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HIP - Historisch Informierte Aufführungspraxis & Werktreue

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Kreisler_jun.
Inventar
#51 erstellt: 12. Feb 2010, 23:27

Joachim49 schrieb:

Hörbert schrieb:
Wenn dem so ist hat die Originalinterpretationspraxis ja beste Voraussetzungen sich als die Qualitativ hochwertigere Interpretationspraxis auf breiter Linie (für alte Musik) durchzuisetzen und alle anderen zu verdrängen. Nun ist das aber weder in den letzten 30 Jahren schon geschehen noch sieht es so aus als würde sie es in absehbarer Zeit können.
MFG Günther


Also ich habe durchaus den Eindruck, dass sich die 'Originalinterpretationspraxis' auf breiter Linie durchgesetzt hat und alles andere verdrängt hat. ("Und das ist auch gut so" - könnte ich als provokativen Wowereit-Aphorismus hinzufügen). Diese Beurteilung hängt natürlich davon ab, was 'Alte Musik' heissen soll. Wenn damit Barockmusik gemeint ist, dann scheint mir dies - mit wenigen Ausnahmen - eine Tatsache zu sein. Gibt es noch Aufnahmen der Bach'schen, Telemann'schen, Händel'schen, etc. Passionsmusiken, die nicht 'historisch informiert' sind? Werden die Concerti Grossi diverser Komponisten noch von nicht-Hip Ensembles gespielt? Händel oder Rameau Opern von den selben Ensembles, die ein paar Tage später Verdi oder Wagner spielen? Um die nicht-HIP Kammerorchester ist es doch eher still geworden (das English Chamber Orchestra oder die Academy of St. Martin ....). Die einzige wichtige Ausnahme scheint mir Bach auf dem modernen Klavier zu sein


Das scheint mir auch so.
Bei vorbarocker Musik ist es ohnehin gar keine Frage. Gewiß werden einzelne, sehr bekannte Werke wie die Bachschen Passionen auch oft noch auf modernen Instrumenten gespielt, aber dann fast immer mehr oder weniger stark von der HIP-Bewegung beeinflußt. Zu den neuesten verbreiteten Aufnahmen auf modernen Instrumenten gehören Rillings aus der Mitte der 1990er und die sind, verglichen mit den älteren Einspielungen dieses Dirigenten, sehr deutlich HIP-geprägt, was Tempi usw. betrifft, selbst wenn noch ein deutlicher Unterschied zu Koopman u.a. bestehen mag.
Selbst bei Haydn und Mozart zeigt sich dieser Einfluß, wenn von modernen Sinfonie-Orchestern gespielt.
Bei Plattenaufnahmen dominieren ganz klar die alten Instrumente bzw. beeinflußte Spielweisen bis in die Wiener Klassik hinein.

JK jr.
Hörbert
Inventar
#52 erstellt: 13. Feb 2010, 11:12
Hallo!

Na ja, das Chamber Orchestra of Europe spielt gewiß nicht auf Instrumenten die auf "alt" zurückgebaut wurden, sehr wohl spielt es aber Vivaldi und Bach.

Eine der neueren Einspielungen von Bach´s Violinkonzerten mit ASM und den Trondheim Soloists scheint mir auch unbeleckt vom Gedanken der Originalinterpretation.

Aber vieleich täusche ich mich da ja auch.

Auch vor der HIP-Welle kam es ja niemanden in den Sinn die Brandenburgischen Konzerte oder Scarlattis Concerti Grossi mit einem Orchester vom Strauß/Wagner-Typ aufzuführen. Auch hier haben eher Kammerorchester dominiert.

Nicht umsonst ist -und war es auch früher- ein Orchester eine recht flexible Formation die im Grunde recht selten in voller Besetzung spielt und die für gewöhnlich immer den Erfordernissen des Stückes angepasst wird.

Es geht bei der Originalinterpretation doch eher um die Verwendung speziell angepasster Instrumente, hier liegt für mich ja auch der Punkt an dem ich sage das genau das eine Geschmackssache ist. Warum sollte man die Brandenburgischen Konzerte nicht auch mit einem modernen Instrumentarum genau so gut spielen, es ist doch schlicht und ergreifend Geschmackssache was man hier vorzieht.

MFG Günther
Kreisler_jun.
Inventar
#53 erstellt: 13. Feb 2010, 12:04
Die Kammerorchester der 1960er waren in gewisser Hinsicht Prä- oder Proto-HIP. Und Furtwängler oder Karajan musizierten Concerti grossi tatsächlich parallel dazu noch in Sinfonieorchesterstärke. (Ist die Besetzungsstärke nicht in ähnlicher Weise Geschmackssache wie die Instrumente?)

Natürlich gibt es noch vereinzelte Aufnahmen auf modernen Instrumenten. Davon dürften über 90% Bach (Klavier solo, Violine&Cello solo, Klavier- und Violinkonzerte) und Vivaldi (davon 99% 4 Jahresezeiten) sein. Und vieles in der Spielweise beeinflußt von den HIPisten.
Die Aufnahmen der Brandenburgischen Konzerte des COE von ca. 1990 (und etwa gleichzeitig Händel mit dem Orpheus CO) kamen mir schon damals etwas ausgefallen vor, weil alte Instrumente dominierten.
Die letzten "flächendeckenden" Einspielungen dieser Musik auf modernen Instrumenten (wiewohl in Kammerbesetzung) dürften die aus der damaligen DDR in den 1980ern (besonders um das Bach/Händel-Jubiläum herum) und etwas später gewesen sein.

Ich will das gar nicht bewerten, aber was die faktische Durchsetzung des HIP betrifft, hat Joachim m.E. völlig recht.

JK jr.
Schneewitchen
Inventar
#54 erstellt: 13. Feb 2010, 12:13

Hörbert schrieb:
Warum sollte man die Brandenburgischen Konzerte nicht auch mit einem modernen Instrumentarum genau so gut spielen, es ist doch schlicht und ergreifend Geschmackssache was man hier vorzieht.MFG Günther


,

2010 erschienen mit modernen Instrumenten bei Decca mit Chailly.
flutedevoix
Stammgast
#55 erstellt: 13. Feb 2010, 14:00

Das bringt mich gleich zum nächsten Punkt:



Na, ich glaube, daß Emotionen jenseits einer Intelektuellen Erfahrung bleiben. Es wird ja niemand ernsthaft behaupten wollen, daß der Halleluja-Jubel in Händels Messias heute anders als vor 250 Jahren aufgefaßt wird. Oder daß Bach'sche Passionen heute weniger als zu seiner Zeit Tod, Trauer und Leid als bestimmenden emotionalen Grundzug haben.
Das läßt sich auch auf Instrumentalmusik übertragen!


Doch, gerade das behaupte ich, Händels Halleluja-Jubel wird heutzutage aus einer ganz anderen Distanz betrachtet als zur Entstehungszeit. Es besteht ein erheblicher Unterschied zwischen einem tiefreligiösen Bewußtsein in einem Stadium der Kultur in dem die gesellschaftlichen Parameter festgefügt sind und jeder seinen Platz kennt ('um es einmal etwas vergröbert auszudrücken) und einem Bewußtsein das in unserer heutigen Pluralistischen Welt geformt wurde. So könnte nicht mal ein Zeuge Jehovas heute beispielsweise die tiefreligiösen Empfindungen eines damaligen Menschen nachvollziehen.


Ich glaube wir sprechen da von zwei verschiedenen Ebenen:
Auf der Ebene des intelektuellen Hörens und Verstehens sind ganz andere Voraussetzungen, ganz andere Sozialisationen geschehen. Niemand wird heute noch Musik so hören und so verstehen wie vor 200 Jahren, ganz sicher aber auch nicht wie vor 40 oder 50 Jahren.
Dennoch ist es Tatsache, daß die Musik selbst emotionale Züge trägt, die zumindest in einem weitgefaßten Sinne eindeutig sind. Niemand wird die Arie "Erbarme Dich" aus der Matthäus-Passion als Festjubel empfinden oder das Hallelujah aus dem Messias als Ausdruck tiefer Trauer erleben.


Zudem ist bei einem reinen Zuhörer der alten Musik keine Spur mehr von der Kenntnis des Emotionalen Gehaltes der alten Musik zu finden.


