Ein paar Betrachtungen über Interpretation

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 22. Apr 2011, 09:55
Liebe Klassikfreunde,

hier mal ein paar allgemeine Betrachtungen über das Thema Interpretation, mir scheint, daß sich über verschiedene Interpretationen zu unterhalten zwar hier eines der Hauptvergnügen ist, aber wir uns noch nie über das Thema Interpretation mal so ganz im allgemeinen unterhalten haben - was ja auch mal erhellend sein könnte.

Zunächst: Ich fühle mich selber überhaupt nicht für sehr befugt, über das Thema Interpretation zu urteilen. Zumindestens bin ich selber ein sehr schlechter Beobachter. Ich glaube ich kriege noch nicht mal die einfache Tatsache, daß bestimmte Interpreten - zum Beispiel Jochum - bei gesteigerter Lautstärke auch im Tempo anziehen - so richtig bewußt mit. Nur wer ist schon "befugt" über Interpretationen zu urteilen? Ich denke da ganz unbescheiden, da wo sich selbst die Experten gegenseitig die Köpfe einschlagen, da habe vielleicht selbst ich das Recht zu einem eigenen Urteil. Nur kann ich dies in vielen Fällen nicht sehr gut begründen. Oder wenn ich es begründe, dann schildere ich eher einen Höreindruck, als das ich sage: "Das Accelerando im 45. Takt kam mir nicht recht gelungen vor." Am sensibelsten bin ich in Tempofragen.

Dann gehört in eine "allgemeine" Betrachtung auch die Frage der Interpretation verschiedener Musikgattungen wie auch die Frage der Interpretation verschiedener Komponisten und vielleicht auch Musikgattungen hinein.Tatsache ist: In den Musikgattungen gibt es für mich besonders diesen faszinierenden Unterschied insbesondere zwischen Orchestermusik und Klaviermusik. Klaviermusik hat ja klanglich weniger zu bieten, aber was bei der Klaviermusik eben der Fall ist, daß die Interpretation wirklich aus einer Hand ist. Hier gibt es keinen Dirigenten, der den Orchestermusikern erst umständlich erklären muß, wie der Orchestermusiker eine Stelle zu spielen hat ( und dem das vielleicht nocht nicht einmal gefällt, weil er die Stelle eigentlich viel lieber ganz anders gespielt hätte). Hier gibt es nicht den Dirigenten als Diktator.

Aus diesen Gründen ist mir bei Orchestermusik eine gemütliche, aber keineswegs exzentrische Interpretation, die dem Orchestermusiker Raum zum Atmen gibt, vielleicht gar nicht einmal so unsympathisch. Das muß nicht immer das beste sein, aber keinesfalls das schlechteste.

Klaviermusik ist wiegesagt etwas anderes; kein großer Farbenreichtum im Vergleich zum Orchester, aber hier gibt es wirklich nur eine einzige Person, die das, was sie macht, ganz alleine verantwortet. Deshalb sind mir bei Klaviermusik fade Interpretationen ein Gräuel; Klaviermusik bedeutet mehr als jede andere Gattung vollkommene individuelle Freiheit der Gestaltung und diese Freiheit darf hier bei einem Interpreten auch in irgendeiner Weise "gespürt" werden.

Kammermusik ist wieder ein anderes Thema. Was in einer Kammermusikvereinigung beim Erarbeiten einer Interpretation passiert, bleibt dem Laien weitestgehend ein Rätsel. Es gibt da weder den großen Solisten noch den großen Dirigenten, der unappetitlicherweise anderen seinen Willen aufzwängt. Kammermusik hat irgendwie was "Geselliges" und man kann sie dafür mögen, andererseits aber auch ein bißchen belächeln, wenn sich da vier unheimlich nette Herren zu einem Streichquartettabend zusammenfinden. Das hat natürlich auch etwas Dialogisches ( Charles Ives hat dies mal in einem Streichquarett zu einem "erregten Gespräch" werden lassen), aber anderseits hat dieser Dialog freundlich kultivierter Herren natürlich im schlimmsten Fall auch etwas einschläferndes. In der Kammermusik kenne ich mich allerdings auch am schlechtesten aus, kann mir allerdings vorstellen, daß es in der Kammermusik trotzdem die "herausragende" Interpretation gibt, die das "Gesellige" der Kammermusik vollkommen überwindet und zu besonderen Höhen führt.

Dann gibt es natürlich noch Epochen und Komponisten. Auch hier spüre ich und weiß es auch, daß jemand meinetwegen die Interpretation einer Brucknersinfonie möglicherweise tatsächlich sehr gut beurteilen kann, sofern man überhaupt so etwas "beurteilen" kann, aber dann wiederum bei Mozartsinfonien vollkommen ins Schwimmen gerät, weil doch eigentlich irgendwie alles "ganz schön" klingt.

Die Namen Bruckner und Mozart sind nicht zufällig gewählt. Bei Bruckner merke ich, daß ich da zu fast allem eine dezidierte Meinung habe, daß mir manche Dinge ganz gut gefallen und ich andere abscheulich finde - aber Mozart höre ich eigentlich in fast jeder Interpretation gerne. Sogar mir Karajan.

Bei Mozart gibt es ja auch diesen Spruch: "Für Kinder zu leicht. Für Klavierspieler zu schwer." Ja, im Gegensatz zu Bruckner, wo Unterschiede in der Gestaltung oft auf der Hand liegen, wo um die richtige Interpretation "gerungen" wird, dann aber überzeugt oder nicht überzeugt, ist Mozart etwas anderes, eben "klassisches", wo die Unterschiede bei weitem subtiler sind. Klassisches Ebenmaß bedeutet eben die Abwesenheit jeglicher Übertreibung. Bei Bruckner dagegen kann es mir fast gar nicht übertrieben genug sein, etwa beim Scherzo von Bruckners 7. mit Abendroth, extreme Temposchwankungen, Jochum ist Kinderkram dagegen, aber mir schien, als hätte ich diesen Satz nie so schön gehört wie im äußerst spannenden Abendroth.

Also ganz offensichtlich ist, daß die "Unterschiede der Interpretation" bei einem Komponisten einen gar nicht vorbereiten auf einen anderen, daß was bei dem einen richtig ist ( wenigstens für das eigene Urteil) bei einem anderen vollkommen falsch sein kann. Was im übrigen nicht bedeutet, daß man Komponisten, wo man sich ein entschiedeneres Urteil zutraut, das nicht richtig sein muß, mehr schätzen muß als Komponisten, wo die Werturteile bezüglich der Interpretation noch sehr viel mehr am Schwimmen sind. Wie es bei mir zum Beispiel beim Mozart der Fall ist.

Bei Mozart ist es eben so, daß ich bei ihm das Gefühl habe, das bei ihm immer nur "die Musik" spricht und daß man diese Musik unbedingt lieben muß, deshalb achte ich auf Unterschiede auch nicht so stark. Sie sind bei Mozart auch meistens viel weniger evident. Ich stelle auch immer wieder fest, daß sie bei Mozart immer weniger auffällig sind - zum Beispiel beim Tempo. Bei Beethoven und Bruckner ist das viel auffälliger, man kann den langsamen Satz der Eroika in 12 oder 18 Minuten spielen - das erhitzt die Gemüter, oder man kann bei Bruckner Tintner oder Solti bevorzugen und was dergleichen mehr ist.

Haydn ist wieder ein anderer Fall. Das ist wie bei Mozart "klassische Ebenmaß" - wobei dieses Ebenmaß ja gar nicht so eben ist. Interpretation - und vielleicht auch Klang, was oft für "authentische" Instrumente spricht - scheinen mir bei Haydn ungemein wichtiger. Eine besonders gute Interpretation Mozarts mag einen besonderen Zauber ausstrahlen, eine etwas weniger inspirierte wird einem den Blick auf die Musik aber nicht verstellen. Bei Haydn aber tue ich mich schwer - er langweilt mich - aber eine besondere Interpretation kann mich dann doch begeistern. Robert Schumann ist wieder etwas anderes, aber auch darin Haydn verwandt, daß er für mich wesentlich weniger "interpretationsresistent" ist, Schubert und Brahms sprechen mich dagegen fast immer an, aber gerade bei Schubert möchte ich doch trotzdem das "besondere".

