zur konzertreife erlernt. dann karl otfrid foerster aus breslau, der sich permanent im erfahrungsaustausch mit den damals führenden größen der sich entwickelnden neurochirurgie, harvey cushing und walter dandy, john-hopkins-hospital, baltimore, maryland, usa, befand. den ersten lehrstuhl für neurochirurgie erhielt in würzburg wilhelm tönnis (1898-1978) im jahre 1934. es weiter zu führen, sprengt den rahmen.

gruß, siamak


Danke für diesen interessanten Überblick. Ich "fürchte" allerdings fast, daß die Neurochirugie zu jenen Zeiten auch einen gewaltigen Schub in ihrer Entwicklung durch die Notwendigkeit der Operation vieler grausam Verletzter des 1. Weltkriegs erfuhr...

Noch eine Geschichte "zur guten Nacht, die ich in Ira Hirschmanns Buch "Obligato" (zu Hirschmann s. Priebergs Buch "Kraftprobe") gefunden habe und die Sie u. U. besonders interessieren dürfte:

"The small lobby of the Ankara Palas Hotel in Ankara was a welcome haven after my ten-day flight on U. S. Army cargo planes through four continents. It was February 1944 and the war was roaring to a climax.
While checking in at the hotel desk, through the strange babble of the Turkish language around me, I was surprised to hear the unmistakable sounds of a Beethoven piano sonata coming from a nearby lobby. En route to my room, curiosity prompted me to peer into the small ballroom, where I recognized the figure of the eminent German artist Walter Gieseking at the piano. His audience comprised the members of the diplomatic corps. Seated in the front row was the notorious German Ambassador, Franz von Papen (the Fox)....What an unbelievable coincidence for me to have arrived in the capital of "neutral" Turkey at the very hour of a performance by the darling of the Nazis, Walter Gieseking...." usw.

Gruß,
AcomA
Stammgast
#14 erstellt: 04. Jan 2005, 14:09
hallo plume,

danke für die interessante 'gute-nacht-geschichte', leider habe ich sie erst jetzt am mittag gelesen. danke.

sie haben natürlich recht, alle großen modernen kriege führten zu richtungsweisenden erfahrungen auf allen gebieten der chirurgie. das ist selbst heute noch so (siehe us-intervention im irak).

gruß, siamak
plume
Hat sich gelöscht
#15 erstellt: 07. Jan 2005, 23:39
Also, das Ergebnis meiner versprochenen Recherche bzgl. Giesekings liegt vor. Sehr zuvorkommend hilfreich war dabei ein wissenschaflicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte in Berlin, der neulich auch in Sachen Parteimitgliedschaft von Walter Jens ein Gutachten abgegeben hat.

1.) Definitive Auskunft: Gieseking war KEIN Parteimitglied.
2. In Giesekings Reichmusikkammerakte liegen einige wenige Briefe vor (diese werden auch von M. H. Kater in seiner entsprechenden Fußnote angegeben). In einem davon fragt G. nach, ob er denn jetzt tatsächlich Mitglied im KfdK sei. Offenbar hat er diese Mitgliedschaft freiwillig angestrebt.
Ein relativ freundlicher Kontakt scheint zu Hans Hinkel bestanden zu haben.
Auch das Schreiben Hinkels von 1944, in dem dieser G. die Verleihung des Kriegsverdiestkreuzes "im Namen des Führers" bekanntgibt, liegt vor. Jener wiss. Mitarbeiter sagte mir aber, diese Auszeichnung sei "wenn nicht säckeweise, so doch sehr häufig verliehen worden und lege keinerlei besondere Verdienst im Sinne des Nationalsozialismus nahe, eher (in diesem Fall) vielleicht Konzerte für Verwundete oder ähnliches an der "Heimatfront". Der genaue Grund für die Verleihung ist aber offenbar nicht mehr zu eruieren. Die Floskel "im Namen des Führers" sei hierbei die übliche Formalität gewesen und deeute nicht auf eine persönliche Beziehung hin.

