Ikonische, indexikalische und symbolische Musik

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Mellus
Stammgast
#1 erstellt: 28. Nov 2008, 01:01
Stellt Euch bitte folgende drei Situationen vor:


  • eine Äußerung von "Beethoven hat jeden Tag zwei Liter Wein getrunken."
  • eine Kaninchenfährte im Schnee
  • ein Männchenbild auf der Klotür


Fertig? Ok. Die drei Situationen haben gemeinsam, dass sie informativ sind, eine Bedeutung (für uns) haben. Anders ausgedrückt:
Sie alle sind Zeichen. Aber die Informativität der drei Beispiele funktioniert unterschiedlich. Die Bedeutung des Satzes, der in 1. gesprochen wird, erschließt sich jedem, der dass Vokabular und die Regeln der deutschen Sprache beherrscht. An der Fährte in 2. sieht jeder einfach dass ein Tier vorbeigelaufen ist (wobei wohl ichnologische Kenntnisse notwending sind, um zu bestimmen, welches Tier genau). Da das Männchenbild aus 3. typische Eigenschaften (zumindest in stilisierter Form) von Männern aufweist -- wie das Tragen einer Hose und der rechteckige Oberkörper --, erkennen wir die Herrentoilette.

Was genau die drei Situationen voneinander unterscheidet wird klar, wenn man sich fragt, ob die Zeichen anders aussehen könnten.

Die Antwort darauf ist "ja" im ersten Fall: Dass die Maßeinheit "Liter" heißt, ist eine Konvention. Genausogut hätte sie auch "Golad" oder "Retil" heißen können. Wie sie heißt ist prinzipiell gleichgültig. Zur Verständigung ist nur wichtig, dass man sich auf eine Benennungs-Konvention kennt, an die sich die Speachbenutzer halten. Diese vereinbarte, erlernbare Art von Zeichen wird Symbol genannt.

Die Willkür, die Symbolen zu Grunde liegt, gibt es im 2. Fall nicht. Die Fährte ist von einem Tier erzeugt worden. Es ist nicht vorstellbar, dass sie anders aussehen könnte. Zwischen Pfote und Schnee gibt es einen engen raum-zeitlichen Zusammenhang (im Beispiel wohl kausal). Dieses Zeichen ist ein Index.

Ganz so eingeschränkt wie ein Index ist das Männchen aus 3. nicht. Aber es ist klar, dass der Spielraum dessen, wie das Zeichen aussehen kann, eingeschränkt ist. Das Bild auf der Toillettentür muss eine erkennbare Ähnlichkeit mit dem haben, wofür es steht. Solche "Ähnlichkeitszeichen" heißen Ikons.

Die Unterscheidung zwischen Symbolen, Ikons und Indizes geht zurück auf den amerikanischen Philosophen, Semiotiker und Geodäten Charles Sanders Peirce, der in seinem Aufsatz On a New List of Categories im Jahre 1868 Bedeutungshaftigkeit in drei Klassen eingeteilt hat: ikonisch, indexikalisch und symbolisch.
Seitdem bevölkern die drei Zeichenarten alle semiotischen Disziplinen, und das durchaus erfolgreich. Beispielsweise enthält unsere Sprache, die im Grunde symbolisch ist, ikonische (Lautmalerei) und indexikalische ("hier" und "jetzt") Wörter. Noch eine Nebenbemerkung: Es sei betont -- Peirce selbst hat es bereits hervorgehoben --, dass die Kategorien nicht völlig trennscharf sind; es gibt Mischformen. Ein Index kann beispielsweise einen symbolischen Anteil enthalten.

Da die Unterteilung in Ikon, Index und Symbol grundlegend und durchschlagend zu sein scheint, liegt die Frage nahe, ob sich auch Musik auf diese Weise klassifizieren lässt.

Ein Auslöser für diesen Thread war, dass ich Wolfgang Rihms Musik für drei Streicher als indexikalische Musik empfinde. Das ist für mich Musik, die nichts erzählen will sondern ohne Umwege das Nervensystem reizt, so wie Pfoten im Schnee Abdrücke hinterlassen.