Er muß ja auch keine Kenntnis des emotionalen Gehaltes haben. Diesen emotionalen Gehalt teilt ihm doch die Musik während ihres Erklingens mit. Das ist doch Sinn und Zweck einer Interpretation, einer Aufführung. Grund für "Musik hören", für die bewußte Entscheidung jetzt in diesem Moment Musik hören zu wollen, ist doch die Entscheidung für einen sinnlichen Genuß. Und genau dieser sinnliche Genuß ist in den Noten und im Wissen, um den richtigen Umgang mit den Noten vorgegebrn. Hier liegt die Aufgabe des Interpreten, diese Vorgaben umzusetzen. Deshalb ist er "nachschöpfend" tätig. Der schöpferische Akt bezieht sich beim Interpreten auf das Nachvollziehen und Verwirklichen der vorgegebenen Musik. Dazu muß er um die Regeln, um die Bedingungen für diese Musik wissen. Wenn er das nicht tut, wird er niemals die in der Partitur vorliegende Musik erfassen können. Er bringt dann eine (Nach)"Schöpfung zu stande, die eigentlich in weitaus größerem Maße ihm entspricht als der Musik des Komponisten, ma müßte also eigentlich von einer Fast-Neuschöpfung auf Basis einer Vorlage sprechen.


Auch die Musiksprache und ihre Deutung hat sich gewandelt. (Was glaubst du denn wie oft heute gerade Barockmusik als reine Erbauungsmusik eingesetzt wird? Dabei ist den Rezipienten der eigentliche -ursprüngliche-, Emotionsgehalt der gehörten Musik schnurzegal, die Eigene Emotionalität nutzt in so einem Falle die Musik als reines Vehinkel.)


Natürlich hat sich die Musiksprache gewandelt. Aber eben nicht die Musiksprache vergangener Epochen. Diese hat der Komponist in seiner Partitur mit den Voraussetzungen seiner Zeit festgelegt. Und die will er auch verwirklicht sehen. Wieso sonst beschweren sich Komponisten über Interpretationen ihrer Werke, wieso sonst sind Regelwerke verfaßt worden, die versuchen die jeweils aktuelle Musiksprache zu erklären und zu dokumentieren. Doch nicht aus einer Lust am Regeln und Klassifizieren. Interessanterweise wird in Instrumentalschulen der Renaissance, des Barock und der Klassik ja nur am Rande über Griffe und Begriffe gesprochen. In der Regel spiegeln sie vielmehr eine Musikästhetik wieder.
Und wenn dem Rezipienten der Emotionsgehalt schnurzegal ist, er sich also dem emotionalen Gehalt, der musikalischen Aussage nicht stellt oder nicht stellen will, dann ist ihm auch die Interpretation schnurzegal. Das kann man zum Beispiel bei der Adaption der Musik von Johann Strauß durch André Rieu sehen. Dann dürfen wir aber auch nicht mehr über Interpretationen sprechen, das macht auf dieser Ebene auch niemand, auch nicht derjenige der diese Aufführungen mag! Wenn wir über Interpretationen sprechen, dann interessiert uns ja, wie gut ein Interpret das Werk, die Vorgabe umsetzt. Und da kommen wir um historische Informiertheit nicht herum, auch bei sogenannten "traditionellen" oder "modernen" Interpretationen ist dies ja der Fall, wenn auch in geringerem Umfang als bei sogenannten historisch informierten Interpretationen


Und ja, alle Interpretationen sind reine Geschmackssache, -zumindestens seit es Musikkonserven gibt-. Der Wert einer Interpretation bemißt sich schließlich und endlich an ihrer geschmacklichen Akzeptanz der jeweiligen Käuferschicht. Das ist beileibe kein Werturteil, sondern eine schlichte beschreibung der Realität des Kulturbetriebes.


Da möchte ich dir ganz entschieden widersprechen. Interpretationen waren und sind aus Sicht des Komponisten noch nie reine Geschmacksache geblieben.
Es gibt auch in der Musik nicht "ein jeder kann machen was er will". Schließlich haben wir uns darauf geeinigt, daß man ein "c" spielt, wenn ein "c" in den Noten steht und man nicht aus persönlichen Geschmacksfragen ein "cis" spielt. Diese Notationsregeln kennt jeder, der sich mit der Aufführung Musik auseinandersetzt. Es sollte aber auch jeder Phrasierungsregeln z.B. der Barockzeit kennen, wenn er den Anspruch erhebt, eine Nachschöpfung eines Werkes aus dieser Zeit zu Gehör zu bringen. Die Phrasierungsvereinbarung ist genauso wichtig und gültig wie die Vereinbarung, daß ein c ein c ist. Zu allen Zeiten war klar, daß ein Spielraum zwischen Notation und klinender Wirklichkeit ist, daß es mehr als die reine Noten gibt. Allein deswegen wurde versucht, die Notation immer klarer und eindeutiger zu machen.

Und was den Wert einer Interpretation aufgrund seiner geschmacklich mehrheitsfähigen Akzeptanz angeht:
Ich würde nicht behaupten wollen, daß die "wertvollste" Interpretation der Musik von Johann Strauß diejenige durch Andre Rieu und sein Orchester ist, auch wenn diese in ihrer Käuferschicht naturgemäß die weiteste Verbreitung findet.


[Beitrag von flutedevoix am 13. Feb 2010, 14:08 bearbeitet]
flutedevoix
Stammgast
#56 erstellt: 13. Feb 2010, 14:18

Na ja, das Chamber Orchestra of Europe spielt gewiß nicht auf Instrumenten die auf "alt" zurückgebaut wurden, sehr wohl spielt es aber Vivaldi und Bach.

Eine der neueren Einspielungen von Bach´s Violinkonzerten mit ASM und den Trondheim Soloists scheint mir auch unbeleckt vom Gedanken der Originalinterpretation.

Aber vieleich täusche ich mich da ja auch.


Zumindest im Falle des Chamber Orchestra of Europe und wenn mich nicht alles täuscht auch bei ASM (ich kenne die Aufnahme nicht) ist das alles andere als unbeleckt! Historische Informiertheit bezieht sich ja nicht allein auf die Wahl zeitgenössischer Instrumente


Auch vor der HIP-Welle kam es ja niemanden in den Sinn die Brandenburgischen Konzerte oder Scarlattis Concerti Grossi mit einem Orchester vom Strauß/Wagner-Typ aufzuführen. Auch hier haben eher Kammerorchester dominiert.


Aber sicher, ständig und dauernd.
Hier nur ein paar Beispiele:
Klingendes Dokument ist z.B. eine Furtwängler-Aufnahme eines Händelschen Concerto grosso aus den 40ern.
Es gibt/ gab Einspielungen dieses Repertoires mit den Berliner Philharmonikern unter Karajan



Nicht umsonst ist -und war es auch früher- ein Orchester eine recht flexible Formation die im Grunde recht selten in voller Besetzung spielt und die für gewöhnlich immer den Erfordernissen des Stückes angepasst wird.


Na also, wir sind uns ja einig: "die für gewöhnlich immer den Erfordernissen des Stückes angepasst wird"


Es geht bei der Originalinterpretation doch eher um die Verwendung speziell angepasster Instrumente,


Nein !



hier liegt für mich ja auch der Punkt an dem ich sage das genau das eine Geschmackssache ist. Warum sollte man die Brandenburgischen Konzerte nicht auch mit einem modernen Instrumentarum genau so gut spielen, es ist doch schlicht und ergreifend Geschmackssache was man hier vorzieht.


Wenn Du bereit bist auf Stimmen zu verzichten und keine ausgewogene Balance zu haben, dann ja.
Aber das ist dann eben auch nicht mehr die Vorlage, das was Bach zu Blatt gebracht hat.


[Beitrag von flutedevoix am 13. Feb 2010, 14:20 bearbeitet]
flutedevoix
Stammgast
#57 erstellt: 13. Feb 2010, 14:56

Wenn dem so ist hat die Originalinterpretationspraxis ja beste Voraussetzungen sich als die Qualitativ hochwertigere Interpretationspraxis auf breiter Linie (für alte Musik) durchzuisetzen und alle anderen zu verdrängen. Nun ist das aber weder in den letzten 30 Jahren schon geschehen noch sieht es so aus als würde sie es in absehbarer Zeit können. Was glaubst du denn was da schiefläuft?


Ich habe nicht den Eindruck, daß da etwas "schiefläuft"

Ich glaube historisch informierte Aufführungspraxis hat sich nicht nur für "Alte Musik" (Wo ist die Grenze?) auf ganzer Linie durchgesetzt.

Neben den Ensembles, die auf "historischen" Instrumenten spielen, haben sich auch viele "herkömmliche" Orchester und Dirigenten informiert. Interessanterweise haben wir ja mit Harnoncourt, Gardiner, Herreweghe, Norrington, etc. viele Dirigenten die aus der "historisch informierten Aufführungspraxis kommen" und sich offensichtlich aufgrund ihrer Musikzierpraxis auch für "traditionelle" Orchester wie die Wiener oder Berliner Philharmoniker empfohlen haben
Andere Dirigenten haben den umgekehrten Weg eingeschlagen, z.B. Claudio Abbado. Und auch "traditionell" ausgebildete Solisten wie Andras Schiff, Viktoria Mullowa, Gidon Kremer oder Thomas Zehetmair setzen sich intensiv mit historisch informierter Aufführungspraxis auseinander und spielen z.T. sogar auf rückgebauten Streichinstrumenten (z.B. Zehetmair bei seiner Gesamtaufnahme der Mozartschen Violinkonzerte mit dem Orchester des 18. Jahrhundert)
Offensichtlich interessieren und informieren sich immer mehr Musiker und Orchester bezüglich einer "historisch informierten Spielweise" und favorisieren sie sogar, da sie sie Spielweise überprüfen und verändern.