Der Bericht Milsteins (aus zweiter Hand, wie ich denke), der von einem offenen Bekenntnis Giesekings gegenüber einem Beamten auf Ellis Island, dem "US-Einwanderungsterminal", wäre insofern also fragwürdig; es sein denn G., hätte tatsächlich zunächst anläßlich seiner bevorstehenden USA-Tournee dort erscheinen müssen und hätte sich freiwillig zu etwas bekannt, was tatsächlich nicht der Fall war. Es könnte natürlich auch sein, daß er seine angestrebte (oder zu jenem Zeitpunkt u. U. schon vollzogene Mitgliedschaft im KdfK meinte, möglicherweise in einer etwas ärgerlichen Laune wegen der Frage des Beamten.

Noch zu Rubinsteins Erzählung aus Brüssel: vielleicht ist es eine Möglichkeit, daß man Gieseking einen "Bewacher" mitgab, weil man ihn als "überwachungswürdig" einstufte - ich weiß es nicht.

Eigenartig im Gegensatz zu einer möglichen Nähe Giesekings zum Regime steht die Tatsache, daß er seinen Konzertagenten Bernstein, der ihn dann natürlich nicht mehr vertreten konnte (Goette übernahm dann diese Aufgabe) weiterhin bezahlte und daß er auch weiterhin Musik spielte, die nicht ganz der "deutschen Linie" entsprach, wenn auch wohl vorwiegend im Ausland.

Ich habe inzwischen das Buch von Kater, das mir im Gegensatz zu den neulich zitierten negativen Kritiken durchaus gut gefällt. Jedenfalls sind die vielen kleinen Informationen etc. sehr interessant. Insofern ist es ähnlich in Umfang und Zuschnitt wie Priebergs "Musik im NS-Staat", wobei ich im einzelnen allerdings Katers abwertende Kritik an diesem und anderen früher erschienenen Büchern zum Thema z. Zt. noch nicht recht nachvollziehen kann.

Kater nennt übrigens den Namen Wilhelm Kempff nur einmal, in Zusammenhang mit Gieseking und Backhaus, weil sich alle diese Pianisten ausdrücklich um ein Vorspiel beim "Führer" bemüht haben sollen. Ich habe in Sachen Kempff auch die Nachlassverwalterin, Frau Irene Bauer-Kempff (eine Tochter des Pianisten) befragt. Sie weiß nichts von einem Auftritt ihres Vaters (wie stolte1969 schrieb) "in der Uniform der Deutschen Arbeitsfront". Allerdings erwähnte sie, daß vor Jahren die Deutsche Grammophon einmal ein Foto veröffentlicht hat, auf welchem Kempff in Uniform zu sehen ist. Es handelt sich aber um ein Bild des jungen Kempff aus der Kaiserzeit. Bevor ich hier nicht schlagende Beweise habe, denke ich eher an eine Verwechslung durch stolte1969. Mir ist auch bislang unerfindlich, was ein Pianist mit der Deutschen Arbeitsfront, der Quasi-Gewerkschaft der Nationalsozialisten, zu tun haben sollte oder könnte. Frau Bauer-Kempff erinnert sich jedenfalls nicht daran, daß ihr Vater je eine Uniform aus jener Zeit besessen oder getragen hätte. Sie erwähnte aber eine Art Anekdote, die Kempff selbst berichtet (und derlei Material soll wohl in der nächsten Zeit endlich mal im Rahmen einer umfangreichen Biographie Kempffs herauskommen), wo der Pianist berichtet, wie jenes Vorspiel bei Hitler abgelaufen sei. Kempff kam nämlich zum Termin mit der Straßenbahn zu spät, zudem regnete es, und aus bestimmten Gründen mußte er auch noch über den Zaun klettern. So sei er also ziemlich ramponiert aufgetaucht und mußte erst trockengeföhnt etc. werden. Das Konzert verlief schlecht, und Albert Speer (zu dem K. ein näheres Verhältnis gehabt hat - Speer veranlasste die Rettung von Kempffs handschriftlichen Partituren etc.) trug Kempff später Hitlers Worte zu , daß er nämlich "diesen Pianisten nie wiedersehen" wolle.

soweit erst mal,
AcomA
Stammgast
#16 erstellt: 07. Jan 2005, 23:56
lieber plume,

herzlichen dank für ihre aufschlussreichen recherchen !

gruß, siamak
Susanna
Hat sich gelöscht
#17 erstellt: 08. Jan 2005, 00:38
Hallo zusammen,

seit ein paar Tagen besitze ich nun das Buch und lese zunächst mal quer (bei ca. 570 Seiten).