Also zusammengefaßt gesagt: Interpretation meint sowohl in Musikgattungen, als auch bei Komponisten ( und Epochen) etwas jeweilig völlig verschiedenes, so daß es lange Zeit braucht, um für all dies ein Gefühl zu bekommen und im Grunde ist dies auch eine Reise, die nie abgeschlossen ist ...

Gruß Martin
Hörbert
Inventar
#2 erstellt: 22. Apr 2011, 13:05
Hallo!

Nun, ich sehe das nicht ganz so "verkopft", eine gute Interpretation ist für mich schlicht und ergreifend eine die mir einen Zugang zur jeweilign Musik odr zu den jeweiligen Komponisten verschafft.

Bei einigen Komponisten (z.B. Bach oder Hayden) ist es mir allerdings bislange noch nicht gelungen ein Interpretation zu finden die mir Geschmack an dieser Art Musik gemacht hat.

Eine objektiv "gute" oder "schlechte" Intepretation gibt es für mich eigentlich allenfalls in Ausnahefällen. Es gibt für mich vielmehr Interpretaionen ie mir liegen oder auch nicht. Im wesentlichen sehe ich eine Interpretation als die Sicht der oder des Interpreten an die diese(r) von einem Besimmten Werk hat. Ich kann sie teilen oder nachvollziehen oder auch nicht.

Das Interprtaionen nichts endgültige oder absolutes sind zeigt sich auch dem Wandel von Intepretations- und Spielweisen im Wandel der Musikgeschichte, was heute richtig und schlüssi scheint ist morgen eventuell schon Schnee von gestern.

MFG Günther
FabianJ
Inventar
#3 erstellt: 22. Apr 2011, 16:01
Ich sehe das ähnlich wie Hörbert. Eine objektiv gute oder schlechte Interpretation dürfte es kaum geben.

Von Komponisten, von deren Musik man bereits einige Werke gehört hat, dürfte wohl jeder sein eigenes Bild im Kopf haben. So sehen z. B. die einen Beethoven mehr als klassischen Komponisten á la Mozart und bevorzugen Interpretationen die klar, kontrolliert und harmonisch klingen. Andere sehen in ihm stärker den Wegbereiter der Romantik und bevorzugen entsprechend ein wenig leidenschaftlichere Interpretationen.

Wie weit sich die Geister bei so etwas scheiden können, merkt man meiner Ansicht nach gerade bei Klaviermusik. Wer ein "klassizistischeres" Bild von Beethoven hat dürfte etwa bei den Klaviersonaten zu anderen CDs greifen als die, die ihn stärker in Richtung Romantik verorten.

Für mich persönlich ist eine gute Interpretation eines Stücks eine die mir gefällt und die nicht zu stark von dem Bildnis abweicht, welches ich von dem jeweiligen Komponisten und dessen Musik in meinem Kopf habe. Ein gesundes Maß an künstlerischer Freiheit ist mir da durchaus willkommen.

Manchmal gefallen mir allerdings auch Interpretationen, bei denen sich beim Komponisten vermutlich die Fußnägel hochrollen würden, wenn er sie hören könnte. So ist zum Beispiel von Mendelssohn-Bartholdys 5. Sinfonie die Version von Lorin Maazel und den Berliner Philharmonikern (DG) die mit deutlichem Abstand liebste. Diese klingt aber mehr wie Schumann als wie Mozart oder Beethoven und ich bezweifel, dass der Komponist sich das so gedacht hat. Nun ja, es wird ihn wohl niemand mehr fragen können.

Mit freundlichem Gruß
Fabian
Martin2
Inventar
#4 erstellt: 22. Apr 2011, 21:44
Hallo Günther,

also "verkopft" sollte mein Eingangsbeitrag keineswegs sein. Ich wollte in meiner Eitelkeit schlicht was interessantes schreiben, das auch so ein bißchen die Diskussion anregt. Ob ich Klassikforen zum Klassikhören brauche, weiß ich ja nicht, obwohl man immer wieder durchaus interessante Anregungen bekommt, die man allerdings filtern muß.

Die bloße Freude an der Kommunikation sollte in einem Forum, sei es eines über Toillettenpümpel oder eines über klassische Musik allerdings keinesfalls zu kurz kommen. Diese Freude setzt allerdings voraus, daß man bereit ist, etwas mehr als Daumen rauf und Daumen runter zu schreiben.

Dabei teile ich durchaus Dein und Fabians Einstellung "eine gute Interpretation ist die, die mir gefällt" oder so ähnlich. Nur nachdenken darf man wohl trotzdem.

Gruß Martin
Joachim49
Inventar
#5 erstellt: 22. Apr 2011, 21:49

FabianJ schrieb:
Für mich persönlich ist eine gute Interpretation eines Stücks eine die mir gefällt und die nicht zu stark von dem Bildnis abweicht, welches ich von dem jeweiligen Komponisten und dessen Musik in meinem Kopf habe. Mit freundlichem Gruß
Fabian


Interessant dürfte allerdings auch der Fall sein, in dem sich etwas im Kopf ändert, nachdem man eine Interpretation gehört hat! (In diesem Zusammenhang würde mich auch interessieren: Hast Du ein 'Bildnis' von einem Komponisten und bestimmt dies deine interpretatorischen Vorlieben, oder wird Dein Bildnis im Kopf durch Interpretationen geprägt? (Es gab ja mal einen sehr beliebten Dirigenten, dessen Bildnis klassischer Werke einen erheblichen Einfluss auf das Bildnis im Kopf der Zuhörer hatte )

Jedenfalls hat, zumindest bei mir, die HIP-Bewegung (historical informed performances) auch manches in meinem Kopf bewegt.

mit freundlichen Grüssen
Joachim
flutedevoix
Stammgast
#6 erstellt: 23. Apr 2011, 16:42

Eine objektiv gute oder schlechte Interpretation dürfte es kaum geben.


Hier möchte ich einhaken, da mein Widerspruchsgeist beim Lesen denn doch geweckt wurde. Aus meiner Sich gibt es natürlich objektiv gute und schlechte Interpretationen.

Vielleicht ist aber ja auch die grundlegende Frage eine andere! Ab wann beginnen wir denn von Interpretation zu sprechen?

Ich denke, es ist keine Frage, daß es in (fast) jedem Musikwerk objektiv zu erfassende Parameter gibt: Tonhöhe, Rhythmus, formale Anlage, mit gewissen Einschränkungen noch Tempo (nicht zu jedem Satz liegt eine Tempoangabe vor, allerdings läßt sich das Tempo meist durch eine Analyse des Stückes mit großer Bestimmtheit sagen). Was diese Parameter angeht, sind wir in allergrößtem Maß nicht auf Spekulationen angewiesen, sondern können mit ziemlicher Sicherheit behaupten, den Willen des Komponisten zu kennen. Daher kann eine Interpretation des Werkes nur auf Grundlage dieser Parameter erfolgen, eigentlich sind diese Parameter aber nicht anzutasten.

Schon hier scheiden sich aber oft die Geister: Rhythmische Strukturen werden nicht präzise wiedergegeben, Tonhöhen nicht immer getroffen, die Intonation stimmt nicht immer, das Tempo entspricht nicht der Angabe (oft sind sogar Metronomziffern bekannt), Wiederholungen werden mutwillig gekürzt, in Opern oder Oratroien werden einzelne Arien, Rezitative etc. weggelassen.

In meiner Sicht sind das objektiv falsche Interpretationen!

Jetzt kann zu allem Überfluß der Umstand eintreten, daß das Konzept trotzdem überzeugt, die Interpretation begeistert, man die Sichtweise faszinierend findet.
Für mich persönlich fallen z.B. Beethoven-Aufnahmen von Furtwängler in diese Kategorie: Objektiv sind sie falsch (ganz oft in allen vier geschilderten Parametern) und dennoch finde ich sie faszinierend. Es entsteht eine sehr interessante Musik, die emotional zu Herzen geht und berührt. Aber eben anders als vom Komponisten gedacht.
Eine gute Interpretation? Je nach Sichtweise, jedenfalls aber eine "falsche" Interpretation, da sie sich über die Angaben des Komponisten hinwegsetzt!
flutedevoix
Stammgast
#7 erstellt: 23. Apr 2011, 16:52

Von Komponisten, von deren Musik man bereits einige Werke gehört hat, dürfte wohl jeder sein eigenes Bild im Kopf haben.