Im Bereich barocker und früherer Musik spielen "traditionelle" Sinfonieorchester und "traditionelle" Kammerorchester im Musikleben eigentlich keine Rolle mehr. Hier hat sich auch das Spiel auf zeitgenössischen Instrumenten weitgehend durchgesetzt, eben weil es bessere Voraussetzungen bietet. Damit sage ich aber nicht, daß bei einer Vielzahl der Werke auch mit modernem Instrumentarium nicht eine gute Interpretation möglich ist.

Wenn man die Konzertprogramme "moderner" Sinfonieorchester liest, fällt auf, daß auch die Werke Haydns oder Mozarts abgenommen haben und wenn dann weren sie in der Regel in anderen Besetzungen und in anderer Spielweise interpretiert (eben "historisch informiert") als noch vor 10 oder 20 Jahren.
Diese Entwicklung geht sicher darauf zurück, daß sogenannte Barockorchester wie das Freiburger Barockorchester, der Concentus Musicus Wien, das Concerto Köln oder die Akademie für Alte Musik Berlin (um nur einige zu nennen) sich dieses Repertoire, das Wissen um die Aufführungspraxis der Werke dieser Epoche erarbeitet haben.
Offensichtlich empfinden sogar "traditionell" ausgebildete Musiker und "traditionelle" Orchester die Interpreationsweise dieser Ensembles als stimmiger, warum sonst sollten sie die Leiter dieser Ensembles zur Zusammenarbeit einladen. Inzwischen hört man kaum noch Interpretatione von Werken der Wiener klassik, die nicht von historisch informierter Spielweise beeinflußt oder geprägt sind.
Sogar das Wissen um zeitgenössische Instrumente und Klangbilder spiegelt sich bei einigen Orchestern in interessanten Experimenten wieder. So verwendet z.B. das Concertgebouw regelmäßig Nachbauten von Trompeten, Hörnern und Posaunen um 1800 in seinen Konzerten.

Diese Entwicklung beieinflußt auch schon in breitem Maße die Interpretation von Musik des 19. und sogar des 20. Jahrhunderts (auch im Instrumentarium). Daß diese Entwicklung Zeit in Anspruch nimmt, liegt in großem Maße daran, daß man sich die "historich informierte Spielweise" erst erarbeiten muß, in beosnderem Maße den Umgang mit originalen oder nachgebauten Instrumenten aus den verschiedenen Epochen.


[Beitrag von flutedevoix am 13. Feb 2010, 15:06 bearbeitet]
Hörbert
Inventar
#58 erstellt: 15. Feb 2010, 01:28
Hallo!

@flutedevoix



Und was den Wert einer Interpretation aufgrund seiner geschmacklich mehrheitsfähigen Akzeptanz angeht:
Ich würde nicht behaupten wollen, daß die "wertvollste" Interpretation der Musik von Johann Strauß diejenige durch Andre Rieu und sein Orchester ist, auch wenn diese in ihrer Käuferschicht naturgemäß die weiteste Verbreitung findet.




Was bringt dich überhaupt auf die Idee eine Interpretation könnte "wertvoller" sein als eine andere? Alle Käuflich zu erwerbende Interpretationen die auf einem Tonträger erschienen sind wurden aus einem einzigen Grund darauf aufgezeichnet, -um Geld damit zu verdienen-. Wenn es also uberhaupt einen Maßstab für den Interpretatorischen "Wert" eines auf einem Kommerziellen Tontrager erschinenen Werk gäbe müßte er da nicht zwangsläufig in einem Verkaufsranking äussern? Nun, aber so weit möchte ich gar nicht gehen, es würde der Diskussion an sich wenig nützen.

Du bist also der Überzeugung das (Barock) Musik einen Emotionalen Gehalt transportiert der unabhängig von der Sozialisation und vom Bildungsgrad der jeweiligen Hörer erkannt und gewürdigt weden kann? -Willkommen im Traumland- Mache doch mal die Probe und spiele einer willkürlich zusammengestellten Zuhörerschaft einige Stücke von Bach oder Händel ohne weitere Einführung oder Erklärung vor, danach befragst du sie -wiederum ohne jede Einführung oder Erklärung nach dem Emotionsgehalt der gehörten Musik. Wahrscheinlich erhälst du fast ebensoviele unterschiedlichen Antworten wie es Zuhörer gab.

Selbst bei einem Barockhörer bei dem du immerhin ein geübtes Ohr für diese Art Musik vorraussetzen kannst wirst du in der Regel -soweit die Musik nicht massiv Textgestützt ist- kaum eine Erkennbarkeit von Emotionen in der Musik finden. Dafür um so eher eine Adaption der Musik an die inviduelle Emotionalität die absolut nichts mehr mit der urspünglichen Aussage die die Musik in ihrer Zeit transportiert hatte zu tun hat. Das geht z.B. in einem Fall in meinem eigenen Bekanntenkreis so weit das diese Person Barockmusik als "gute Laune Musik" bezeichnet und auflegt um die entsprechende Stimmung bei sich hervorzurufen. Das ist gewiß kein Einzelfall.

Eine Interpretation die sich auf alte Spielweisen bezieht und ohne Originalinstrumente auskommt würde ich im Falle von Barockmusik allenfalls eine historisierende Interpretation nennen keinesfalls eine Originalinterpretation. Schließlich ist man hier zum größten Teil auf Mutmaßungen angewiesen, im grunde weiß niemand mehr wie diese Musik einst tatsächlich gespielt wurde. So etwas ist aus meiner Sicht eine der aktuellen Interpretationsmode geschuldete Augenwischerei, -aber das ist natürlich ausschließlich mreine personliche Meinung zu dem Thema-. Warum sollte ich eine Spielfreudige Interpretation eines guten konventionellen Orchesters ohne diesen Schnickschnack da als weniger "wertvoll" betrachten?

Was soll man sich eigentlich unter einer sogenannten "historischen Informiertheit" vorstellen? Der Begriff ist so vage und schwammig wie die Rede eines Politikers, da sich m.W nach der größte Teil des Wissens über die Aufführungspraxis von Barockstücken in Mutmaßungen erschöpft und es ein gesichertes Wissen nicht gibt ist es also eine Informiertheit über Mutmaßungen oder wie soll ich mir das vorstellen?

So wie du argumentierst entsteht bei mir eigentlich mehr und mehr die Überzeugung das die gesamte Originalinterpretationsgeschichte im Grunde nur dazu dient dem Konsumenten noch einmal alter Wein in auf alt getrimmten neuen Schläuchen anzudrehen.

MFG Günther
flutedevoix
Stammgast
#59 erstellt: 15. Feb 2010, 02:35

Was soll man sich eigentlich unter einer sogenannten "historischen Informiertheit" vorstellen? Der Begriff ist so vage und schwammig wie die Rede eines Politikers, da sich m.W nach der größte Teil des Wissens über die Aufführungspraxis von Barockstücken in Mutmaßungen erschöpft und es ein gesichertes Wissen nicht gibt ist es also eine Informiertheit über Mutmaßungen oder wie soll ich mir das vorstellen?


Da es schon spät ist, nur eine ganz kurze Antwort zu diesem speziellen Punkt.
Ich finde, wenn man über diesen speziellen Punkt der historisch informierten Aufführungspraxis redet, dann sollte man besser informiert sein, bevor man von "vage und schwammig" redet, oder in den Raum stellt, daß sich "... der größte Teil des Wissens über die Aufführungspraxis von Barockstücken in Mutmaßungen erschöpft und es ein gesichertes Wissen nicht gibt".
Es gibt eine große Anzahl an z.B. barocken Lehrwerken, die in manchen Dingen sehr konkret werden. So werden z.B. Anleitungen zum Verzieren gegeben, auch heute noch sehr genau nachvollziehbare Tempoangaben gemacht und sehr genau über Artikulation, Anblastechnik, Gesangstechnik und Bogentechnik geschrieben, ganz zu schweigen von musikästhetischen Ausführungen der Komponisten.

Dazu werde ich gern morgen näher Stellung beziehen und gerne einige Literaturtips geben.

Auch werde ich später gerne auf Deine weiteren Ausführungen eingehen.

So long!
Hörbert
Inventar
#60 erstellt: 15. Feb 2010, 10:53
Hallo!