Im Zusammenhang mit der von Torquato gestellten Frage nach einem Furtwängler-Buch könnte ich dieses Buch auch empfehlen, auch wenn darin F. nur im Verein mit leider zu vielen Unterstützern, Mitläufern oder zumindest Indifferenten des Regimes steht. Aber was man über den Dirigenten erfährt, ist realistisch und sehr fundiert.
Ich habe mir die Seiten über ihn mal rausgepickt.

Nur ein paar Beispiele: Furtwängler in einem Schreiben an den preußischen Kultusminister, „dass in Deutschland in Zukunft jeder Künstler, gleichviel welcher Nation und Rasse, zu Gehör kommen soll“. Katers Ansicht:„ Der große Dirigent arbeitete wohl in verschiedenen Bereichen mit Hitlers Regime zusammen, aber er war kein Nazi“. Er begründet dies mit einem Drei-Stufen-Prozess, wonach er Furtwängler in die Kategorie der Musiker einordnet, deren „Bindung an das Regime minimal oder nicht existent war“, denn so „konnte er immer noch an einer eindrucksvollen Karriere arbeiten….Die dritte Stufe erklärt den entsprechenden Erfolg von Dirigenten wie Rosbaud und Furtwängler, Komponisten wie Strauss und Sängern wie Hans Hotter.“ (S. 30)

Den allerhöchsten Stellenwert Furtwänglers im Kulturbetrieb erfährt man, wenn man das Einkommen von R. Strauss im Jahr 1936, nämlich 80 000 RM mit den 200 000 RM jährlich für F. , für ein Konzert allein 2000 RM; vergleicht.

Speziell für mich waren die Passagen über Elisabeth Schwarzkopf, eine von mir und allgemein hochgeachtete und überragende Sängerin im negativen Sinn aufschlußreich. Das Buch behandelt aber erfreulicherweise auch Formen des Widerstandes.
Alles in allem: Die Lektüre lohnt sich!

Gruß,
Susanna


[Beitrag von Susanna am 08. Jan 2005, 00:39 bearbeitet]
AcomA
Stammgast
#18 erstellt: 08. Jan 2005, 16:01
hallo musikfreunde,

ich werde am montag in einer buchhandlung in folgendes recht aktuelles buch hereinschauen und es evtl. kaufen:

Titel: Hitlers Künstler
Autor: Hans Sarkowicz
Verlag: Insel, Frankfurt
ISBN: 3-458-17203-3
Erschienen: 2004


das buch hat gut 450 seiten und besteht aus multiplen aufsätzen unterschiedlicher autoren, welche die instrumentalisierung der künste durch das regime analysierten anhand prominenter vertreter aus musik, film, malerei und architektur.

gruß, siamak
Susanna
Hat sich gelöscht
#19 erstellt: 08. Jan 2005, 16:49
Danke, siamak,

für diesen Tip! Das Buch werde ich mir auch noch bestellen, aber erst das andere fertiglesen.
Das von Dir empfohlene behandelt ja auch Künstler anderer Sparten.
Dann kannst Du vielleicht auch Deinen Eindruck schildern!

Kurz off topic: Als Arzt kennst Du sicher auch ein oder mehrere Bücher über verbrecherische Mediziner im 3. Reich. Würde mich auch interessieren, dies mal in Form einer Zusammenstellung zu lesen. Von Einzelpersonen weiß man ja so Manches, z. B. Dr. Josef Mengele.

http://www.3sat.de/bookmark/bt/73914/

Gruß,
Susanna

(Pardon, hatte aus Versehen ein falsches "Smiley"!)


