Hören Musikkritiker eigentlich blind?

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Mellus
Stammgast
#1 erstellt: 07. Jan 2008, 20:44
Hallo allerseits,

(professionelle) Musikkritiker sollten in ihren Rezensionen Musik und die Interpretation von Musik in Aufführungen oder Einspielungen kritisieren. Damit eine CD-Rezension möglichst vorurteilsfrei geschehen kann, sollten Kritiker vor dem Anhöhren nicht wissen, welchem Orchester, Dirigenten, Solisten, etc. sie gerade lauschen, also blind hören. Ansonsten droht doch sehr die Gefahr, dass andere Dinge auf die Rezension Einfluss nehmen (z.B. weil vielleicht auch Kritiker ihr Lieblingsorchester oder ihren Hass-Dirigenten haben oder keine Freikarten mehr bekommen haben, oder weil sie bewusst Bewertungen manipulieren, oder...). Bei Konzerten ist das natürlich nicht so einfach, nicht zu wissen, wer spielt. Daher beschränke ich mich mal auf CD-Kritiken. Weiß jemand, wie Kritiker verfahren? Hören sie tatsächlich blind? Oder ist diese Frage völlig aus der Welt, vielleicht auch gar nicht gut begründet?

Danke schon mal für alle Kommentare, Grüße,
Mellus
Joachim49
Inventar
#2 erstellt: 07. Jan 2008, 21:53
Ich halte es für sehr unwahrscheinlich dass Musikkritiker CD's blind hôren. Die Scheiben müssten ja dann kopiert werden auf Tonträger ohne jede Andeutung der Interpreten. Natürlich wäre das leicht möglich, aber oft weiss man auch schon was zu erwarten ist. Wenn für eine Aufnahme schon vorher Reklame gemacht wird, oder man von den Interpreten weiss, dass sie vor ein paar Wochen etwas aufgenommen haben, dann kann man's auch leicht raten.
Interessant sind in dieser Hinsicht die Radiosendungen, in denen Aufnahmen verglichen werden und eine Gruppe 'Kenner' ihr Urteil abgeben muss. Da gibt's manchmal Überraschungen und fällt ein ganz grosser durch oder wird ein unbekannter hoch gepriessen. Allerdings bin ich mit den Urteilen selbst nicht immer einverstanden. (Ich höre solche Sendungen im flämischen oder holländischen radio) Gibt's in Deutschland noch solche Sendungen?
Jedenfalls weichen Urteile manchmal erstaunlich stark voneinander ab. Wenn man dieselben Aufnahmen in verschiedenen Klassikzeitschriften sehr verschieden beurteilt sieht, dann scheint's entweder keine verbindlichen Massstäbe zu geben oder fehlt es den Rezensenten am nötigen know how. Jedenfalls nehme ich an, dass es auch bei Blindbeurteilungen zu erheblichen Abweichungen kommen würde (wie es ja bei de Radiosendungen auch der Fall ist). Eine wirkliche Orientierungshilfe wär's wahrscheinlich nicht.
Freundliche grûsse
Joachim
Michael_aus_LH
Stammgast
#3 erstellt: 08. Jan 2008, 00:10

Joachim49 schrieb:

Interessant sind in dieser Hinsicht die Radiosendungen, in denen Aufnahmen verglichen werden und eine Gruppe 'Kenner' ihr Urteil abgeben muss. Da gibt's manchmal Überraschungen und fällt ein ganz grosser durch oder wird ein unbekannter hoch gepriessen. Allerdings bin ich mit den Urteilen selbst nicht immer einverstanden. (Ich höre solche Sendungen im flämischen oder holländischen radio) Gibt's in Deutschland noch solche Sendungen?


Hallo Joachim, das einzige Beispiel was ich kenne war ein Beitrag auf Bayern 4. Dort wurde das Klavierkonzert von Grieg anhand von Hörbeispielen verglichen. Die nach Meinung des Redakteurs beste Interpretation wurde nachher komplett ausgestrahlt.

ontopic: ich kann mir die blinde Musikkritik nicht vorstellen, lasse mich aber gerne eines besseren belehren.
Moritz_H.
Stammgast
#4 erstellt: 08. Jan 2008, 00:16

Joachim49 schrieb:
Interessant sind in dieser Hinsicht die Radiosendungen, in denen Aufnahmen verglichen werden und eine Gruppe 'Kenner' ihr Urteil abgeben muss. Da gibt's manchmal Überraschungen und fällt ein ganz grosser durch oder wird ein unbekannter hoch gepriessen. Allerdings bin ich mit den Urteilen selbst nicht immer einverstanden. (Ich höre solche Sendungen im flämischen oder holländischen radio) Gibt's in Deutschland noch solche Sendungen?