Gegen Literaturtipps habe ich nichts, ich bringe gerne mein Wissen auf einen neuen Stand. Nach meiner Wissenslage gibt es allerdings gerade bei den Tempoangaben überhaupt kein gesichertes Wissen. Hier wäre es mir recht wichtig wenn du mior das eine oder ndere Werk nennen könntest das sich mit dem Thema beschäftigt und das sich auf einsehbare Quellen stützt.

Verstehe micg richtig, ich bin kein Gegner der Historischen Aufführungspraxis, sehe sie aber auch nicht als alleinseligmachend an, vielmehr denke ich das sie durchaus in den letzten dreissig Jahren etwas frischen Wind in die damals etwas muffige Barockinterpretationslandschaft gebracht hat. Mittlerweile ist sie m.E. allerdings selbst eine Institution die nicht mehr in der Lage ist sich selbst, sowie die von ihr vertretenen Thesen in Frage zu stellen.

MFG Günther
flutedevoix
Stammgast
#61 erstellt: 15. Feb 2010, 14:42


Gegen Literaturtipps habe ich nichts, ich bringe gerne mein Wissen auf einen neuen Stand. Nach meiner Wissenslage gibt es allerdings gerade bei den Tempoangaben überhaupt kein gesichertes Wissen. Hier wäre es mir recht wichtig wenn du mior das eine oder ndere Werk nennen könntest das sich mit dem Thema beschäftigt und das sich auf einsehbare Quellen stützt.


Also zunächst ein paar Literaturtips:

Eine sehr gute Einführung zum Thema Barocke Musik bietet folgendes Werk (auch mit einem interessantem Kapitel zum Thema historsich informierte Aufführungspraxis versus "moderne" Aufführungspraxis):
Bernhard Morbach - Die Musikwelt des Barock - Kassel 2008
(übrigens auch die anderen Bücher dieser Reihe sind sehr empfehlenswert)

Ein allgemeinverständliches Übersichtswerk zu den wensentlichen Fragen eines historische informierten Musizierens bietet auf der Basis von Zitaten aus Schriften des 17 und 18. Jahrhunderts:

Jean-Claude Veilhan - Die Musik des Barocks und ihre Regeln - Paris 1977, 1982

An originalen Quellen zum Thema "Aufführungspraxis" empfehle ich aufgrund der guten Lesbarkeit und Verfügbarkeit:

Johann Joachim Quantz - Versuch einer Aneisung, Flöte traversiere zu spielen - Kassel 1997

daneben
C. Ph. E. Bach - Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen - Kassel 2008
L. Mozart - Versuch einer gründlichen Violinschule - Kassel 2002


Diese Lteraturempfehlungen müßten alle über den Buchhandel zu erhalten sein bzw. zumindest in größeren Städten in Bibliotheken oder Universitätsbibliothekn verfügbar sein.



Verstehe micg richtig, ich bin kein Gegner der Historischen Aufführungspraxis, sehe sie aber auch nicht als alleinseligmachend an, vielmehr denke ich das sie durchaus in den letzten dreissig Jahren etwas frischen Wind in die damals etwas muffige Barockinterpretationslandschaft gebracht hat. Mittlerweile ist sie m.E. allerdings selbst eine Institution die nicht mehr in der Lage ist sich selbst, sowie die von ihr vertretenen Thesen in Frage zu stellen.


Allein selig machend ist nichts auf dieser Welt.
Und gerade die Musiker des Barock haben viel vom guten Geschmack geschrieben, sie haben aber auch ganz genau beschrieben was guter musikalischer Geschmack ist!
Und eben an dieser Tatsache kommt man nicht vorbei. Interpreatation ist wichtig, aber nicht aus dem nichts und allein nach persönlichen Vorstellungen, sondern ausgehend von den Noten und dem Wissen über Musik der Zeit. Dazugehört eben auch das Wissen um die Unterschiede und Differenzen im Instrumentarium zwischen Musik des 17., des 18., des 19. undes 20. Jahrhundert, um nur eine sehr grobe Gliederung anzulegen. Wenn vor diesem Hintergrund eine Werk mit Instrumenten des 20. Jh. spielbar ist, dann habe ich da überhaupt nichts dagegen. Fakt ist aber daß einige Werke (besonders Werke in denen Blechblasinstrumente - aufgrund der nicht zu vergleichenden Klangeigenschaften - beteiligt sind) nicht in ihrer intendierten Gestalt aufführbar sind und viele nicht befriedigend.

Glücklicherweise drängen ja immer wieder neue Ensembles im Bereich der historischen informierten Aufführungspraxis auf die Bühne, die sich genau diesen Fragen stellen. Ich kenne den Ausbildungsbetrieb in beiden "Szenen", um diesen häßlichen Begriff einmal zu verwenden: gerade im Bereich der historisch informierten Szene wurde und wird zur Kritik erzogen, zu Erarbeitung einer eigenen Interpretation auf Grundlage des Wissens um die Quelle. Gerade hier gibt es viel weniger Traditionen und Schulen als im konventionellen Bereich.
Ich möchte Dir nicht widersprechen, daß die Szene nicht mehr so revolutionär erscheint win den 70ern und sich so manch eine Marotte eingestellt hat. Diese Marotten werden aber permanent durch junge Musiker in Frage gestellt - und das ist gut so.

Lösen wir uns aber nun vom Fokus auf den Barock und die Musik davor.
Die gleichen Argumente und Fakten gelten für jede Musik. Das ist für mich nur logisch und zwangsläufig, daß die Fragen an Notentext, Instrumentarium, Artikualtion, etc. an jegliche Musik gestellt wird und eine Werkinterpration auf der Basis dieser Antworten erarbeitet wird.
Um es villeicht etwas plakativ zu formlieren: Ich käme ja auch nicht auf die Idee Stockhausen auf Instrumentarium des 18. Jh. zu musizieren. Warum? Weil es nicht geht. Nicht weil die Instrumente schlechter sind, sondern weil die Musik nicht für diese Instrumente geschrieben wurde.

edit op111: HF-Code korrigiert


[Beitrag von op111 am 16. Feb 2010, 19:42 bearbeitet]
Joachim49
Inventar
#62 erstellt: 15. Feb 2010, 15:19

Hörbert schrieb:


Was bringt dich überhaupt auf die Idee eine Interpretation könnte "wertvoller" sein als eine andere? Alle Käuflich zu erwerbende Interpretationen die auf einem Tonträger erschienen sind wurden aus einem einzigen Grund darauf aufgezeichnet, -um Geld damit zu verdienen-. Wenn es also uberhaupt einen Maßstab für den Interpretatorischen "Wert" eines auf einem Kommerziellen Tontrager erschinenen Werk gäbe müßte er da nicht zwangsläufig in einem Verkaufsranking äussern? Nun, aber so weit möchte ich gar nicht gehen, es würde der Diskussion an sich wenig nützen.

MFG Günther


-Hallo Günther,
mir ist nicht ganz klar was du willst, da du dir widersprichst. Du sagst, wenn der Ausdruck 'wertvoll' einen Sinn hat, dann müsste er am Verkaufsranking abgelesen werden. Aber zugleich sagst du, dass du soweit nicht gehen willst. Offensichtlich hältst du einen 'wertvergleich' entweder unmöglich, oder lässt ihn nur im Sinne eines Verkaufsrankings gelten.
Wenn Wertvergleiche sinnlos sind, dann ist es auch sinnlos dass du Barockinterpretationen auf modernen Instrumentarien gegen die HIP-Anhänger verteidigst, denn ihr habt beide Recht und letzten Endes hat jeder Recht, da es ja (angeblich) keinen Massstab gibt. Und dass sich der künstlerische Wert einer Aufnahme auf ihren kommerziellen Wert reduzieren lässt, das glaubst du wohl selbst nicht.
Und natürlich hat flutedevoix in einem Punkt auf jeden Fall recht: natürlich gibt es Quellen aufgrund derer man ein Tempo, eine Spielpraxis etc. legitimieren kann. Was die Hörpsychologie betrifft gibt es natürlich Probleme; nach dem 'Sacre' oder Schoenberg können wir Barockmusik nicht so hören, wie die Leute damals. Selbst bei Beethoven fehlt uns schon das Empfinden, dass diese Musik oft radikal neu war und damals oft unverständlich. Aber dies reicht nicht aus um daraus zu schliessen, dass die Berücksichtigung historischer Spielpraxis nicht zu einer musikalisch sachgerechteren Interpretation führt.
mit freundlichen Grüssen
Joachim
flutedevoix
Stammgast
#63 erstellt: 15. Feb 2010, 16:04

Hörbert schrieb:
Hallo!

@flutedevoix



Und was den Wert einer Interpretation aufgrund seiner geschmacklich mehrheitsfähigen Akzeptanz angeht:
Ich würde nicht behaupten wollen, daß die "wertvollste" Interpretation der Musik von Johann Strauß diejenige durch Andre Rieu und sein Orchester ist, auch wenn diese in ihrer Käuferschicht naturgemäß die weiteste Verbreitung findet.




