Interpretation oder Verfälschung - Eine Gratwanderung

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Alfred_Schmidt
Hat sich gelöscht
#1 erstellt: 12. Mai 2004, 13:46
Liebe Forianer,

Das Thema ist schier unerschöpflich, und gerade deshalb für einen Thread geeignet, wie ich denke.

Einige Begriffe geistern immer wieder durch die Interpretationsszene: "Werktreue" ist der erste, "Noten Buchstabieren", "akademisch" , "gegen den Strich gebürstet",
"spannend", "entstaubt" sind die weiteren, ohne daß hier Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird.
Was ist aber "zulässig, was ist "verfälschend", wer bestimmt das, und wie lange hat das Gültigkeit ??

Die "ideale Interpretation" gibt es nicht, darüber sollte Konsens herrschen, aber wieweit dürfen zwei Lesarten differieren, damit man noch von "Werktreue" sprechen kann?
Und noch provokanter gefragt:
Ist "Werktreue" überhaupt anstrebenswert ?
Mit fallen dabei spontan jene Komponisten ein, die ihre Werke auf "Welte-Mignon-Rollen" verewigten und gelegentlich ihre eigenen Tempo- und Dynamikvorschriften nicht beachteten.
Dann gibt es noch jene Komponisten, deren Dirigat eigener Werke nicht mit jenem von Spitzeneinspielungen anderer Dirigenten mithalten kann.

Es können hier Beispiele für Extreminterpretationen gebracht und bewertet werden, aber auch solche für absolute Werktreue (wenn es die überhaupt gibt)
Aber es kann auch lediglich ein Statement allgemeiner Natur abgegeben werden

Ring frei

Gruß
aus Wien
Alfred
Markus_Berzborn
Gesperrt
#2 erstellt: 13. Mai 2004, 09:45
Sehr schwierige Frage.
Es fängt ja schon bei der Tempowahl an. Die althergebrachten italienischen Bezeichnungen lassen offenbar einen weiten Interpretationsspielraum zu, aber wenn eine genaue Metronomangabe vorliegt, wie in vielen moderneren Werken (und bei Beethoven!), sollte man sich m.E. schon in etwa daran halten.
Noch schwieriger ist es wohl, eine Grenze zu definieren, ab der man von Verfälschung sprechen kann. Darüber gab es mal eine Diskussion in einem anderen Forum aus Anlass der Interpretationen von Gould und Pogorelich. Meine persönliche Meinung war, dass ich die Entscheidungen von Gould meistens nachvollziehen kann, da sie gerade bei Bach meiner Ansicht nach häufig zu einer deutlicheren Offenlegung der Kompositionsstruktur führen, während ich bei Pogorelich, der ja auch oft sehr abweichende Vorstellungen hat, keine klare Linie entdecken kann.
Das ist aber alles natürlich eine weitgehend subjektive Empfindung.
Als Hörer kann ich halt nur für mich entscheiden, dass mir eine bestimmte Interpretation nicht zusagt und damit hat sich die Sache dann erledigt.
Als Pianist studiere ich erst mal die Partitur genau, höre mir auch andere Interpretationen an und versuche, die vorhandenen Spiel- und Phrasierungsanweisungen möglichst genau umzusetzen. Andererseits muss ein kohärentes Ganzes und ein gewisser "musikalischer Fluss" geschaffen werden. Nie würde ich jedoch meine Entscheidungen daran ausrichten, wie ich mich möglichst virtuos profilieren kann.

Gruß,
Markus
Antracis
Stammgast
#3 erstellt: 13. Mai 2004, 16:26
Das entscheidende Problem um das sich diese Frage dreht ist meiner Ansicht nach der Fakt, dass die Musik als Kunst in vielen Fällen überhaupt einer fremden Interpretation bedarf.