Unweigerlich stellt sich hier die Frage, woher dieses Bild kommt, wie es geprägt wurde!

Es sind ja viele Zugänge möglich:

- Sozialisation durch bestimmte Aufnahmen (z.B. Plattenschrank der Eltern) oder durch Konzerterlebnisse

- Lektüre bestimmter Bücher (Romane und Biographien), z.B. Klaus Mann "Symphonie pathtique" oder Stefan Zweig "Sternstunden der Menschheit"

- Werkstudium und Aneignen soziokulturellem Wissens im Umfeld der verschiedenen Kompositionen

- musikalische Prägung durch Musik- und Instrumentallehrer

Allein an diesem kleinen Fragenkatalog ist schon zu sehen, wie unterschiedlich das Bilder sein kann und wie unterschiedlich es sich entwickeln kann. Wenn aber mehrere Zugänge ihre Berechtigung zu haben scheinen, zumindest möglich sind, ist dann immer nur eine Interpreation gut, wenn sie seinem eigenen Bild entspricht?
Oder können nicht auch Interpretationen gut sein, die das Bild erweitern? Möglicher weise sogar umkehren?
flutedevoix
Stammgast
#8 erstellt: 23. Apr 2011, 17:08

Ja, im Gegensatz zu Bruckner, wo Unterschiede in der Gestaltung oft auf der Hand liegen, wo um die richtige Interpretation "gerungen" wird, dann aber überzeugt oder nicht überzeugt, ist Mozart etwas anderes, eben "klassisches", wo die Unterschiede bei weitem subtiler sind.


Wirklich?
Oder ist das nur das Bild, mit dem wir von Mozart und Haydn aufgewachsen sind?

Ich kann jedenfalls in meiner musikalischen Praxis nicht feststellen, daß bei Mozart weniger um die Interpretation gerungen wird oder Unterschiede in der Gestaltung weniger klar auf der Hand liegen.




Klassisches Ebenmaß bedeutet eben die Abwesenheit jeglicher Übertreibung.


Wirklich?
Und was ist klassisches Ebenmaß? Daß alles lau ist?
Daß man Akzente weniger saftig spielen darf, daß piano weniger leise ist, daß fortissimo weniger laut ist?

Oder spinnen wir es noch etwas weiter ausgehend von den Epochenbeziechnungen:
Muß dann im Barock alles maniriert, schwülstig, üppig klingen?
Muß in der Romantik alles verträumt, quasi suchen klingen?
Wo darf man aber mehr über das klassische Ebenmaß hinaus? Im Barock? in der Romantik?

Oder sind meine Analogien ebenso absurd, wie die Auffassung, daß in der Klassik grundsätzlich eine Abwesenheit jeglicher Übertreibung festzustellen ist?




Bei Bruckner merke ich, daß ich da zu fast allem eine dezidierte Meinung habe, daß mir manche Dinge ganz gut gefallen und ich andere abscheulich finde - aber Mozart höre ich eigentlich in fast jeder Interpretation gerne. Sogar mir Karajan.


Eben das ist bei mir ganz anders. Ich empfinde Mittelmäßigkeit in der Interpretation bei allen Werken ganz furchtbar. Ich für mich persönlich kann auch nicht feststellen, daß die Musik Mozarts eine schlechte Interpretation besser abkann als etwa Bruckner
Hörbert
Inventar
#9 erstellt: 23. Apr 2011, 17:21
Hallo!

@Martin2

Sorry, ich wollte eigentlich deinen Eingangsbeitrag nicht als "verkopft" bezeichnen sondern damit nur zum Ausdruck bringen das ich darüber normalerweise schon sehr lange gar nicht mehr groß darüber nachdenke. Seit mir klar geworden ist das ich nicht mal vor mir selbst begründen muß warum mir eine Interpretation besse gefällt als eine wohlmoglich allgemein als schlüssigere und besser angesehene Alternativ hatte ich das Thema eigentlich für mich abgehakt.

Es gibt eine ganze Reihe von hoch angesehenen Interpreten nd Interpretationen die ich infach nicht mag. Andere wiederum, -teilweise gar nicht so hoch angesehene Interpreten und Interpretationen mag ich einfach.

MFG Günther
Joachim49
Inventar
#10 erstellt: 23. Apr 2011, 20:48

Martin2 schrieb:
Die Namen Bruckner und Mozart sind nicht zufällig gewählt. Bei Bruckner merke ich, daß ich da zu fast allem eine dezidierte Meinung habe, daß mir manche Dinge ganz gut gefallen und ich andere abscheulich finde - aber Mozart höre ich eigentlich in fast jeder Interpretation gerne. Sogar mir Karajan.


Sehr merkwürdig. Bei mir ist's genau andersherum. Ich kenne eigentlich keine Bruckneraufnahmen, die ich abscheulich finde.Sogar Thielemann kann ich mit Genuss ertragen . Aber bei Mozart empfinde ich sehr grosse Unterschiede. Oft werden Mozartsymphonien lieblos und konzeptlos gespielt (sozusagen zum Aufwärmen für's Orchester). Ich habe im Wiener Konzertverein die Jupitersymphonie mit Haitink und Chicago gehört - makellos, aber es hat mich keine Sekunde berührt. Wie anders dagegen Walter oder Krips, Brüggen oder Hogwood. Und Karajan war als Mozartinterpret, scheint mir, völlig unbedeutend. Ihm war Mozart wahrscheinlich auch ziemlich wurscht (er hat ihn vermutlich nur für die Plattenaufnahmen im Studio - und natürlich für's Portemonnaie - aufgenommen.)Karajan wird für mich erst akzeptabel nach Beethoven.
Freundliche grüsse
Joachim
(es freut mich, dass Dir der Abendroth zusagt)
FabianJ
Inventar
#11 erstellt: 24. Apr 2011, 00:52

Joachim49 schrieb:
In diesem Zusammenhang würde mich auch interessieren: Hast Du ein 'Bildnis' von einem Komponisten und bestimmt dies deine interpretatorischen Vorlieben, oder wird Dein Bildnis im Kopf durch Interpretationen geprägt?


Sowohl als auch würde ich sagen. Das eigene Bild von der Musik eines Komponisten wurde ja zu einem nicht unerheblichen Teil geprägt durch Interpretationen, die man kennt und schätzt. Falls einem dann eine neue Interpretation begegnet, die einem die Socken auszieht, dürfte das auch das Bild, dass man von dieser Musik hat, verändern können.


flutedevoix schrieb:

Eine objektiv gute oder schlechte Interpretation dürfte es kaum geben.


Hier möchte ich einhaken, da mein Widerspruchsgeist beim Lesen denn doch geweckt wurde. Aus meiner Sich gibt es natürlich objektiv gute und schlechte Interpretationen.

Vielleicht ist aber ja auch die grundlegende Frage eine andere! Ab wann beginnen wir denn von Interpretation zu sprechen?

Ich denke, es ist keine Frage, daß es in (fast) jedem Musikwerk objektiv zu erfassende Parameter gibt: Tonhöhe, Rhythmus, formale Anlage, mit gewissen Einschränkungen noch Tempo (nicht zu jedem Satz liegt eine Tempoangabe vor, allerdings läßt sich das Tempo meist durch eine Analyse des Stückes mit großer Bestimmtheit sagen). Was diese Parameter angeht, sind wir in allergrößtem Maß nicht auf Spekulationen angewiesen, sondern können mit ziemlicher Sicherheit behaupten, den Willen des Komponisten zu kennen. Daher kann eine Interpretation des Werkes nur auf Grundlage dieser Parameter erfolgen, eigentlich sind diese Parameter aber nicht anzutasten.