Was bringt dich überhaupt auf die Idee eine Interpretation könnte "wertvoller" sein als eine andere? Alle Käuflich zu erwerbende Interpretationen die auf einem Tonträger erschienen sind wurden aus einem einzigen Grund darauf aufgezeichnet, -um Geld damit zu verdienen-. Wenn es also uberhaupt einen Maßstab für den Interpretatorischen "Wert" eines auf einem Kommerziellen Tontrager erschinenen Werk gäbe müßte er da nicht zwangsläufig in einem Verkaufsranking äussern? Nun, aber so weit möchte ich gar nicht gehen, es würde der Diskussion an sich wenig nützen.


Ich denke man muß zwischen einem fiskalen Wert unterscheiden und zwischen einem ästhetischen Wert.

Was den fiskalen Wert angeht gebe ich dir natürlich recht. Dennoch wage ich einzuwenden, daß viele Labels auch Musik des Mittelalters, der Renaissance und der Moderne veröffentlichen, die sicher keine Aussicht auf finanziellen Erfolg haben!
Wenn wir diesen fiskalischen Wertbegriff zugrunde legen, dann brauchen wir uns in diesem Forum aber auch nicht mehr zu äußern, denn dann genügt es in der Tat ein Verkaufsranking vorzulegen, das den Wert einen Interpretation bemißt. Und diese sollten wir uns dann ja alle auch kaufen, schließlich ist es ja die beste!
Daß das nicht gemeint ist, darüber sind wir uns, glaube ich einig.

Kommen wir zum ästhetischen Wert. Da liegt die Gemengelage sehr viel schwieriger. Wir bewegen uns zwischen den Extremen Wort (nur der geschriebene Notentext zählt) und Tradition (entscheidend ist das zwischen den Zeilen überlieferte)
Eine gute Aufführung eines Werkes ist, wenn der Musiker sich seine Interpretation (Auslegung!) auf der Basis eines zuverlässigen (also entsprechend einer Fassung des Komponisten, das muß nicht unbedingt die Fasungs letzter Hand sein!) Notentextes unter Berücksichtigung der Musikauffassung der Zeit erarbeitet. Um es vielleicht noch etwas deutlicher zu machen: alle Komponisten und Musiktheoretiker forden einen eigenständigen Beitrag des Interpreten ein, manche sagen expressis verbis daß der Anteil von Interpret und Komponist halbe - halbe beträgt. Sie bemängeln ja geißeln es aber, wenn diese Zutat des Interpreten nicht "dem guten Geschmack" also der Musikauffassung der Zeit entspricht, wenn also der Interpret sich über das, was der Notentext ihm sagen will, keine Gedanken macht. Und genau zu diesem Punkt ("Wie gehe ich mit dem Notentext um") ist zu jeder Zeit geschrieben, gesprochen und diskutiert worden.

Alle haben auf dem Boden der Musikauffasung der entsprechenden Zeit diskutiert, was ihnen natürlich auch leicht viel, weil sie sich nicht der interpretation von Werken vergangener Epochen stellen mußten. Das ist wie gesagt zu weitaus größten Teilen erst ein Problem des 20. Jahrhunderts und der Zeit danach.

Folgerichtig wurde zunächst zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Musik vergangener Epochen mit dem Werkzeug des frühen 20. Jahrhunderts - dem Orchester des Wagner-Strauß-Typus, spätromantischen Orgeln, dem Konzertflügel und der spätromantischen Musiziertradition - erforscht. Und schon zu diesem frühen Zeitpunkt waren Interpreten damit unzufrieden und begannen sich zu informieren (z.B. Albert Schweitzer). Das betrf alle musikalischen Parameter, z.B. auch das Instrumentarium (Albert Schweitzer haben wir z.B. den erhalt vieler Orgeln des 18. Jh. in Frankreich und Deutschland zu verdanken. Und hier liegt auch der Beginn einer "historisch informierten" Spielweise.

Zurück zur Frage des ästhetischen Wertes. Dieser bemißt sich also nach Auffassung aller Komponisten und Theoretiker (oft in ein und derselben Person) nach der Erarbeitung einer eigenständigen Interpreation auf der Basis der historischen Informiertheit, des auf den Regeln und Vorstellungen der Zeit beruhenden Umganges mit dem Notentext. Diese Auffassung legt übrigens schon nahe, daß das noch genügend Spielraum zur Erarbeitung einer eigenständiger Interpreation blieb und bleibt.

Und genau auf diesen Grundlage erlaube ich mir eine Interpretation als gelungen, als ästhetisch wertvoll zu bezeichnen.

Ich glaube wir sind uns auch einig, daß Herr Rieu mit seiner Zusammenstellung von Strauss-Walzer-Schnipseln (Kaiserwalzer in 5 Minuten) allenfalls in die 1. Kategorie fallen kann und nicht in die 2.
Daraus folgt aber auch, daß eine stimmige Interpretation z.B. eines Concerto-grosso für reine Streicherbesetzung der Barockzeit auf der Basis des Wissens um diese Musik durchaus ästhetisch wertvoll ist bzw. sein kann.
Es folgt daraus aber auch, daß eine Interpretation des 2. Brandenburgischen Konzertes von Bach mit einer modernen Trompete (einer sog. Bach- oder Hoch-b-Trompete) eben ästhetisch nur sehr eingeschränkt wertvoll sein kann, egal wie gut sich die Interpreten in diese Musik eingearbeitet haben. Da sie aufgrund der "falschen" Instrumentenwahl und der daraus resultierenden Klang- und Balance-Problematik niemals die Chance bekommt, Bachs Intention zu entsprechen.

Will man also dieses Werk mit heutigem Instrumentarium aufführen, was ich aufgrund der musikalischen Qualitäten des Werkes gut nachvollziehen kann, kommt man um eine Neuinstrumentation nicht herum, um der gewollten klanglichen Balance nahezukommen.
Wie das aussehen könnte, da gibt es einige Ansätze: z.B. könnte man die Trompete durch ein Flügelhorn ersetzen, was per se einen leiseren, mischungsfähigeren Klang hat. Das führt allerdings zu noch größere technischen Problemen im 3. Satz. Eine vielleicht bessere Alternative wäre es die Trompete durch ein Horn als Soloinstrument zu ersetzen und die blockflöte durch eine moderne Querflöte. Dann hätte man eine enigermaßen klanglich verschmelzungsfähige Besetzung (vgl. z.B. einem Holzbläserquintett), in dem jedes Instrument seine Solorolle warnehmen könnte, es gleichzeitig aber auch ein ausgewogenes Miteinander der Soloinstrumente geben könnte.
Natürlich sind das schwerwiegenden Eingriffe in das Klangbild des Konzertes, abe so wäre es einigermaßen möglich die Komposition in ihrer kompoistorischen Anlage, die sich im Verhältnis der einzelnen Stimmen zueinander mitteilt, wiederzugeben.
Daß diese Praxis der Barockzeit übrigens nicht fremd war, zeigt die Anpassung einer Violinsonate als Oboensonate (das beschränkt sich aber ganz oft nicht nur in einer Tranposition sondern erstreckt sich eben auch auf eine kompositorischen Anpassung, kann man sehr gut bei Vivaldi sehen)
Dr einfachere Weg und richtigere Weg wäre aber heutedas Werk mit Instrumentarium (zumindest einer Trompete, was aber noch nicht alle Probleme löst) des 18. Jahrhunderts aufzuführen.

Fazit:
Ohne Zweifel kann es eine "schöne", festliche, schwungvolle Interpretation des 2. Brandenburgischen Konzertes auf modernen Instrumenten geben. Dann ist auch der Satz "mir gefällt das" angebracht.
Aber man hört dann nicht Bachs Idee, die er bei der Komposition dieses Werkes hatte (das läßt sich nachweisen und durch vergleichendes Hören auch erfahren). Musikästhetisch ist diese Interpretation also nicht besonders "wertvoll", da sie weit am Notentext und der Musizierpraxis ihrer Zeit, für die sie entstand, vorbeizielt.
Ästhetisch wertvoller und "richtiger" wäre dann die z.B. die oben skizzierte neuinstrumentierte Fassung, trotz oder gerade wegen ihrer weitreichenden Eingriffe in das verwendete Instrumentarium.
flutedevoix
Stammgast
#64 erstellt: 15. Feb 2010, 20:04

Joachim49 schrieb:
Was die Hörpsychologie betrifft gibt es natürlich Probleme; nach dem 'Sacre' oder Schoenberg können wir Barockmusik nicht so hören, wie die Leute damals. Selbst bei Beethoven fehlt uns schon das Empfinden, dass diese Musik oft radikal neu war und damals oft unverständlich. Aber dies reicht nicht aus um daraus zu schliessen, dass die Berücksichtigung historischer Spielpraxis nicht zu einer musikalisch sachgerechteren Interpretation führt.