Für Gespräche und Diskussionen, die sich um Interpretationen oder um ein Werk drehen … jeden Mittwoch von 20.05 bis 22.00 Uhr in SWR2 Musik kommentiert.

In dieser Sendung finden sich im Zweiwochenrhythmus weiterhin die "Meisterwerke", die im Dialog vorgestellt werden. Ebenfalls im Zweiwochenrhythmus dreht sich das Gespräch um Interpreten und Interpretationen. Das "Musikalische Quartett" tritt dort regelmäßig auf, neu hinzu kommen Zweier- oder Dreier-Gesprächsrunden, in deren Fokus ein Interpret oder die Interpretation eines Werkes steht. Hörvergnügen für Fortgeschrittene.
STR
Ist häufiger hier
#5 erstellt: 08. Jan 2008, 00:40

Joachim49 schrieb:
Gibt's in Deutschland noch solche Sendungen?


Nicht Deutschland aber Schweiz ;). DRS2


Mo 20.00-22.00 Uhr; Sa 14.00-16.00 Uhr (Z), DRS 2

«Diskothek im Zwei» ist die fachliche Diskussionsrunde über Musik: Zwei Fachleute vergleichen im Blindtest – also ohne die Aufnahmen oder die InterpretInnen zu kennen – verschiedene Aufnahmen eines Werks.

Die Werke stammen hauptsächlich aus dem klassischen Kernrepertoire (von Bach und Beethoven bis Bruckner und Brahms), darüber hinaus aber auch aus Renaissance und Gegenwart.


Richtig interessant war das bei Chopins Preludes. Die Grossen (Argerich und Co.) sind rausgefallen und eine Newcomerin wurde zur "Siegerin" erkürt ;).

Gruss Marc
op111
Moderator
#6 erstellt: 08. Jan 2008, 03:29
Hallo zusammen,
hier die Klassiker von 2 weiteren Nachbarn:
Les Rois de la galette mit Renaud Machart.
am Sonntag war die Alpensinfonie an der Reihe Stream
Die Aufnahmen von Thielemann, Zinman und Janowski schieden bereits im ersten Durchgang aus, Welser-Möst im 2.
Empfehlung (neben Klassiker R. Kempe, EMI) die Staatskapelle Dresden, Fabio Luisi (Sony).


archives 2007
30/12/2007Saint-Saens: Concerto pour piano n°2 en sol mineur op 22
23/12/2007Mozart: Sonate n°10 en ut majeur K 330
16/12/2007Buxtehude: Cantates Jesus Membra Nostri
09/12/2007Brahms: Sextuor à Cordes n°2 en Sol Majeur op 36
02/12/2007Max Reger: Quatre Poèmes Symphoniques d'après Böcklin op128
25/11/2007Haydn: Symphonie n°92 en sol maj "Oxford"
18/11/2007Ravel: Le Tombeau de Couperin (version piano)
11/11/2007 Chostakovitch: Romances Alexander Blok op 127
04/11/2007 Beethoven: Symphonie n°7 en La Majeur op 92
28/10/2007 Luciano Berio: Folk Songs
21/10/2007 Jean-Sébastien Bach: 5° Suite pour violoncelle seul en ut mineur
14/10/2007 Claudio Monteverdi: L'Orféo
07/10/2007 William Walton: concerto pour alto
30/09/2007 Debussy: Préludes, livre II
23/09/2007 Couperin: Les Leçons de Ténèbres
16/09/2007 Maria Callas dans Tosca
09/09/2007 Beethoven: Concerto pour piano n°1 en ut majeur op15


Für alle die ein wenig Niederländisch verstehen, der Klassiker:
NPS Diskotabel
mit Hans Haffmans und einem Team aus Journalisten und Musikern darin zeitweise auch Blindvergleiche
Sonntag 16.30 bis 18.00 Uhr auf Radio 4 (NL)