Ein Buch lesen die meisten selbst. Ein Gemälde im Original wird ebenfalls direkt betrachtet. Hier gelangt der Gedanke des Künstlers (relativ) direkt zu seinem Empfänger.
Bei der Musik ist es meist nicht so: Sofern wir nicht durch reines Betrachten der Partitur sofort die Musik "vor Augen" haben, sind wir auf fremde Hilfe angewiesen.

Interessant ist natürlich, dass der Leser eines Buches z.B. sicher auch viel interpretiert. Der Hans Castorp aus Thomas Manns Zauberberg dürfte sich beim Lesen in vielen Köpfen anders darstellen, obwohl der Autor sein Möglichstes tat, Ihn "festzulegen". Ich könnte mir sogar vorstellen, dass hier gravierende "Abweichungen" in manchen Köpfen stattfinden, weil das die Leute halt so mögen - oft sicher auch unterbewußt. Daran stört sich aber niemand, weil es halt eine Sache ist, die nur einen selbst betrifft.

Bei Musik besitzen wir halt diese Freiheit meistens nicht. Ein anderer "liest" hier für uns und nimmt uns die Entscheidungsfreiheit ab. Insofern wird am Ende dieser Debatte immer der Abgleich zwischen der Lesart des Künstlers stehen und der eigenen wobei diese vermutlich meistens keine "lesart" sein dürfte - wer kennt schon die Partiuren für einen Großteils des Repertoires - sondern eine Festlegung aufgrund von Interpretationsvergleichen. Es dürfte also meist ein persönliches "Idealbild" existieren, dass sich allerdings aus dem Studium subjektiver Fremdlesarten ergibt. Erinnert mich irgendwie an Platos Höhlengleichniss.

Zumindest bei mir liegt dieser Fall meist so vor. Nehmen wir als Beispiel das dritte Scherzo von Chopin, interpretiert von Ivo Progorelich. Diese Interpretation ist für mich kein Chopin mehr, weshalb ich die Lesart ablehne. Maßgeblich für diese Erfahrung ist aber nicht der Notentext, sondern meine Hörerfahrung mit Chopins Musik aus der Sicht anderer Interpreten, z.B. Pollini, Rubinstein und Richter. Da habe ich meine Vorstellung entwickelt, dass es nicht so klingen darf, basta.

Gruß
Anti


[Beitrag von Antracis am 13. Mai 2004, 16:29 bearbeitet]
Markus_Berzborn
Gesperrt
#4 erstellt: 13. Mai 2004, 16:59

Das entscheidende Problem um das sich diese Frage dreht ist meiner Ansicht nach der Fakt, dass die Musik als Kunst in vielen Fällen überhaupt einer fremden Interpretation bedarf.

Weshalb ja auch viele Komponisten um die Mitte des 20. Jhd. verständlicherweise von den neuen Möglichkeiten der elektronischen und konkreten Tonband-Musik fasziniert waren: präzise Umsetzung der kompositorischen und klanglichen Vorstellungen unter Ausschluss der Zwischenstufe Interpret und aller damit verbundenen technischen Kompromisse. Nach einiger Zeit merkte man jedoch, dass das auch nur eine Zwischenlösung war - denn im Konzert immer wieder das exakt gleiche Band abzuspielen, kann's ja auch nicht sein.

Gruß,
Markus
Alfred_Schmidt
Hat sich gelöscht
#5 erstellt: 13. Mai 2004, 19:23
@antracis

Anti bringt hier einen Apsekt zur Sprache, den ich bein meiner Fragestellung zwar nicht im Auge hatte, der aber sehr interessant ist.
Indes komme ich zu anderen Schlüssen. Der Komponist hat ja deas Werk für einen "anderen" Künstler geschrieben, und so den Grundstein für immer wieder leichte individuelle Lesarten gelegt, die IMO den Reiz erst ausmachen. Nicht jeder Komponiest sieht das so, aber es sind etliche Beispiele aus der Geschichte bekannt, wo der Komponist von einem Interpreten entzückt war und Facetten in seinem eigenen Werk entdeckte, die er zuvor noch nie gehört hatte.

Gruß
aus Wien

Alfred
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