[Beitrag von Susanna am 08. Jan 2005, 17:05 bearbeitet]
GiselherHH
Ist häufiger hier
#20 erstellt: 08. Jan 2005, 18:13
Hallo Susanna,

zum Thema "Ärzte im III. Reich" gibt es eine Vielzahl von Büchern. Hier zwei Empfehlungen:

amazon.de

Katers Buch betrachtet die Entwicklung der Ärzteschaft im Nationalsozialismus als Ganzes und ist daher eher an soziologischen Fragen interessiert (Entwicklung der ärztlichen Ausbildung (Einführung des Faches "Rassenhygiene"), NS-Ärzteorganisationen, Ärzte im Krieg etc.) und wartete mit vielen Tabellen auf. Er geht z.B. der Frage nach, warum Ärzte gegenüber ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in der SS siebenfach überrepräsentiert waren (die Ärzte liegen damit auf Platz 2 hinter den Juristen, die in dieser Hinsicht 24-fach (!!!) überrepräsentiert waren).



amazon.de

Ernst Klee beschäftigt sich in diesem Buch konkret mit einzelnen Ärzten und ihrer Tätigkeit im NS-Vernichtungsapparat (bis in einzelne, furchtbare Details) und folgt den meist ungebrochenen Täterkarrieren bis in die 80er Jahre.

Grüße

GiselherHH
Susanna
Hat sich gelöscht
#21 erstellt: 08. Jan 2005, 19:31
Hallo Giselher,

vielen Dank für die Nennung der Buchtitel! Jetzt kommt zusätzlich zu CD-Anlagen auch noch die für verlockende Bücher hinzu. Da diese Epoche ein Interessegebiet von mir ist, wird eine Bestellung nicht lange auf sich warten lassen.

GiselherHH schrieb:
Er geht z.B. der Frage nach, warum Ärzte gegenüber ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in der SS siebenfach überrepräsentiert waren (die Ärzte liegen damit auf Platz 2 hinter den Juristen, die in dieser Hinsicht 24-fach (!!!) überrepräsentiert waren).

Ja, das ist in der Tat erschreckend, und läßt unangenehme Gedanken aufkommen.

Grüße,
Susanna
AcomA
Stammgast
#22 erstellt: 09. Jan 2005, 00:11
hallo susanna,

die schon empfohlenen bücher habe ich leider nicht gelesen. aber interessanter, das jetzt bitte nicht als zynisch oder böse verstehen, als berichte über kz-ärzte finde ich mitteilungen über ärzte in der gesundheitsversorgung der 'normalen' bevölkerung, bitte dieses auch nicht missverstehen, ich wäre der erste, welcher mengele aufspüren würde und der justiz übergeben würde !

dazu habe ich die erinnerungen eines der fähigsten schüler prof. sauerbruchs gelesen. dabei handelt es sich um prof. dr. med. rudolf nissen, der jüdischer abstammung war und z.b. als erster erfolgreich bei einem patienten mit lungentumor die entfernung eines ganzen lungenflügels durchführte. soweit ich mich erinnere (ich habe das buch einem freund und kollegen ausgeliehen) blieb prof. nissen bis etwa 1935 in deutschland, war dann bis kurz vor kriegsausbruch lehrstuhlinhaber für chirurgie in istanbul, und emigrierte dann in die usa, wo er lange jahre erfolgreich tätig war. einen ruf an die uni-klinik hamburg-eppendorf lehnte er ab. die letzten berufsjahre war er ordinarius in basel. der titel seiner biografie:

helle blätter, dunkle blätter.

man kann das buch über den deutschen ärzteverlag beordern.
die biografie erläutert ausgiebig das zeitgeschen von der kaiserzeit bis zu den ersten jahren der hitler-diktatur, deutschland betreffend. dabei werden die verhaltensweisen berühmter mediziner und wissenschaftler erläutert, insbesondere ihr verhältnis zum nazi-regime. sehr aufschlussreich. an manchen stellen wird medizinisches grundwissen vorausgesetzt, trotzdem glaube ich, das es von jedem gelesen werden kann.


gruß, siamak


[Beitrag von AcomA am 09. Jan 2005, 00:13 bearbeitet]
Susanna
Hat sich gelöscht
#23 erstellt: 10. Jan 2005, 13:34
Danke, siamak, für die Empfehlung!

Ich fasse sie vollkommen normal und berechtigt auf. Im Gegenteil, nachdem ich die Autobiografie und den Film über Prof. Sauerbruch ebenfalls gelesen, bzw. gesehen habe, ist mein Interesse auch für die "Volksmediziner" gestiegen. Noch nach dem Krieg spukten in Schulbüchern Theorien von menschlichen Charaktereigenschaften anhand anatomischer Merkmale herum. Aber diesen Blödsinn hatten wir 200 Jahre zuvor auch schon mal.