Schon hier scheiden sich aber oft die Geister: Rhythmische Strukturen werden nicht präzise wiedergegeben, Tonhöhen nicht immer getroffen, die Intonation stimmt nicht immer, das Tempo entspricht nicht der Angabe (oft sind sogar Metronomziffern bekannt), Wiederholungen werden mutwillig gekürzt, in Opern oder Oratroien werden einzelne Arien, Rezitative etc. weggelassen.

In meiner Sicht sind das objektiv falsche Interpretationen!

Jetzt kann zu allem Überfluß der Umstand eintreten, daß das Konzept trotzdem überzeugt, die Interpretation begeistert, man die Sichtweise faszinierend findet.
Für mich persönlich fallen z.B. Beethoven-Aufnahmen von Furtwängler in diese Kategorie: Objektiv sind sie falsch (ganz oft in allen vier geschilderten Parametern) und dennoch finde ich sie faszinierend. Es entsteht eine sehr interessante Musik, die emotional zu Herzen geht und berührt. Aber eben anders als vom Komponisten gedacht.
Eine gute Interpretation? Je nach Sichtweise, jedenfalls aber eine "falsche" Interpretation, da sie sich über die Angaben des Komponisten hinwegsetzt!


Gerade bei Komponisten, die schon tot waren bevor es brauchbare Aufnahmegeräte gab, wird man kaum mit Sicherheit sagen können, in welchem Rahmen sich eine Interpretation bewegen muss, damit sie der Komponist selbst als gültig betrachtet.
Heute weiß z. B. kein Mensch exakt wie es etwa wirklich geklungen hat, wenn Beethoven eine seiner Sinfonien aufführen ließ. Es gibt schließlich weder eine Aufnahme noch lebende Zeitzeugen. Man kann qualifizierte Vermutungen anstellen, aber exakt wissen kann man es nicht.

Klar, man kann versuchen auf Nummer sicher zu gehen und sklavisch den niedergeschriebenen Vorgaben folgen, aber ob das wirklich der einzige Weg ist eine Interpretation aufzuführen, die der Komponist als gültig erachten würde?
Meiner Ansicht nach dürften die meisten Komponisten ihre Werke nicht in erster Linie für sich selbst, sondern für das Publikum welches sie später hören soll, komponiert haben. Zumindest was die Geschwindigkeitsangaben angeht, kann ich mir vorstellen, dass ein Komponist durchaus auch leicht abweichende Interpretationen als gültig erachten könnte, so lange die Essenz des Werkes erhalten bleibt.

Wäre ich Komponist, würde ich bei einer Interpretation von einem meiner Werke leichte Abweichungen bei der Geschwindigkeit durchaus zulassen, solange die Aussage und Wirkung des Werkes intakt bleibt.


flutedevoix schrieb:

Von Komponisten, von deren Musik man bereits einige Werke gehört hat, dürfte wohl jeder sein eigenes Bild im Kopf haben.


Unweigerlich stellt sich hier die Frage, woher dieses Bild kommt, wie es geprägt wurde!

Es sind ja viele Zugänge möglich:

- Sozialisation durch bestimmte Aufnahmen (z.B. Plattenschrank der Eltern) oder durch Konzerterlebnisse

- Lektüre bestimmter Bücher (Romane und Biographien), z.B. Klaus Mann "Symphonie pathtique" oder Stefan Zweig "Sternstunden der Menschheit"

- Werkstudium und Aneignen soziokulturellem Wissens im Umfeld der verschiedenen Kompositionen

- musikalische Prägung durch Musik- und Instrumentallehrer

Allein an diesem kleinen Fragenkatalog ist schon zu sehen, wie unterschiedlich das Bilder sein kann und wie unterschiedlich es sich entwickeln kann. Wenn aber mehrere Zugänge ihre Berechtigung zu haben scheinen, zumindest möglich sind, ist dann immer nur eine Interpreation gut, wenn sie seinem eigenen Bild entspricht?
Oder können nicht auch Interpretationen gut sein, die das Bild erweitern? Möglicher weise sogar umkehren?


Wie bei den meisten Dingen, so sind auch bei der Musik die persönlichen Ansichten nicht für alle Ewigkeit in Stein gemeißelt. Wenn man einer neuen Interpretation begegnet, die Eindruck bei einem hinterlässt, kann sich das eigene Bild eines Komponisten ändern.

Mit freundlichem Gruß und Frohe Ostern (oder heißt es "Mit freundlichem Gruß und Frohen Ostern? :D)
Fabian
flutedevoix
Stammgast
#12 erstellt: 24. Apr 2011, 09:55

Gerade bei Komponisten, die schon tot waren bevor es brauchbare Aufnahmegeräte gab, wird man kaum mit Sicherheit sagen können, in welchem Rahmen sich eine Interpretation bewegen muss, damit sie der Komponist selbst als gültig betrachtet.



Heute weiß z. B. kein Mensch exakt wie es etwa wirklich geklungen hat, wenn Beethoven eine seiner Sinfonien aufführen ließ. Es gibt schließlich weder eine Aufnahme noch lebende Zeitzeugen. Man kann qualifizierte Vermutungen anstellen, aber exakt wissen kann man es nicht.


Ja natürlich, das ist vollkommen richtig! Und genau dieser Rahmen, der hier angesprochen wird, dieser Rahmen, in dem man als Interpret dem Werk (nicht dem Komponisten) gerecht wird, das ist der Punkt, um den sich die Diskussionen entzünden.

Dann bliebe noch die Frage nach den qualifizierten Vermutungen. Wie sehen diese aus?


Zumindest was die Geschwindigkeitsangaben angeht, kann ich mir vorstellen, dass ein Komponist durchaus auch leicht abweichende Interpretationen als gültig erachten könnte, so lange die Essenz des Werkes erhalten bleibt.


Jetzt kommen wir zu des Pudels Kern: Was sind leicht abweichende Interpretationen?
In Metronomziffern gemessen 2,3 oder 5?
Ist es im Sinne des Werkes, wenn es ein Viertel, ein Drittel, die Hälfte langsamer oder schneller gespielt wird als vom Schöpfer vorgegeben?
Oder anders gefragt: Warum macht sich ein Komponist überhaupt die Mühe, Tempo- und Satzbezeichnungen vorzugeben?

Hier schließt sich auch der Kreis zur Bildfrage:

Das eigene Bild von der Musik eines Komponisten wurde ja zu einem nicht unerheblichen Teil geprägt durch Interpretationen, die man kennt und schätzt.


Das ist aus meiner Sicht eben die falsche Ausgangsposition!

Für den Künstler heißt das, die Antwort liegt in den Noten, in den Dokumenten zum Werk (in einem weiten Sinn) aber nicht in den Interpretationsgewohnheiten, in der musikalischen Schule, in der man großgeworden ist. Das heißt dann halt auch, daß man nicht ein mezzoforte statt einem forte spielt, nur weil einem das persönlich an dieser Stelle besser gefällt oder es sein Lehrer hier immer so machte.
Als Interpret darf man niemals mit einem festgefügten Bild von einem Komponisten oder einem Werk an eine Interpretation herangehen. Man muß das Werk studieren und immer offen sein für neue Erkenntnisse.

Interpretation darf niemals sein, ein Werk seinen Vorstellungen über das Werk anzupassen, sondern muß immer den umgekehrten Weg beschreiten: Meine eigenen Vorstellungen, mein Bild muß durch das Werk, durch die intensive, ergebnisoffene Auseinandersetzung mit dem Werk entstehen.

Was heißt das jetzt für den Hörer, einen sagen wir anspruchsvollen Hörer (was eigentlich jeder ist, der über die Werke diskutieren will), der aber vielleicht des Notenlesens unkundig ist und sich auch nicht mit vielen anderen Parametern, die dokumentiert sind, vertraut ist:
Wie kann er eine Interpretation beurteilen, wie kann er sie einordnen?
Wie kann er sagen, daß sie dem Werk gerecht wird?
Wie kann er letztlich von einer guten und schlechten Interpretation sprechen?