In der Tat ist das Problem der Hörpsycologie unüberwindlich wenn man eine "historische Rekonstruktion" eines Musikerlebnises erreichen will. Darum geht es aber der "historisch informierten Aufführungspraxis" auch in ihrer überwältigenden Mehrheit gar nicht!

Interessanterweise tritt aber das radikal Neue in der Musik Beethovens dann verstärkt zu Tage, wenn man sich seinen Werken in historisch informierter Aufführungspraxis nähert, besonders bei Verwendung von Instrumenten aus Beethovens Zeit.

Ich möchte nur zwei Aspekte nennen:
1.) Vibrato
Vibrato macht einen Ton "runder", weniger klar konturiert. Das ist übrigens ein Grund dafür, daß in der Anfangsphase der historisch informierten Aufführungspraxis viele Ensembles enorme Intonationsprobleme hatten.
Spielt man nun besonders dissonante Abschnitte (wie z.B. in der langsamen Einleitung des 1. Satzes der Eroica) ohne Vibrato treten zwangsläufig die Spannungen, das Schneidende der dissonanten Akkorden viel stärker in den Vordergrund als mit Vibrato. Diese Akkorde, die ja im wahrsten Sinne "unerhört" sind (o.k. es gibt eine Parallelstelle in der 39. Sinfonie von Mozart) wirken so noch viel stärker, während sie bei "konventionellen" Orchestern oft etwas nivelliert wirken.

2.) Instrumente
Instrumente des 20. Jahrhunderts, besonders Blasinstrumente, haben einen wesentlich ausgeglicheneren, gleichmäßigeren Klang durch ihre Register im Vergleich zu Instrumenten früherer Jahrhunderte. Das war das Ziel einer Entwicklung, durch die man aber auch den Verlust klanglicher Eigenheiten in Kauf nahm. Man könnte sogar davon sprechen, daß eine klangliche Verarmung stattgefunden hat und momentan auch noch stattfindet. Das läßt sich daran beobachten, daß viele Orchester sich klanglich immer einander annähern.
Komponisten stellten aber die Wirkung der Instrumentation ihrer Werke auf die klanglichen Eigenschaften der Instrumente ab, die sie kannten. Verallgemeinernd kann man sagen, daß die Instrumente einen größeren Verschmelzungsgrad beim Zusammenspiel hatten. Dadurch kamen aber Soli oder Ausbrüche des Bleches viel stärker zum Tragen ohne gleichzeitig den Rest des Orchesters zu Erschlagen. Gut nachvollziehbar zum Beispile im 3. Satz der 7. Sinfonie von Beethoven.
Diese möglichen schroffen Gengensätze wirken mit "modernen" Instrumenten bei weitem nicht so stark, das ist also ein Parameter, den man suchen muß. Tendenziell geht aber der Trend bei "modernen" Orchestern zur Suche nach einem besonders schönen, runden Klang und zum Nivellieren von Kontrasten!

Vielleicht kann an diesen zwei kleinen Beispielen klar werden, daß die Verwendung einer "historisch informierten Spielweise" und zeitgenössischen Instrumentariums immer bessere Voraussetzung hat.

edit op111: HF-Code korrigiert


[Beitrag von op111 am 16. Feb 2010, 19:44 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#65 erstellt: 16. Feb 2010, 01:33

flutedevoix schrieb:
Um es villeicht etwas plakativ zu formlieren: Ich käme ja auch nicht auf die Idee Stockhausen auf Instrumentarium des 18. Jh. zu musizieren. Warum? Weil es nicht geht.


Einspruch mit einem Beispiel: Stockhausens Tierkreis ist eine Komposition für Spieluhren. Das hat aber eine ganze Reihe von Interpreten nicht davon abgehalten, den Tierkreis mit einem anderen Instrumentarium aufzuführen, von Soloviolinen - vielleicht sogar aus dem 18 Jahrhundert - bis hin zu Orchesterversionen. Soweit ich weiß hat Stockhausen nie dagegen protestiert. Man kann Stockhausen also doch auf dem Instrumentarium des 18. Jahrhunderts musizieren.

Doch was würde der historisch informierte Stockhausen-Interpret sagen? Der Tierkreis ist angemessen nur mit Spieluhren aufzuführen? Und zwar nur mit den originalen Spieluhren und nicht mit nachgegossenen? Das klingt wenig plausibel.

Die elektronischen Werke von Stockhausen sind trivialerweise nicht auf das Instrumentarium des 18. Jahrhunderts übertragbar, das es zu der Zeit die Möglichkeiten der elektronisch erzeugten Klänge überhaupt gar nicht gab. Aber eine interessanter Wesenszug elektronischer Musik ist ein anderer, ich habe das schon anderswo hier im Forum bereits geschrieben: vollständig elektronische Musik hebt die Trennung von Notation und Aufführung auf. Der Komponist erstellt ein Tonband (oder sonst irgendeine fixierte Aufzeichnung) und konserviert damit das Werk in akustischer Form. Das Schöne daran ist, dass jeder, der eine Kopie dieser Konserve besitzt, das Werk historisch-informiert hören kann. Und der Glückliche, der das Orginal besitzt am historisch-informiertesten.

Was folgt daraus? Mir fällt zweierlei ein. 1) Historisch informierte Aufführunspraxis projiziert nicht beliebig. Je expliziter die Notation ist, desto irrelevanter wird sie. Der Extrempunkt ist die vollständige Fixierung eines Werkes als akustischen Dokument. Hier sehe ich keinen Spielraum für historisch-informierte Zugänge. Heißt "historisch-informiert" letztlich nichts anderes als das Aufführen von Musik, die notationell unterbestimmt ist? 2) "Historisch-informiert" ist ein skalares (zusammengesetztes) Adjektiv, also ein Adjektiv das mehr oder weniger ausgegrägt oder stark auf eine Aufführung zutreffen kann. Das schafft natürlich Explikationsprobleme. Wie viele als historisch-informierte akzeptierte Parameter muss eine Interpretation umsetzen um überhaupt als solche gelten zu können? Ist die historisch-informierte Umsetzung von drei Parametern bei Stück X im gleichen Maße historisch informiert wie die Umsetzung derselben drei Parameter bei Stück Y? Wenn man auf solche und ähnliche Fragen keine Antwort findet, dann hat der Ausdruck "historisch-informiert" keine unabhängige Bedeutung sondern kann immer nur in Bezug auf ein bestimmtes Werk interpretiert werden. Das wäre doch ein unbefriedigendes Ergebnis, oder nicht?

Viele Grüße,
Mellus


[Beitrag von Mellus am 16. Feb 2010, 11:51 bearbeitet]
flutedevoix
Stammgast
#66 erstellt: 16. Feb 2010, 18:51

Mellus schrieb:

flutedevoix schrieb:
Um es villeicht etwas plakativ zu formlieren: Ich käme ja auch nicht auf die Idee Stockhausen auf Instrumentarium des 18. Jh. zu musizieren. Warum? Weil es nicht geht.


Einspruch mit einem Beispiel: Stockhausens Tierkreis ist eine Komposition für Spieluhren. Das hat aber eine ganze Reihe von Interpreten nicht davon abgehalten, den Tierkreis mit einem anderen Instrumentarium aufzuführen, von Soloviolinen - vielleicht sogar aus dem 18 Jahrhundert - bis hin zu Orchesterversionen. Soweit ich weiß hat Stockhausen nie dagegen protestiert. Man kann Stockhausen also doch auf dem Instrumentarium des 18. Jahrhunderts musizieren.


Ich muß zugeben, daß Stockhausen nicht zu meinen Schwerpunkten weder in der Musizierpraxis noch in der Hörpraxis gehört. Ich meine mich aber zu erinnern, daß es von Stockhausen selbst mehrere Fassungen des Tierkreises gibt, davon eine für Kammerensemble oder -orchester. In dieser Fassung, die ich schon aufgeführt habe (Fagottpart) ist die Stimme definitiv nicht auf einem Fagott des 18. Jahrhunderts aufführbar aus Gründen des Tonvorrats und Klangverhaltens einzelnen Töne.

Davon abgesehen haben wir doch mit deinem Beitrag ein Paradebeispiel für die Herangehensweise in der historisch informierten Aufführungspraxis:

Ich möchte, Stockhausen, Tierkreis aufführen.
Nachdem ich mir die Noten bestellt/ ausgeliehen habe, beginne ich mich über das Stück zu informieren anhand der Partitur und anhand von Informationen von oder über Stockhausen. Dabei stoße ich zwangsläufig auf Deine information und berücksichtige sie bei der Erarbeitung meiner Interpretation.
Für was für ein Instrumentarium ich mich schlißeliche entscheide hängt dann natrülich noch von mehr Faktoren ab.
Hätte ich aber nur die Noten zu Grunde gelegt, wäre ich davon ausgegangen, daß das Stück nur für Spieluhren gedacht ist und somit nur von solchen aufgeführt werden kann.