Gruß,
Susanna
M_forever
Hat sich gelöscht
#24 erstellt: 10. Jan 2005, 14:20

Katers Buch betrachtet die Entwicklung der Ärzteschaft im Nationalsozialismus als Ganzes und ist daher eher an soziologischen Fragen interessiert (Entwicklung der ärztlichen Ausbildung (Einführung des Faches "Rassenhygiene"), NS-Ärzteorganisationen, Ärzte im Krieg etc.) und wartete mit vielen Tabellen auf. Er geht z.B. der Frage nach, warum Ärzte gegenüber ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung in der SS siebenfach überrepräsentiert waren (die Ärzte liegen damit auf Platz 2 hinter den Juristen, die in dieser Hinsicht 24-fach (!!!) überrepräsentiert waren).

Warum war das so mit den Ärzten?
GiselherHH
Ist häufiger hier
#25 erstellt: 10. Jan 2005, 14:55
Hallo M_forever,

Kater dafür mehrere Gründe an:

- gegenüber der eher "proletarischen" SA war die SS ein sich selbst elitär gebender Zirkel mit hohen Aufnahmehürden ("Arier"-Nachweis bis 1750, Mindestkörpergrösse 1,80 m, körperliche Fitness und Gesundheit (bis 1933 durfte ein Mitglied nicht einmal eine Zahnplombe haben)). Das kam dem Standesbewußtsein der Mediziner entgegen.

- bei hauptamtlicher Tätigkeit in der SS (etwa im SS-Rasse-und Siedlungshauptamt)winkte ein hohes Gehalt, Karrieremöglichkeiten und hohes Sozialprestige.

- zum Ende der Weimarer Republik gab es eine hohe Ärzteschwemme mit unsicheren Berufsaussichten; nach 1933 profitierten insbesondere NSDAP- und SS-Mitglieder von der Vertreibung jüdischer Ärzte, indem sie preiswert deren Praxen samt Ausstattung und Patientenstamm übernehmen konnten, die begehrte Kassenzulassung bevorzugt erhielten und die so freigewordenen Stellen im öffentlichen Dienst besetzten .

- in Konzentrationslagern bot sich den Medizinern im Dienste der SS die historisch einmalige Möglichkeit, Versuche nicht an Tieren, sondern direkt an Menschen durchführen zu können (Grenzen der Forschung in ethischer Hinsicht gab es hier nicht, Menschenversuche waren aufgrund des damaligen strengen Tierschutzgesetzes sogar einfacher durchzuführen als Tierversuche.

- der Arzt (insbesondere der SS-Arzt) war nach Auffassung der NSDAP "Hüter der Volksgesundheit" und im Extremfall Herr über Leben und Tod (Selektion, Euthanasie etc.). Der Arzt war für die Nationalsozialisten derjenige, der für die in ihrem Sinne positive "rassische" (und genetische) Entwicklung des deutschen Volkes zu reinen "Ariern" durch Aussonderung und Vernichtung "artfremder" Bestandteile sorgen sollte. Ärzte wurden daher von der NS-Führung umworben und für wichtig erachtet, was vielen Ärzten natürlich schmeichelte.

Grüße

GiselherHH
M_forever
Hat sich gelöscht
#26 erstellt: 10. Jan 2005, 15:10
Vielen Dank für diese Zusammenfassung. Man würde ja denken, dass grade Ärzte eher so aus der humanistischen Ecke kommen.
Auch sollten sie doch besser als jeder andere verstehen, dass die Rassentheorien totaler Blödfunk waren.
Ob damals viele diese Theorien wirklich für den neuesten Stand der Forschung gehalten haben? Oder waren es vielleicht nur einige wenige, die diese Theorien im Interesse ihrer Karrieren "wissenschaftlich" untermauert haben, und die grosse Masse ist ihnen dann schweigend gefolgt, aus Angst und Karrieredenken?
GiselherHH
Ist häufiger hier
#27 erstellt: 10. Jan 2005, 16:53
Diese Fragen sind, glaube ich, nicht so einfach zu beantworten.