Ich denke das ist doch der Punkt, auf den dieser Thread hinaus will.
Ein einfaches "Gefällt mir!" oder "Gefällt mir nicht!" mag für einen persönlich ausreichend sein (für ist es das nicht), wenn man aber in Diskussionen einsteigen will, Fragen zu einer Interpretation erörtern will, wie wir hier im Forum es tun, dann reicht es eben nicht mehr!
Ich möchte diese Fragen bewußt einmal im Raum stehen lassen und sie nicht gleich aus meiner Sicht beantworten. Schließlich ist der Verlauf dieses Thread ja ähnlich wie bei einer Interpretation ideal, wenn wir uns das Feld erarbeiten und uns dem Ziel von verschiedenen Seiten nähern.
Kreisler_jun.
Inventar
#13 erstellt: 24. Apr 2011, 17:04

flutedevoix schrieb:

Eine objektiv gute oder schlechte Interpretation dürfte es kaum geben.


Vielleicht ist aber ja auch die grundlegende Frage eine andere! Ab wann beginnen wir denn von Interpretation zu sprechen?


Sobald ein Musikstück aufgeführt wird. Es ist unmöglich ohne "Interpretation" zu musizieren. Die Musik spricht nie für sich, sondern es muss immer ein Notentext (oder anderweitig überliefertes Muster) gedeutet werden.



Schon hier scheiden sich aber oft die Geister: Rhythmische Strukturen werden nicht präzise wiedergegeben, Tonhöhen nicht immer getroffen, die Intonation stimmt nicht immer, das Tempo entspricht nicht der Angabe (oft sind sogar Metronomziffern bekannt), Wiederholungen werden mutwillig gekürzt, in Opern oder Oratroien werden einzelne Arien, Rezitative etc. weggelassen.

In meiner Sicht sind das objektiv falsche Interpretationen!


Das sind dann vermutlich fast alle... Selbst die meisten HIPisten halten sich bei (z.B.) Beethoven oder Mozart nicht an die Wiederholungen, an viele recht gut belegte Tempi usw.



Jetzt kann zu allem Überfluß der Umstand eintreten, daß das Konzept trotzdem überzeugt, die Interpretation begeistert, man die Sichtweise faszinierend findet.
Für mich persönlich fallen z.B. Beethoven-Aufnahmen von Furtwängler in diese Kategorie: Objektiv sind sie falsch (ganz oft in allen vier geschilderten Parametern) und dennoch finde ich sie faszinierend. Es entsteht eine sehr interessante Musik, die emotional zu Herzen geht und berührt. Aber eben anders als vom Komponisten gedacht.
Eine gute Interpretation? Je nach Sichtweise, jedenfalls aber eine "falsche" Interpretation, da sie sich über die Angaben des Komponisten hinwegsetzt!


In dem Sinne wäre jede Interpretation, die eine versehentliche falsche Note enthält (oder in der absichtlich mehr als 5% (oder wieviel) von der Metronomangabe abgewichen wird) oder... oder... "falsch"

Der Punkt ist aber doch eher, dass selbst sehr minutiöse Partituren (wie bei Mahler) Spielraum geben. Wieviel lauter muss ein fff als ein ff sein? Was ist etwa bei Mozart, wo ff nur sehr selten vorkommt? Sicher sind nicht alle f-Passagen gleichlaut gemeint. Offensichtlich gibt es ein kontinuierliches Lautstärkesspektrum. Von unendlich vielen Stärkegraden werden bei einem Spätromantiker vielleicht 10 bis 12 notiert (von pppp über mp und mf zu ffff)
Wie heftig sind sforzati zu spielen? Phrasierungen, Artikulation usw. Und alles muss ja im Dienste einer gemeinsamen Aussage stehen also in der Abstimmung aller Parameter Sinn ergeben.

Als Musiker kennst Du Dich da ja viel besser aus als wie Laien. Es gibt doch hunderte von Nuancen (oder gar Selbstverständlichkeiten), die nie notiert wurden (oder werden).

Schließlich gibt es explizite Äußerungen von Musikern (zB Brahms), die recht unterschiedliche Dirigate ihrer Musik gleichermaßen wertschätzen. Bei Brahms betrifft das z.B. die nicht explizit notierte Agogik. Ich habe nicht mehr genau in Erinnerung, welche Dirigenten es waren, vermutlich Richter, v. Bülow u.a. Brahms schätzte angeblich sowohl die agogisch eher freien wie die tempomäßig geradlinigeren Lesarten. Mit den Intentionen eines Komponisten zu argumentieren ist immer schwierig. Zum einen belegen Beispiele wie die genannten, dass die sehr vage sein können und entsprechenden Spielraum lassen. Zum andern kennen wir sie ja normalerweise gar nicht, jenseits von dem, was in den Noten steht.

Ich möchte nicht missverstanden werden. Ich bin normalerweise sehr klar für "originale" Tempi, Wiederholungen, Besetzungen, Aufstellungen usw., eben im Rahmen dessen, was sich rekonstruieren lässt. Ich habe aber auch zu viele mäßige Interpretationen gehört, die hier sehr korrekt sind, und viele überzeugende, die in manchem Detail "falsch" sind.

Bzgl. Bruckner und Mozart stimme ich Dir auf jeden Fall zu. Ich habe keine solche starke Meinung zu Bruckner, aber mir sind nicht wenige Mozart-Interpretationen begegnet, die mir überhaupt nicht zusagten. Nicht zuletzt, weil sie einem missverstandenen "klassischen Gleichmaß" oder irgendeinem anderen Klischee unterworfen wurden...

Frohe Ostern!

JK jr.
FabianJ
Inventar
#14 erstellt: 24. Apr 2011, 23:30

flutedevoix schrieb:

Dann bliebe noch die Frage nach den qualifizierten Vermutungen. Wie sehen diese aus?


Damit meine ich eine Vermutung, die man nicht allein aus dem Bauch heraus, sondern aufgrund von Informationen anstellt. Man kann z. B. die Noten genau kennen und sich irgendwo eingelesen haben wie die Aufführungspraxis zur Entstehungszeit eines Werkes ausgesehen haben könnte. Wenn man es ganz auf die Spitze treiben möchte, verwendet man dann noch statt moderner zu dieser Zeit übliche Instrumente.

Trotz all der Vorbereitungen und Informationen basiert die daraus resultierende Interpretation (bei schon vor langer Zeit verstorbenen Komponisten) immer noch auf der Vermutung, dass es so richtig sein könnte.

So meinte ich das mit der qualifizierten Vermutung.

Was das mit den Tempoangaben angeht: Ich bin kein Musiker, aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass diese auch als eine Art Richtschnur für die Interpreten gedacht sein könnten, an welche diese sich zwar nach Möglichkeit halten sollten, von welcher sie aber mal leicht abweichen können, solange die Musik dabei nicht auf der Strecke bleibt. Ganz genau weiß/wusste es aber wohl nur der jeweilige Komponist selbst.

Mit freundlichem Gruß
Fabian


[Beitrag von FabianJ am 25. Apr 2011, 00:16 bearbeitet]
Klassikkonsument
Inventar
#15 erstellt: 25. Apr 2011, 05:35
Eine wichtige Erfahrung für mich war, den 3. Satz von Beethovens 9. mal nicht im "traditionellen", tendenziell einschläfernden Tempo zu hören, so dass die lauten Stellen gegen Ende wie ein Wecker wirken, der das Publikum zum großen Finale zurückholt. Karajan (bei der digitalen Aufnahme immer noch fast 16 Minuten), der im Allgemeinen eher zügig spielen ließ, oder auch Toscanini (1952: 14'21'') scheinen mir da Konzessionen an die Aufführungstradition zu machen.
In Abbados Aufnahme mit den Berlinern (2000: 12'48'') hat dieser Satz einen ganz anderen Charakter, nicht zuletzt wegen dem halbwegs korrekten Tempo.

Aber es kommt ja wohl in erster Linie auf den Charakter eines Satzes an. Irgendwo habe ich mal gelesen, Beethoven, der ja als einer der ersten Komponisten das Metronom benutzte, habe sich andererseits gegen ganz mechanisch exekutierte Musik ausgesprochen.
Vielleicht sagen Metronomangaben schon an sich eher, dass das Stück halt in einer bestimmten Weise gestaltet werden soll. Denn sonst könnte man ja einfach Zeitdauern angeben. Das habe ich allerdings auch schon in Partituren gesehen.
Wahrscheinlich wurde das Metronom doch nur erfunden, weil es halt noch keine Stopuhren gab.