Als Kandidaten für ikonische Musik drängen sich Programmmusiken auf, vielleicht Richard Straussens Alpensinfonie. In Programmmusiken wird ja ein außermusikalischer Gehalt in Töne gebracht. Und im direktesten, einfachsten Fall ist das wie Lautmalerei. Etwas anspruchsvoller kann Musik vielleicht "so klingen" (Ähnlichkeit), wie ein psychischer Zustand (Oper?).

Für symbolische Musik ist mir nichts einschlägiges eingefallen. Aber vielleicht habt Ihr eine gute Idee?

Dann gibt es noch einige Musikstücke, die ich ich nicht im Ikon-Index-Symbol-Schema unterbringe. Vielleicht fehlt mir die Fantasie dazu. Oder das Schema taugt nicht recht bei Musik. Was haltet ihr überhaupt von der Index-Ikon-Symbol-Unterteilung in der Musik?

Viele Grüße,
Mellus
Kreisler_jun.
Inventar
#2 erstellt: 28. Nov 2008, 01:59
Symbolisch sind etliche Figuren in der barocken Rhetorik. Z.B. eine, wo man vier Noten übers Kreuz verbinden muß, damit ein Chi entsteht, das dann für Christus steht u.ä.

http://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzmotiv

Andere Figuren sind aber eher irgendwo zwischen gestisch und ikonisch anzusiedeln, Seufzer etc.
Wie würde man physische Gesten einordnen? Manche sind vielleicht symbolisch, viele scheinen mir aber nicht völlig beliebig zuordenbar zu sein. So ähnlich sehe ich viele musikalische Figuren.
Oder Signalmotive, Hornrufe etc. Zwar ist die konkrete Bedeutung eines Signals symbolisch (Rückzug, Angriff, Sammeln usw.). Wenn es in einer musikalischen Komposition vorkommt, bedeutet es natürlich was anderes, es weist auf einen militärischen (oder auch Abschied usw. wg. Postkutsche) hin, hat also stärker ikonische Charakter, weil es so ähnlich klingt wie ein wirkliches Signalmotiv (wenn es z.B auf dem Klavier gespielt wird, unterscheidet es sich ja in klanglicher Hinsicht vom geblasenen Signal). Andererseits sind dreiklangbasierte Signalmotive musikalisch elementar, man hat auch hier den Eindruck, daß es keine willkürlichen Symbole sind.

viele Grüße

JR
AladdinWunderlampe
Stammgast
#3 erstellt: 28. Nov 2008, 02:57

Kreisler_jun. schrieb:
Symbolisch sind etliche Figuren in der barocken Rhetorik. Z.B. eine, wo man vier Noten übers Kreuz verbinden muß, damit ein Chi entsteht, das dann für Christus steht


Nicht nur "Augenmusik", die grafische Deutungen des Notenbildes vornimmt (Kreuzsymbol, "schwarze" Viertelnoten als Symbol für Dunkelheit usw.), sondern schon die Notenschrift selbst und die Benennung von Noten und Tönen mit Buchstaben ist symbolisch, da sie auf Konvention beruht und insofern zufällig ist. Daher fallen die beliebten musikalischen Kryptogramme (B-A-C-H, D-S-C-H, A-D-S-C-H-B-E-G, S-C-H-A, A-S-C-H usw.) in den Bereich der symbolischen Musik.

Übrigens hat Iannis Xenakis ein eigenes Verständnis von "symbolischer Musik" entwickelt, das in einer anderen Begriffstradition als der Peirceschen steht, sich aber möglicherweise trotzdem damit verbinden lässt: Xenakis rekurriert nämlich auf die symbolische Logik in der Nachfolge George Booles, deren Operationen er in einigen seiner Werke - zum Beispiel im Klavierstück Herma - auf musikalische Prozesse angewendet hat. Aber jetzt ist es viel zu spät, um das vor dem Schlafengehen noch zu erklären...

Darüber hinaus beruht auch Francois Bayles Theorie akusmatischer Musik auf der Peirceschen Dreiteilung des Zeichenbegriffs - nun allerdings angewendet auf Klangobjekte.


Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 28. Nov 2008, 03:14 bearbeitet]
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