Heute wissen wir, daß sich Menschen zwar phänotypisch (äußerlich) stark voneinander unterscheiden, genotypisch (genetisch) aber so eng miteinander verwandt sind, daß man nicht von "Menschenrassen" sprechen kann.

Die Kenntnisse hatte man um 1900 natürlich nicht, man schloß vom Äußeren her auf die Existenz von "Rassen" und aufgrund der Dominanz der Europäer in ihren Kolonialreichen auf die Überlegenheit der "weißen Rasse".
Damals herrschte auch ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus, man glaubte, aufgrund der großen Fortschritte im Bereich der Hygiene, viele lebensbedrohliche Krankheiten ausrotten zu können (was ja auch geschah).

Zugleich waren international viele, durchaus anerkannte Mediziner, der Meinung, durch gesellschaftliche oder "rassische" Hygiene eine Gesellschaft von ihren "kranken" Mitgliedern wie Verbrechern oder Behinderten befreien zu können. Man erwog dazu Maßnahmen wie Heiratsverbote oder gar Sterilisationen gegen den Willen der Betroffenen. Man würde damit gleichsam den "schädlichen" Bevölkerungsanteil herausschneiden wie ein wucherndes Krebsgeschwür aus dem Körper eines Patienten. Solche Überlegungen wurden überall, so z.B. auch in Großbritannien und den USA angestellt, Deutschland war da kein Einzelfall (im 2. Weltkrieg wurden in Schweden geistig Behinderte zwangssterilisiert). Diese Mediziner waren der sozialdarwinistischen Meinung, daß das Kranke und Schwache ebenso wie in der Natur zugrunde gehen müsse, anderenfalls würde die Gesellschaft auf die Dauer selbst krank und degeneriert werden und dem Untergang geweiht sein.

Die Nazis griffen diese Rassentheorien auf, radikalisierten sie und führten sie in mörderischer Konsequenz zuende. Viele ältere Mediziner haben an diese Theorien wohl nicht geglaubt und nur mit den Wölfen geheult, viele jüngere Ärzte aber, meist aus nationalkonserativen Haushalten der oberen Mittelschicht stammend und politisch durch die Weimarer Republik radikalisiert, hielten die "Rassenhygiene" für eine Wissenschaft und die Konsequenzen hieraus für "human", weil mit der "natürlichen Auslese" des Starken und Überlebensfähigen übereinstimmend. Andere, insbesondere schon berühmte Professoren, sahen die Chance gekommen, endlich ohne Einschränkungen forschen zu können (Mengeles Doktorvater, Prof. Otmar von Verschuer, ließ sich dessen Forschungsergebnisse und anatomische Proben aus Auschwitz schicken).

Grüße

GiselherHH
M_forever
Hat sich gelöscht
#28 erstellt: 10. Jan 2005, 18:40
Knallharte Analyse, aber sehr einleuchtend. Wie ich selbst in der entgleisten Sinopoli-Diskussion geschrieben hat, halte ich es für sehr wichtig, sich mit den Mechanismen, die hinter diesen Ereignissen stecken, offen und gnadenlos zu beschäftigen und daraus zu lernen. Ich hoffe nur, dass Dich jetzt nicht gleich jemand anspringt und als Verteidiger der NS-Ärzte anklagt. Hierzulande (USA) hat es meinen Wissens sogar bis in die 60er Jahre, wenn auch in sehr geringem Umfang, Zwangssterilisationen von geistig behinderten Menschen gegeben. Das wissen hier aber auch historisch an sich interessierte zumeist nicht, und wenn das Gespräch mal daruf kommt, wird das in der Regel völlig abgestritten. "Sowas kann es hier gar nicht gegeben haben, das haben nur die Nazis gemacht."
Den eigentlich klaren Zusammenhang zwischen Fortschrittsoptimismus im technischen Bereich, der Hoffnung, durch technischen Fortschritt alle Probleme zu lösen und das Leben zu perfektionieren, und der Vorstellung, man könne dies auch mit Menschen tun, habe ich bis jetzt nie gesehen. Vielen Dank für diesen Hinweis.
GiselherHH
Ist häufiger hier
#29 erstellt: 10. Jan 2005, 19:06
Die Gefahr ist ja heutzutage durchaus nicht gebannt, "Auschwitz" bleibt eine der modernen Zivilisation innewohnende Möglichkeit (das ist eben die vielzitierte Adornosche "Dialektik der Aufklärung"). Gerade im Bereich der heutigen Humangenetik gibt es ja Tendenzen, technisches Können von moralischen Regeln zu trennen ("Wenn wir nicht die xy-Forschung betreiben dürfen, werden es andere tun") und weil dort Arbeitsplätze entstehen und viel Geld zu verdienen ist, werden Bedenken schnell über Bord geworfen.