Viele Grüße
Hörbert
Inventar
#16 erstellt: 25. Apr 2011, 11:28
Hallo!

Je älter ein Werk ist um so eher sind Interpreten m.E. auf reine Vermutungen über die korrekte Spielweise, die korrekten Tempi und vieles andere mehr angewiesen. Hier wird bestenfalls eine halbwegs authentische Interpetation möglich sein.

Aber inwieweit ist eine authentisch Interpretation überhaupt wünschenswert? Der heutige Rezipient ist schließlich auch nicht mehr der gleiche wie de vor 200-300 Jahren und hört mit ganz anderen Intentionen diese Musik.

Niemand der heutzutage z.B. ein Bach-Oratorium hört tut das mit der tiefen und zweifelsfreien Religiosität diese Ära. Somit hört er genau genommen eigentlich ein Werk das sowohl von den aufführenden wie von den Zuhörern mit ganz anderen Augen betrachtet wird als zur Zeit seiner Entstehung und heute einen völlig anderen Zweck erfüllt, -nämlich grob gesagt der der bloßen Unterhaltung-, was der Komponist wohl dazu gesagt hätte?

Insofern -finde ich-, gibt es nur bei aktuellen Werken überhaupt die Chance das die Intentionen des Komponisten und der Interpreten sowie der Zuhörer zusammenkommen.

-Aus diese Perspektiver heraus gesehen noch einmal die Frage-, wär hier also ene korrekte Interpretation alter Werk überhaupt Erwünscht?

MFG Günther
flutedevoix
Stammgast
#17 erstellt: 25. Apr 2011, 14:32

In dem Sinne wäre jede Interpretation, die eine versehentliche falsche Note enthält (oder in der absichtlich mehr als 5% (oder wieviel) von der Metronomangabe abgewichen wird) oder... oder... "falsch"

Der Punkt ist aber doch eher, dass selbst sehr minutiöse Partituren (wie bei Mahler) Spielraum geben. Wieviel lauter muss ein fff als ein ff sein? Was ist etwa bei Mozart, wo ff nur sehr selten vorkommt? Sicher sind nicht alle f-Passagen gleichlaut gemeint. Offensichtlich gibt es ein kontinuierliches Lautstärkesspektrum. Von unendlich vielen Stärkegraden werden bei einem Spätromantiker vielleicht 10 bis 12 notiert (von pppp über mp und mf zu ffff)
Wie heftig sind sforzati zu spielen? Phrasierungen, Artikulation usw. Und alles muss ja im Dienste einer gemeinsamen Aussage stehen also in der Abstimmung aller Parameter Sinn ergeben.

Als Musiker kennst Du Dich da ja viel besser aus als wie Laien. Es gibt doch hunderte von Nuancen (oder gar Selbstverständlichkeiten), die nie notiert wurden (oder werden).



Vielleicht sollte ich erst einmal klarstellen, daß ich nicht für die sklavische Einhaltung von einem Notentext bin, in dem Sinne, daß nur das zählt, was in der Partitur zählt. Vor diesem Hintergrund wäre es ja furchtbar einfach alles richtig zu machen: Computer programmieren, abspielen, perfekt.
Ich möchte nur entschieden, dem Eindruck widersprechen, erlaubt ist, was gefällt!

Ich nehme mir aber schon das Recht heraus, von "falsch" zu sprechen, wenn aus einem Andante ein Adagio wird oder ein Presto zu einem Allegretto degeneriert. Auch ist nur ein bestimmter Anteil an "falschen" Noten tolerabel, wenn es sich um eine gute Interpretation handeln soll. Und zugegeben, beim Thema "Wiederholungen" bin ich etwas pedantisch, es ist aber schon eine Frage ob man Proportionen innerhalb eines Satzes opfern soll und darf. Diese Parater sind alle objektiv und können erst einmal überprüft werden.

Eine Interpretation muß immer vom Notentext ausgehen. Und zwar von einem vom Ballast der Jarhhunderte befreiter Notentext. Es schwirren immer noch viele Stimmensätze und Partituren herum, die mit Dynamikbezeichnungen, Artikulationsangaben, Instrumentationsvarianten oder Notentextvarianten aufwarten, die mit dem überlieferten Original nichts zu tun haben. Besonders schlimm in dieser Hinsicht ist "Breitkopf und Härtels Notenbibliothek". Die älteren Ausgaben der Beethoven, Haydn und Mozartsinfonien sind höchst "interessant", bei barocken Werken fällt mir nur die Bezeichnung "katastrophal" als passend ein.

Ausgehend vom Notentext entscheidet man sich dann für Artikulationen, Tempi, Agogik, dynamische Abstufungen etc.



Je älter ein Werk ist um so eher sind Interpreten m.E. auf reine Vermutungen über die korrekte Spielweise, die korrekten Tempi und vieles andere mehr angewiesen. Hier wird bestenfalls eine halbwegs authentische Interpetation möglich sein.


Inwiefern ein Interpretation authentisch sein muß, soll oder kann, ist vielleicht Material für einen späteren Zeitpunkt in dieser Diskussion. Eine Interpretation muß dem Werk gerecht werden, dann ist sie in meinen Augen authentisch.
Was die Aussage bezüglich der Spielweise und vor allem der Tempi angeht, ist diese einfach falsch. Gerade Tempi sind seit der Renaissance ausführlich dokumentiert und belegt. In fast jeder barocken Instrumentalschule finden sich auch heute noch nachvollziehbare Angaben. Allein daß diese Frage so ausführlich diskutiert wird zeigt, wie wichtig den Komponisten die Tempofrage war. Auch Artikulationsweisen sind mehr als ausführlich dokumentiert. Aus dieser Sich von "reinen Vermutungen" zu sprechen, ist mehr als aus der Luft gegriffen und zeugt höchstens von einer Nichtkenntnis von Quellen.



Was das mit den Tempoangaben angeht: Ich bin kein Musiker, aber ich könnte mir durchaus vorstellen, dass diese auch als eine Art Richtschnur für die Interpreten gedacht sein könnten, an welche diese sich zwar nach Möglichkeit halten sollten, von welcher sie aber mal leicht abweichen können, solange die Musik dabei nicht auf der Strecke bleibt. Ganz genau weiß/wusste es aber wohl nur der jeweilige Komponist selbst.



Aber es kommt ja wohl in erster Linie auf den Charakter eines Satzes an. Irgendwo habe ich mal gelesen, Beethoven, der ja als einer der ersten Komponisten das Metronom benutzte, habe sich andererseits gegen ganz mechanisch exekutierte Musik ausgesprochen.


Wir sind uns hier völlig einig, das Wort "Richtschnur" gefällt mir sehr gut. Natrülich hängt das konkrete Tempo von viele Faktoren ab, z.B. Raumgröße, Orchestergröße, Art der verwendeten Instrumente, Nachhall etc. Aber ein Allegro bleibt nun einmal ein Allegro und Viertel=120 bleibt nun einmal dieser Wert. Da habe ich Spielraum, aber wenn aus einem Allegro ein Andante wird oder aus Viertel=120 eher Viertel=80 werden, dann ist man in jedem Fall an den Intentionen des Komponisten vorbei.

Ich frage mich immer, warum manche Interpreten es besser als der Komponist wissen wollen. Ich gehe davon aus, daß die Schöpfer von solchen Kunstwerken nicht bescheuert waren und schon wußten, warum sie bestimmte Angaben gemacht haben. Denn sonst hätten sie es ja auch bleiben lassen können.


Umgekehrt folgt daraus aber auch, wenn wir uns schon beim Tempo solche Freiheiten erlauben dürfen, warum verändern wir dann nicht auch die Lautstärke, wenn es uns besser gefällt.
Oder gar den Notentext: Wir streichen harsche Dissonanzen und machen einen Beethoven oder Mozart für Harmoniesüchtige. Im gleichen Atemzug erstellen wir ein Fassung, die mit Dissonanzen angereichert wird, für alle die mehr schroffe Abbrüche lieben.
Denn wenn wir schon davon ausgehen und behaupten, daß wir die Intentionen des Komponisten nicht mehr an seinen Tempoangaben ablesen können, dann können wir sie doch sicher auch nicht mehr an seinen dynamischen Angaben oder an seinen hinterlassenen Noten ablesen? Oder?