Gruß


[Beitrag von op111 am 08. Jan 2008, 03:39 bearbeitet]
op111
Moderator
#7 erstellt: 08. Jan 2008, 03:55
Hallo zusammen,

ich kann mir nicht vorstellen, daß Musikkritiker sich der mühe unterziehen "blind" abzuhören. Die Vorabversionen, mit denen sie Wochen/Monate vor dem Erstverkaufstag bemustert werden, sind nicht anonymisiert, warum auch? Es handelt sich ja um eine Marketingmaßnahme. Außerdem motivieren die winzigen Honorare für Rezensionen z.B. in Fonoforum u.a. Printmedien nicht gerade zu erhöhtem Aufwand.

Die meisten CD-Kritiken fallen so verkürzt, schwammig und pauschal aus, daß man sich kaum ein rechtes Bild machen kann. Strawinsky hat einmal musterhaft vorgeführt, wie eine Kritik aussehen müßte, die ernst genommen werden will: In "Drei Arten von Frühlingsfieber" verglich er 1964 3 Aufnahmen seines Sacre.

Manche Rezension nährt jedoch bei mir den Verdacht, daß "taub" abgehört wurde - oder gar nicht.
Nur so ist es erklärbar, daß gelegentlich gravierende Aufnahme- oder Aufführungsfehler nicht in Rezensionen erwähnt werden.
Der Fall "Joyce Hatto" wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die Sorgfalt, mit der Kritiken entstehen.
Speziell ClassicsToday.com erschien dabei in keinem guten Licht und hat sich diskreditiert.

Vorurteilsbehaftete Wahrnehmungsverzerrungen kann man z.B.
in den großen Vergleichsrezensionen der Gramophone beobachten. Speziell wenn der Autor Richard Osborne heißt, ist fast immer eine Karajanaufnahme empfehlenswert, auch wenn es sich dabei um eine routiniert abgespulte Pflichtübung des Herrn aus Anif handelte.


[Beitrag von op111 am 08. Jan 2008, 04:12 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#8 erstellt: 10. Jan 2008, 11:07
Hallo Ihr,

prima, diese Hörvergleiche im Radio höre ich mir mal an! Die versprechen wenigsten eine Musik-basierte Analyse.

@Franz-J.: Ja, bei genauerer Betrachtung ist das mit dem Blindhören schon ein wenig praxisfern, da hast Du recht ... Schade eigentlich.

@Joachim49: etwas kritikerfreundlicher könnte man auch sagen, dass zwei Experten, die zu zwei verschiedenen Urteilen gelangen, einfach zwei verschiedene Maßstäbe anlegen statt gar keine zu haben! Solange sie ihr Urteil an irgendwas Maßstabsähnlichem begründen können ist das ja OK.

Viele Grüße,
Mellus


[Beitrag von Mellus am 10. Jan 2008, 11:09 bearbeitet]
enkidu2
Inventar
#9 erstellt: 23. Feb 2011, 22:25

STR schrieb:

Joachim49 schrieb:
Gibt's in Deutschland noch solche Sendungen?


Nicht Deutschland aber Schweiz ;). DRS2


Mo 20.00-22.00 Uhr; Sa 14.00-16.00 Uhr (Z), DRS 2

«Diskothek im Zwei» ist die fachliche Diskussionsrunde über Musik: Zwei Fachleute vergleichen im Blindtest – also ohne die Aufnahmen oder die InterpretInnen zu kennen – verschiedene Aufnahmen eines Werks.

Die Werke stammen hauptsächlich aus dem klassischen Kernrepertoire (von Bach und Beethoven bis Bruckner und Brahms), darüber hinaus aber auch aus Renaissance und Gegenwart.


Richtig interessant war das bei Chopins Preludes. Die Grossen (Argerich und Co.) sind rausgefallen und eine Newcomerin wurde zur "Siegerin" erkürt ;).

Gruss Marc


Aus urheberrechtlichen Gründen ist dieser Podcast seit Anfang dieses Jahres nur noch in der Schweiz verfügbar. Deutsche müssen draußen bleiben.

Gruß enkidu2
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