Wie eine Gesellschaft aussieht, in der der Mensch Gott spielt und seine Erbanlagen "perfektioniert", zeigt sehr anschaulich der Film "Gattaca". Die Motive mögen ursprünglich durchaus edel gewesen sein (Kampf gegen Krankheiten), die Folge ist aber eine noch inhumanere Welt.

Grüße

GiselherHH
Susanna
Hat sich gelöscht
#30 erstellt: 10. Jan 2005, 20:47
Eine der bekanntesten literarischen Horrorvisionen der "genetischen Kontrolle" bei Aldous Huxley "Brave New World" ("Schöne Neue Welt").

"Nicht ohne Staunen wies der Schweizer Publizist Arnold Künzli in seinem Buch »Menschenmarkt« darauf hin, daß einer der Verfechter einer modernen Eugenik Julian Huxley war, ein Halbbruder von Aldous Huxley (...).

Nachzulesen hier:http://www.single-generation.de/grossbritannien/aldous_huxley.htm

Gruß,
Susanna


[Beitrag von Susanna am 10. Jan 2005, 21:08 bearbeitet]
AcomA
Stammgast
#31 erstellt: 10. Jan 2005, 23:53
hallo musikfreunde,

ich möchte darauf hinweisen, das es einen unterschied zwischen arzt und mediziner gibt. der arzt versucht, zu heilen, der mediziner wiederum kann arzt sein, kann aber auch in erster linie forscher sein, etc.. ich will damit zum ausdruck bringen, das auch heute viele ärzte sich nicht ärztlich verhalten ! gerade im karriere- und konkurrenzbetrieb ist die versuchung groß, einen hippokratischen meineid zu begehen.

außerdem möchte ich betonen, dass der überwiegende teil der ss-mediziner pseudoforschung betrieb. es waren häufig leute, welche überhaupt keine fundierte ausbildung in der medizinischen forschung erhielten und dementsprechend auch keine erfahrung mit der wissenschaftlichen methodik hatten. nicht nur, dass sie die menschen bewusst folterten, sondern dass deren 'ergebnisse' für die wissenschaft völlig wertlos waren. übrigens baute sich im vorfeld des nazi-regimes frust bei medizinern auf, da tatsächlich eine nicht geringe anzahl von jüdisch-stämmigen ärzten sich in leitenden positionen befand und als niedergelassene kollegen erfolgreich tätig waren. und die meisten haben es sicherlich durch befähigung und unter großer körperlicher und seelischer anstrengung erreicht.

gruß, siamak


[Beitrag von AcomA am 10. Jan 2005, 23:56 bearbeitet]
M_forever
Hat sich gelöscht
#32 erstellt: 11. Jan 2005, 00:28
Ich frage mich auch, wie viele Leute in dieser Zeit ohne innere Neigung Medizin studiert haben, weil das aufgrund des hohen Prestiges von den Eltern verlangt wurde. Noch zu meiner Zeit (das war in den 80ern) war das deutlich zu spüren, also zu einer Zeit, als viele Eltern bereits auf dem "mein Kind soll sich selbst verwirklichen"-Trip waren. Über das verständliche Interesse daran, dass das Kind später mal einen ordentlichen und angesehenen Beruf erlernt und materiell gut versorgt ist, konnte man immer spüren, dass da ein gewisser Druck da war. Alle die Mädchen in meiner Klasse, die immer ihre Hausaufgaben gemacht haben, haben damals gesagt "ich werde später mal Medizin studieren, weil meine Eltern sagen, dass das das beste für mich ist". Wozu es dann allerdings in den seltensten Fällen kam, da ab einem gewissen Alter dann doch die Selbstverwirklichung entdeckt wurde.
Anfang des letzten Jahrhunderts war das aber sicher nicht so. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Kinder standesbewusster und ambitionierter Eltern erst mal schwer verprügelt wurden, wenn sie dem Anspruch Musterschüler zu sein nicht gerecht wurden. Oder ist das ein Klischee?
Wenn nicht, dann sind da sicher eine ganze Menge innerlich schwer geknickter Leute herumgelaufen, was leicht zu menschenverachtenden Exzessen führen konnte, wenn die mal völlig wehrlose Menschen in die Finger bekamen, mit denen sie machen konnten, was sie wollten.
AcomA
Stammgast
#33 erstellt: 21. Jan 2005, 23:18
hallo,