Worauf es mir ankommt: Interpretation hat ihre Grenzen! Und diese Grenzen sind genau da, wo wir uns über den überlieferten Notentext nicht mehr achten!

Viele Grüße und schöne Ostern!
Johannes

P.S. Ich freue mich, daß sich so viele an diesem sehr speziellen und hochinteressanten Thema beteiligen
Hörbert
Inventar
#18 erstellt: 26. Apr 2011, 09:46
Hallo!

@flutedevoix

Wenn ich dine Zeien lese könnte ich auf den Gedanen kommen die Tempi, die Stimmung der Instrumente und di Spielweisen ären eit jeher einheitlich genormt gewesen.

Leider wiederspricht das aber den mit vorliegenden Informationen.

Mein informationsstnd ist dieser:

Vor der Einführung von Stimmgabeln (ab 1711) un des Metronom (ab 1816) waren sowohl die Stimmung des Orchestes wie auch die Tempi mehr oder weniger willkürlich gewählte Bezeichnungen die eher als Richtlinie denn als exakt Angben zu werten sind.

Wie wenig sich auch heute noch Interpreten in der Realität selbst an Metronomangaben halten wird bei einem bekannten Stück wie Beethovens Hammerklaviesonate im übrigen recht deutlich. Ich kenne eigentlich kein Interpretation in der sich ein Pianist an Beethovens Anweisungen hält, der erste Satz wird in dr Regel immer zu langsam gespielt.

Unter den Vor-Metronomischen Angaben kann man sich m.E. ohnehin vorstellen was man will, was soll man mit einer Angabe wie z.B.: "Das natürliche Tempo der Taktarten" anfangen? So eine Anweisung ist alles andere als eine genaue Angabe und öffnet der Willkür Tür und Tor.

Wie wenig selbst bei den HIP-Interpetationen hier Klarheit herrscht zeigt m.E. die Diskussion über die Thesen von Retze Talsma, nach seiner Auffassung gehört selbst das Tmpo von Beethovens Musik -soweit es hier Metronom-Angaben gibt halbiert. Wären hier verbindliche Informationen verfügbar wäre jeder Kontroverse doch von vornherein der Nährboden entzogen?

So, das ist etwas durcheinander präsentiert und soweit wie möglich verknappt mein aktueller Informationsstan über das Theema, was davon trifft nach deinem Kenntnisstand nicht zu,- und vor allem anderem, warum nicht-?



MFG Günther
flutedevoix
Stammgast
#19 erstellt: 26. Apr 2011, 14:07

Vor der Einführung von Stimmgabeln (ab 1711) un des Metronom (ab 1816) waren sowohl die Stimmung des Orchestes wie auch die Tempi mehr oder weniger willkürlich gewählte Bezeichnungen die eher als Richtlinie denn als exakt Angben zu werten sind.


Was die Stimmung betrifft, ist zutreffend, daß es keine europaweit genormte Stimmung gab, willkürlich würde ich es aber auch nicht nennen. Es ist ja schon auffällig ist, daß sich verschiedene Zentren herausgebildet haben, in denen entsprechende Stimmungen üblich waren. Grob könnte man dies so beschreiben:

Frankreich, Neapel, Berlin: ca. 392 - 394 Hz
Oberitalien: ca. 438 Hz
Deutschland, Rom, Wien, England: ca. 405 Hz

Eine "Nivellierung" dieser unterschiedlichen Stimmtöne setzt übrigens erst sehr viel später als 1711 ein. Von den erhaltenen Instrumenten ausgehend kann man da nocheinmal gut 50 -60 Jahre dazurechnen.

Daneben standen die Orgeln ganz oft noch in einem besonderen Stimmton, der bis über einen Halbton über dem heute üblichen lag, grob um 460 Hz bis z.T. über 500 Hz) Bei Bach kann man davon ausgehen, daß er ungefähr einen Ganzton über dem der für die Instrumente üblichen Kammerton lag- Das resultiert aus der Tatsache, daß zu etlichen Kantaten Stimmen in verschiedenen Tonarten vorliegen, die aber logischerweise zusammen musiziert wurden.


Was die Tempi angeht, ist die Information falsch:
Schon in der Renaissance sind Tempi ziemlich genau angegeben: Der Grundpuls (also die Zähleinheit) im Takt orientiert sich am menschlichen Puls (also 60 - 72 Schläge die Minute), die anderen Tempi die ja über Mensurzeichen (die dann später zu Taktarten wurden) angeben wurden erschließen sich aus Proportionen: z.B. 2:1, 3:1, 3:2
Schon dieser Umstand erscheint mir keineswegs willkürlich, vielmehr scheint das Spektrum doch sehr genau abgesteckt. Natürlich könnte man vermuten, daß der menschliche Puls in der Renaissance vielleicht irgendwo ganz anders lag,etwa bei 30 Schlägen oder bei 120 Schlägen in der Minute. Um es aber gleich vorwegzunehmen, mir liegen keine entsprechenden ernstzunehmenden Untersuchungen vor.

Im Barock haben wir dann ziemlich eindeutige Angaben, die sich an der Zeitmessung orientieren, Quantz entwickelt in seiner Flötenschule sogar eine Systematik. Ganz davon abgesehen (wenn man diese Quellen also nicht kennen würde), konnten die meisten Komponisten des 18. Jh. sowohl Französisch als auch Italienisch sprechen. Von daher dürfte ihnen der unterschiedliche Bedeutungshorizont der Satzbezeichnungen schon bekannt gewesen sein. Geistig beschränkt waren sie jedenfalls nicht!

Nun aber zu verschiedenen Tempoangaben des Barock:
Die vielleicht detaillierteste Tempoerörterung liefert Quantz in seinem "Versuch einer Anweisung die Flute taversiere zu spielen".

Grob teilt er die Satztypen in vier verschiedene Klassen ein:
Allegro assai
Allegretto
Adagio cantabile (oder Andante)
Adagio assai

Seine Bezugsgröße ist ebenfalls nach alter Überlieferung der menschliche Pulsschlag, wobei er präzise 80 Schläge per Minute angibt (es lohnt sich den erklärenden Aschnitt zu lesen)

Die Tempi benennt er dann folgendermaßen (zur Einfachheit hier jetzt immer auf den 4/4-Takt bezogen, er differenziert diese Tempoangabe für jede Taktart aus):
Allegro assai: Halbe Note = 80 Schläge die Minute
Allegretto: Viertel Noten = 80 Schläge die Minute
Adagio cantabile (oder Andante): Achtel = 80 Schläge die Minute
Adagio assai: Achtel = 40 Schläge die Minute
daneben gibt es noch das "gewöhnliche" Allegro, das in einem anderen Verhältnis steht: Viertel = 120 Schläge die Minute

Nachzulesen ist dies, wie schon erwähnt in
Johann Joachim Quantz, "Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen", Berlin 1752
Sowohl ein Faksimile als auch eine Übertragung in moderne Schrift sind im Buchhandel für ein recht günstigen Preis erhältlich (Faksimile um 40.- €, Übertragung als Taschenbuch um 20.- €)

Interessanterweise stimmt das von Quantz beschriebene Tempo für das Allegro (Viertel = 120) genau mit einer von Pere Joseph Engrammelle überein (La tonotechnie, 1775) der für eben diesen Typ schreibt, daß im 2/4 Takt 20 Takte in 20 sek zu spielen seien, was einem Tempo von Viertel Note = 120 Schläge die Minute entspricht.
Interessant ist, daß wir 1775 schon mitten in der Wiener Klassik sind!

Angesichts dieser Quellen, lieber Günther, verzeihst Du mir sicher, wenn ich für Sätze wie deinen obigen höchsten ein müdes Lächeln übrig habe.