Doch was würde der historisch informierte Stockhausen-Interpret sagen? Der Tierkreis ist angemessen nur mit Spieluhren aufzuführen? Und zwar nur mit den originalen Spieluhren und nicht mit nachgegossenen? Das klingt wenig plausibel.


Zunächst siehe oben, dann: Wenn ich Spieluhren (nachgegeossen) finde, die den originalen entsprechen oder sehr nahe kommen, ist schon einmal grundsätzlich nichts gegen "Nachbauten" einzuwenden.
Finde ich keine, müßte ich entscheiden, ob die Partitur unter Berücksichtigung meiner Informationen die Verwendung anderer Spieluhren erlaubt. Nach meinem jetzigem Kenntnisstand (u.a. auch um das Wissen, daß es Versionen für andere Instrumente gibt) spricht alles dafür. Sicher scheint mir aber auch, daß nicht alle Spieluhren geeignet sind.


Aber eine interessanter Wesenszug elektronischer Musik ist ein anderer, ich habe das schon anderswo hier im Forum bereits geschrieben: vollständig elektronische Musik hebt die Trennung von Notation und Aufführung auf. Der Komponist erstellt ein Tonband (oder sonst irgendeine fixierte Aufzeichnung) und konserviert damit das Werk in akustischer Form. Das Schöne daran ist, dass jeder, der eine Kopie dieser Konserve besitzt, das Werk historisch-informiert hören kann. Und der Glückliche, der das Orginal besitzt am historisch-informiertesten.

Wäre noch zu berücksichtigen, ob die Klänge nicht in unterschiedlichen Verfahren produziert werden. Der als "xy" bezeichnete Klang ist ja nicht unbedingt gleich, siehe z.B. Synthesizer.
Dann wäre noch zu fragen, ob der Komponist mit seinem Werk die Reproduktion des Immer-Gleichen bezweckt (z.B. legitimiert durch Äußerung oder Vorwort in der Partitur), sprich ob dies Teil des Werkes ist, oder ihm durchaus Nuancen durch Verwendung anderer Klangerzeugungsfarben wichtig sind.

Ich will damit sagen, obwohl wir durch ein Tonband genau wissen, wie der Komponist es in dem Moment der Tonbandaufzeichnung haben wollte, bleibt eventuell dennoch Spielraum zur interpretation. In diese Interpretation muß aber der Inter Interpret unbedingt das Ergebnis des Tonbandes miteinbeziehen.


Was folgt daraus? Mir fällt zweierlei ein. 1) Historisch informierte Aufführunspraxis projiziert nicht beliebig. Je expliziter die Notation ist, desto irrelevanter wird sie. Der Extrempunkt ist die vollständige Fixierung eines Werkes als akustischen Dokument. Hier sehe ich keinen Spielraum für historisch-informierte Zugänge.

Denkt man diese These vollständig zu Ende, bleibt überhaupt kein Platz für Interpretation. Das heißt mit der Fassung haben wir die einzig mögliche Form. Diese Form läßt sich vielleicht reproduzieren aber nicht interpretieren. Hier handelt es sich dann um eine Form von Musik, die nicht mit den Gepflogenheiten des Musizierens, wie wir es zu 99,99% der Kompositionen vorliegen haben, übereinstimmt. Hier kann dann aber nicht mehr über Interpretation gesprochen werden, das heißt aus meiner Sicht, ist dann hier auch eine Diskussion über die Art der Aufführung nicht mehr möglich



Heißt "historisch-informiert" letztlich nichts anderes als das Aufführen von Musik, die notationell unterbestimmt ist?


Ist nicht jede Musik notationell trotz aller Verfeinerungen (oder möglicherweise sogar dadurch) unterbestimmt?


2)
"Historisch-informiert" ist ein skalares (zusammengesetztes) Adjektiv, also ein Adjektiv das mehr oder weniger ausgegrägt oder stark auf eine Aufführung zutreffen kann.

Wie jede andere Beschreibung wohl auch?

Das schafft natürlich Explikationsprobleme. Wie viele als historisch-informierte akzeptierte Parameter muss eine Interpretation umsetzen um überhaupt als solche gelten zu können? Ist die historisch-informierte Umsetzung von drei Parametern bei Stück X im gleichen Maße historisch informiert wie die Umsetzung derselben drei Parameter bei Stück Y?

Historisch informiert kann auch immer nur bezogen auf das jeweilige Werk, das ich in der Interpretation erarbeite, gemeint sein. Dabei ändern sich ja die Parameter nicht.
Ich glaube, man muß noch einmal daraufhinweisen, daß es nicht um die Rekonstruktion eines bestimmten Aufführungserlebnisses in der historischen Aufführungspraxis gehr. Es geht nicht darum, wie das Werk(fiktiv) am 29.4.1756 in XY aufgeführt und dies dann detailgetreu zu rekonstruieren.
Bei der historisch Informierten Aufführungspraxis geht es darum, die Interpretation (nicht die Reproduktion) eines Werkes aufgrund des verfügbaren Wissens um das Werk zu erarbeiten. Und zwar unter den Vorgaben des Musikwerks, die immer ein zeitgebunden sind. Kompositionen sind (jedenfalls bis zum 20. Jahrhundert) für das hier und jetzt im hier und jetzt entstanden, niemals für eine spekulative Zukunft. Und genau diesen Umstand muß man bei der Erarbeitung der Interpretation würdigen.
Und das ist, zumindest in meinen Augen, kein unbefriedigendes Ergebnis
Mellus
Stammgast
#67 erstellt: 17. Feb 2010, 11:58
Der Witz am Spieluhrenbeispiel war eigentlich ein anderer. Die Partitur kann man doch 1 zu 1 auf die Spieluhrwalze abbilden. Was der Interpret herausfinden muss ist, mit welcher Geschwindigkeit er an der Uhr dreht, bzw. wie weit er sie aufzieht. Ich finde das rührend!


flutedevoix schrieb:
Denkt man diese These vollständig zu Ende, bleibt überhaupt kein Platz für Interpretation. Das heißt mit der Fassung haben wir die einzig mögliche Form. Diese Form läßt sich vielleicht reproduzieren aber nicht interpretieren.


Das ist doch was ich sage:


vollständig elektronische Musik hebt die Trennung von Notation und Aufführung auf. Der Komponist erstellt ein Tonband (oder sonst irgendeine fixierte Aufzeichnung) und konserviert damit das Werk in akustischer Form.



flutedevoix schrieb:


Mellus schrieb:
Heißt "historisch-informiert" letztlich nichts anderes als das Aufführen von Musik, die notationell unterbestimmt ist?


Ist nicht jede Musik notationell trotz aller Verfeinerungen (oder möglicherweise sogar dadurch) unterbestimmt?


Ja, da gebe ich Dir recht. Du hast die Vorlage aber nicht vollständig verwandelt. Die aufklärerische Leistung der historischen Informiertheit besteht doch gerade darin, dass sie gezeigt hat, in welchem Maße die Notation von Musik unterbestimmt ist.


flutedevoix schrieb:


Mellus schrieb:
"Historisch-informiert" ist ein skalares (zusammengesetztes) Adjektiv, also ein Adjektiv das mehr oder weniger ausgegrägt oder stark auf eine Aufführung zutreffen kann.


Wie jede andere Beschreibung wohl auch?


Naja, "drei Meter groß" ist einfach drei Meter groß. Worauf ich aber abzielte war, dass historisch informiert und historisch uninformiert (oder wie das Gegenteil heißt) keine kategorial unterschiedenen Schulen sind, sondern die beiden Enden eines Kontinuums bilden. Dass der uninformierte Pol völlig daneben liegen kann, liegt wohl auf der Hand; die Gefahr der Informiertheit besteht wohl tatsächlich darin, eine Reproduktion statt einer Interpretation abzuliefern, um Deine Unterscheidung aufzugreifen. Aber, und daher ist das obige "Aufklärung" wohl kein unpassendes Wort, beide Extrema haben in der gegenwärtigen Praxis in einer praktikablen Mitte zusammengefunden (in der man sicher auch noch über Details streiten kann), wie hier bereits ja schon mehrfach betont wurde.

Viele Grüße,
Mellus
op111
Moderator
#68 erstellt: 17. Feb 2010, 14:24
Hallo zusammen,

das Thema HIP wird auch im Bekanntenkreis kontrovers diskutiert.
Gestern hatten ich und meine Freunde anlässlich eines unserer üblichen Treffen Gelegenheit, einen Experten dazu zu hören.