ich habe mittlerweile die einleitenden kapitel und die sektion über die ernsten musiker in folgendem buch gelesen:

Titel: Hitlers Künstler
Autor: Hans Sarkowicz
Verlag: Insel, Frankfurt
ISBN: 3-458-17203-3
Erschienen: 2004

das buch lohnt sich sehr. es kann als sammelband wissenschaftlicher referate angesehen werden. z.b. bekommt man eine detailierte analyse der reichskulturkammer mit ihren verschiedenen fachbereichen, ihren personellen bestzungen etc.. es werden schließlich die akteure der wichtigsten kunstformen unter die lupe genommen (literatur, bildende kunst, architektur, musik, film und unterhaltung. die ergebnisse sind ernüchternd. ein beispiel zitiert:
'Musik und Kultur retten las sich bei Hitlers Musikern vorzugsweise als: die eigenen Privilegien und Positionen retten oder sogar ausbauen. So rechtfertigte sich Karl Böhm zynisch, er sei nicht emigriert, weil er keine lukrativen Alternativen im Ausland bekommen habe: 'Ich hatte damals leider kein Angebot von der Met oder von Covent Garden'- darunter tat er's nicht; man denke dagegen an die üblichen Notsituationen der meisten Emigrierten. Daß er so nicht leben und arbeiten wollte, mag nachvollziehbar sein. Er setzt aber noch eins drauf, wenn er behauptete, er 'glaube aber im Verlaufe meiner Tätigkeit sowohl in Dresden wie später in Wien bewiesen zu haben, auf welcher Seite ich immer gestanden bin'.
Das nun allerdings. Es besagte 'schon etwas, wenn der gastierende Böhm Ende März 1938 in Wien das Podium des Großen Konzerthaussaales betrat und den Hitler-Gruß entbot, freier Entschluß auch dies. Denn die Frage war durch eine Anweisung des Propagandaministeriums an die Reichsmusikkammer hinreichend geklärt: 'Die Begrüßung des Publikums mit dem deutschen Gruß bei Symphonie-Konzerten ist bisher nicht üblich gewesen; jedoch ist der deutsche Gruß auch bei solchen Gelegenheiten erwünscht. Ein Zwang auf die Dirigenten wegen der Form, in der sie das Publikum begrüßen, ist aber keinesfalls auszuüben.''
Einmal mehr zeigt sich daran nicht nur eine freiwillige Mittäterschaft, sondern auch, daß von seiten des Systems eine totale Nazifizierung gar nicht beabsichtigt war. Kleine Freiräume zu lassen, erwies sich als effizienter.'

also, ich kann dieses buch wirklich empfehlen.


gruß, siamak
AcomA
Stammgast
#34 erstellt: 26. Jan 2005, 15:35
ich habe mittlerweile das kapitel über die film-, revue- und operettenstars gelesen. extrem ernüchternd ! nochmals die empfehlung, dieses buch zu lesen. das die vergangenheit immer noch nicht bewältigt wurde, erlebte ich neulich in einer 3sat-sendung über den fall karl joel-josef neckermann. seine enkelin (neckermann) meinte, ihr großvater hätte widerstand gegen das regime geleistet, indem er arbeitsplätze (für zwangsarbeiter) und wehrmachtsuniformen geschaffen habe. das ist schon keine fehlgeleitete vergangenheitsbewältigung mehr, sondern dummheit, dummheit, dummheit.


gruß, siamak, im andenken der befreiung von auschwitz.
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