Zu vorgerückter Stunde um ca. 0 Uhr gesellte sich noch ein neuer Gast zu unserer Runde. Ein Mittsechziger mit offensichtlich schlechtem Sehvermögen in einer Kostümierung, die unschwer dem Barock zuzuordnen war.
Um es kurz zu machen, er stellte sich als Komponist überwiegend protestantischer geistlicher Werke vor und bewies ein umfassendes Wissen über Barockmusik bis 1750. Sein Name sei Bach, Johann Sebastian - er sei seinerzeit Komponist gewesen, wenn auch nur Autodidakt.
Er erkundigte sich, ob man denn seine Musik auch heute noch kennen würde.
Der Gastgeber beeilte sich, ihm zu versichern seine Musik sei nicht nur unter Kennern hochgeschätzt und beeilte sich eine CD mit den Brandenburgischen Konzerten in der seiner Meinung nach historisch informiertesten Aufnahme seiner Sammlung aufzulegen.
Gespannt beobachteten wir unseren Gast. Ob die Aufnahme wohl Gnade vor seinen Ohren finden würde?
Bereits nach einer Minute zeigte sich neben der Freude über das Wiederhören ein gewisser Unmut.
Das sei ja sehr freundlich, dass sich noch jemand seiner Werke annehme, aber warum das denn immer noch so gespielt werde wie damals? Er hätte sich ja zu Lebzeiten schon über die Unzulänglichkeiten des Instrumentenbaus geärgert, besonders dieses schreckliche, rasselnde Cembalo.
Ob man denn in den letzten mehr als 250 Jahren gar nichts dazugelernt hätte? Musik müsse doch leben, nicht im Museum verstauben.
So überrascht legte unser Gastgeber eine seiner noch nicht recycelten Non-HIP-Aufnahmen der Brandenburgischen mit Furtwängler am Flügel auf.
Das sei schon besser, meinte unser Gast. Ausserdem werde viel flüssiger und sauberer, vor allem freier gespielt, aber sei das der letzte Stand, weiter sei man nicht gekommen?
So ermutigt, spielte der Gastgeber Wendy Carlos' Aufnahme. Bachs Stimmung hellte sich auf und wich purer Begeisterung. Das sei ein weiter Schritt in die richtige Richtung! Nur weiter so. Dann sei ja nicht alles verloren, wofür er gearbeitet und gekämpft hätte.
Nach dem er sich noch interessiert einige Kompositionen von Beethoven, Wagner und Stockhausen angehört hatte, wurde es Zeit zum Aufbruch.
Mellus
Stammgast
#69 erstellt: 17. Feb 2010, 14:50


Was? Dieser Krach von Beethoven und Wagner hat Bach wirklich gefallen? Bei Stockhausen kann ich mir das schon eher vorstellen...

Viele Grüße,Mellus
op111
Moderator
#70 erstellt: 17. Feb 2010, 14:54
Am Tristan gefiel ihm ganz besonders die Harmonik, der Krach war in der Tat zunächst schockierend.
flutedevoix
Stammgast
#71 erstellt: 18. Feb 2010, 04:06

Ja, da gebe ich Dir recht. Du hast die Vorlage aber nicht vollständig verwandelt. Die aufklärerische Leistung der historischen Informiertheit besteht doch gerade darin, dass sie gezeigt hat, in welchem Maße die Notation von Musik unterbestimmt ist.


Ich denke das wird schon hinreichend aus dem ganzen Beitrag und auch aus alle meinen Beiträgen zu diesem Thema deutlich. Daß ist doch der Grund, wieso wir über Interpreation diskutieren.



Worauf ich aber abzielte war, dass historisch informiert und historisch uninformiert (oder wie das Gegenteil heißt) keine kategorial unterschiedenen Schulen sind, sondern die beiden Enden eines Kontinuums bilden.


Es wäre sehr schön, wenn das jeder wüßte! Ich meine nicht nur alle, die über dieses Thema diskutieren, sondern auch alle die Musik interpretieren.



Dass der uninformierte Pol völlig daneben liegen kann, liegt wohl auf der Hand;


Ja, ja, auch da gilt das oben gesagte. Nicht jeder hat das Glück, von JSB besucht zu werden!
Es ist durchaus aber auch kein Luxus mal entsprechende Fachliteratur aus erster Hand zu lesen. Aber da müßte man ja sich vielleicht eines besseren belehren lassen. Wie unangenehm!
Zurück zum Ernst.


die Gefahr der Informiertheit besteht wohl tatsächlich darin, eine Reproduktion statt einer Interpretation abzuliefern, um Deine Unterscheidung aufzugreifen.


Diese Gefahr besteht in der Tat. Interessanterweise sind dieser Versuchung aber noch nicht allzuviele erlegen. Gerade in der Frühzeit nicht, auch wenn die Diskussion und die Art der Argumente in der Frühzeit dies vielleiht vermuten ließen. Hört man sich die z.B. die frühen Harnoncourt-Aufnahmen an, stößt man auf sehr viel Interpretation


Aber, und daher ist das obige "Aufklärung" wohl kein unpassendes Wort, beide Extrema haben in der gegenwärtigen Praxis in einer praktikablen Mitte zusammengefunden (in der man sicher auch noch über Details streiten kann), wie hier bereits ja schon mehrfach betont wurde.


Momentan sehe ich eher die Gefahr, daß "historisch informierte Aufführungspraxis" auf wenige Parameter reduziert wird, z.B. verwende ich historische Instrumente oder nicht. Wie wir in der Diskussion gesehen habe, greift dies ja viel zu kurz. Interessanterweise unterliegen dieser Gefahr viele, die aus der "modernen" Aufführungspraxis kommen und nun auf den Zug aufspringen möchten. Historisch informiert ist halt wesentlich mehr als mal alte Instrumente zu verwenden oder halt mal das Vibrato wegzulassen.
Interessant finde ich ja schon, daß viele Verfechter einer "modernen" Auffürhungspraxis (ich meine damit viele Kollegen, die in den Sinfonieorchestern Dienst tun) momentan ja beinahe täglich gezwungen sind, sich mit historisch informierter Aufführungspraxis auseinanderzusetzen. Dirigenten wie Gardiner, Herreweghe, Harnoncourt, Brüggen, Hogwood, Goodman, Norrington kommen ja aus der historisch informierten Aufführungspraxis und arbeiten immer mehr mit "modernen" Sinfonieorchestern. Und plötzlich höre ich, daß dies ja eine ganz andere und tolle Arbeit ist, von Kollegen, die noch während des Studiums, sinngemäß meinten, das wäre ja eine gefühlsamputierte Art des Musizierens.


[Beitrag von flutedevoix am 18. Feb 2010, 04:18 bearbeitet]
op111
Moderator
#75 erstellt: 23. Feb 2010, 16:56
Diese Nachricht wurde automatisch erstellt!

Das Thema wurde aufgeteilt und einige themenfremde Beiträge wurden verschoben. Das neue Thema lautet: "Presseartikel zum Thema Klassik"
Joachim49
Inventar
#76 erstellt: 12. Mrz 2010, 22:23
An der Pariser Oper hat's mal wieder Ärger gegeben. Zwar scheint es so, dass HIP und nicht-HIP voneinander lernen und sich näher kommen, aber oft geht es auch noch mit Konfrontation pur.
Emmanuelle Haïm - nicht nur weibliche Dirigentin sondern auch noch praktizierende Anhängerin der historischen informierten Praxis, sollte im Januar und Februar 9 Aufführungen der Mozartoper Idomeneo leiten, an der Parisr Oper mit dem hauseigenen Orchester. Zwei Tage vor der ersten Aufführung hat die Leitung der Oper das Unternehmen abgeblasen. Haïms Kommentar: "Der Versuch das orchester zu einer anderen Ästhetik zu führen ist schiefgelaufen. Die Herausforderung war gross, aber das Orchester war nicht bereit sich dieser Erfahrung zu unterziehen". Woraufhin der Orchstervorstand sich genötigt sah, 'die Tatsachen zur Geltung kommen zu lassen'. Das sah dann, an geschmackloser Brutalität nicht zu unterbieten,so aus: "Die Enttäuschung über Frau Haïm war gross, da es sowohl an musikalischen Ideen fehlte als auch an präziser Gestik. Es ging nicht um einen Streit zwischen 'konventionell' und 'Barock', sondern nur darum, die Qualität der Aufführungen zu garantieren, die man dem Publikum der Pariser Oper schuldig ist." Die Direktion der Oper hat sich ein bisschen diplomatischer ausgedrückt: "Emmanuelle Haïm hat sich zurückgezogen, nachdem man gegenseitig festgestellt hat (...) dass ihr künstlerischer Ansatz mit dem des Orchsters inkompatibel war, gemessen an den Beschränkungen die die Planung der Pariser Oper auferlegt."
Obwohl kaum noch Probenzeit blieb, fanden die Aufführungen statt - mit einem anderen Dirigenten. Damit war wohl die "Qualität der Aufführungen garantiert, die man dem Publikum in Paris schuldig ist".
Joachim


[Beitrag von Joachim49 am 12. Mrz 2010, 22:24 bearbeitet]
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