Wie wenig selbst bei den HIP-Interpetationen hier Klarheit herrscht zeigt m.E. die Diskussion über die Thesen von Retze Talsma, nach seiner Auffassung gehört selbst das Tmpo von Beethovens Musik -soweit es hier Metronom-Angaben gibt halbiert. Wären hier verbindliche Informationen verfügbar wäre jeder Kontroverse doch von vornherein der Nährboden entzogen?


Talsmas Buch und das von Grete Wehmeier (legt mich nicht auf die Schreibweise des Namens fest) ins seiner Nachfolge besaß ich einmal, bevor ich es wieder veräußert habe. Ich kann also nicht mehr genau nachlesen bzw. zitieren.

Wenn ich mich richtig entsinne, gingen beide davon aus, daß Beethoven die Funktionsweise des Metronoms nicht verstanden habe, weil er taub war. Demzufolge soll er gedacht haben, daß Metronom mache nur einmal klick, immewenn es entweder auf der rechten oder der linken Seite der Pendelbewegung ankomme. Daher müsse man seine Angaben halbieren, weil sie ja auch von der hälfte der Klicks ausgehe.

Es mag zwar stimmen, daß Beethoven taub war (wie sehr er zu welchem Zeitpunkt seiner Forschung schwerhörig war, läßt sich nicht mehr feststellen und ist recht spekulativ). Er war jedenfalls nicht blind und auch nicht kommunikationsunfähig. Man fragt sich ja schon warum das Metronom optisch so aufgebaut ist, wenn nur eine Pendelbewegung zählen soll, also nur ein Klick stattfindet. Und ich bin überzeugt davon, daß Beethoven sich informiert hat, bevor er Tempoangaben zu seinem Werk gemacht hat. Alles andere würde zu ihm als akribischen Arbeiter so gar nicht passen.
Zumal es ja noch weitere Zeitgenossen gibt, die die Möglichkeit einer Metronomangabe für ihre Werke genutzt haben, die nachweislich nicht taub oder in irgendeiner anderen Form eingeschränkt waren.

Allein die Tatsache, daß sich Komponisten zu einer Angabe entschlossen haben, zeigt ja schon, wie wichtig ihnen diese Interpretationsfrage war. Offensichtlich wurde da einiges an Schindluder betrieben, möglicherweise weil sonst Kompositionen vielleicht doch nicht für jeden Musiker spielbar gewesen wären oder sie eine Ausdrucksgestaltung in langsamen Sätzen nicht fähig waren

So dies zunächst zur Tempofrage, möglichst kurz, möglichst knapp. Zudem habe ich den Versuch unternommen, es möglichst so zu formulieren, daß es auch der Nicht-Musiker verstehen und nachvollziehen kann.
In die Diskussion um die Spielweise können wir gerne noch einsteigen, das könnte aber sehr ausufern, ebenso die Frage nach den Instrumenten. Vielleicht sollten wir unser Augenmerk aber zunächst doch darauf richten, inwiefern und bis zu welchem Grad in den Noten überlieferte Angaben für den Interpreten ein Hinweis des Komponisten sind, der ernst zu nehmen ist und seinem Willen entspricht oder eben nicht!
flutedevoix
Stammgast
#20 erstellt: 29. Apr 2011, 11:27
Eigentlich schade, daß dieser Thread um das Thema Interpretation zum Erliegen gekommen ist. Vielleicht ist es ja für Euch interessant, wie ich an die Erarbeitung einer Interpretation eines Werkes herangehe.

Zu aller erst steht einfach mal das Spielen des Werkes, ganz egal ob es Neuland ist oder eine alt bekannte Komposition. Ich für mich finde, daß das Klingen des Werkes das Wesentliche ist, das einen wesentlichen Teil meiner Inspiration ausmacht. Andere Musiker sehen das ganz anders und gehen erstmal von der intellektuellen Seite (also per Analyse) an das Werk heran.
Ich habe ganz am Anfang des Werkes, einmal provokativ gefragt, ab wann man denn von Interpretation sprechen kann. Natürlich ist jede Form von Spielen eines Werkes in einem gewissen Sinne Interpretation. Ich gehe aber ganz bewußt etwas sparsamer mit dem Begriff um, Interpretation ist für mich untrennbar mit einer tiefen Reflexion über das aufzuführende Werk verbunden.
Das erste Spielen ist für mich Orientierung, eben ein Kennenlernen. Das mag schon recht gut und nah am Werk sein, man ist ja nicht unbeleckt was die ganzen an das Werk zu stellenden Fragen angeht, es ist aber immer eine Art von Improvisation nicht von Interpretation in meinen Augen.

Der nächste Weg ist dann erst einmal, sich zuverlässiges Notenmaterial zu besorgen. Jede moderne Ausgabe trägt die Handschrift des Herausgebers, egal wie srupulös er zu Werke geht. Zuverlässiges Notenmaterial heißt nach Möglichkeit die Handschrift, darüber hinaus verschieden Fassungen (Drucke, Kopien von anderen Komponisten, Einzelstimmen, zeitgenössische Bearbeitungen etc,) Es ist faszinierend, in wieviel verschiedenen Gestalten ein Werk oft vorliegt. Jede dieser Fassungen zeigt eine besondere Facette des Werkes. Aus dem Vergleich, dem Wissen um diese Fassung erstelle ich dann eine vorläufige Arbeitspartitur, das heißt ich entscheide mich für eine Fassung mit all den vorhandenen Hinweisen (Artikulation, Dynamik, etc.) und treffe eine entsprechende Entscheidung bei fraglichen Stellen (schlecht lesbaren Stellen, Ungenauigkeiten, offensichtliche und vermeintliche Satzfehler).

Der nächste Schritt heißt dann Lesen. Möglichst viele biographische Informationen über den Komponisten, das Werk, sein Entstehungsumfeld sammeln. Der nächste Schritt ist, noch einmal in die musikalischen Lehrbücher, also die aufführungspraktischen Quellen, aus dem Umfeld des Werkes. Artikulatorische Fragen, Verzierungsfragen, Besetzungsfragen, Fragen bezüglich der Agogik, etc.

Danach erfolgt, oft die Wahl des Instrumentes (Original oder Kopie, möglichst aus dem Umfeld der Komposition), Überlegungen zur Besetzung des Basso continuo (welche Instrumente)

Dann wieder Analyse des Werkes. In erster Linie geht es um Auffälligkeiten: wo sind Besonderheiten, die die interpreatorische neugier besonders wecken? Das können harmonische Fragen oder Aspekte der Melodieführung sein. Das kann eine ungewöhnliche Tonart, eine ungewöhnliche formale Struktur sein.
Analyse meint hier nicht das Arbeiten am Schreibtisch, es ist in weitaus größerem Maße auch das Arbeiten am Notenpult, das was man weitläufig als Üben bezeichnet.
Wie lange diese Phase dauert, kann man nicht sagen, sie ist immer wieder mit Quellenstudium verbunden. Irgendwann stellt sich dann ein Zufriedenheitsgefühl ein.
Martin2
Inventar
#21 erstellt: 04. Mai 2011, 16:39
Ach ja, das Tempo. Das ist eine Diskussion die immer wieder aufflackert, speziell beim Beethoven. Natürlich habe ich mir manches angehört, so den Zinman mit Beethoven, der wohl den ursprünglichen Metronomangaben näher kommt. Schon interessant, speziell die 3., besonders oft hören mag ich es trotzdem nicht.

Für mich gibt es eben mehr als ein absolut korrektes Tempo, sondern auch eine gewisse Interpretationsbreite. Zum Beispiel das Marcia Funebre aus der Eroika. Zinman mag den Beethovenschen Metronomangaben am nächsten kommen mit etwas über 12, Krips mag ich auch mit etwas über 14, Cluytens gefällt mir sehr mit seinen 16, Karajan, Solti, Blomstedt mit ihren 18 dagegen fallen für mich dann raus - sie spielen den Satz schlicht zu langsam.

Dagegen wenn ich Schneiderhan mit dem Beethovenschen Violinkonzert höre, schwebe ich in höheren Sphären - dabei ist mir vollkommen klar, daß das kaum noch mit den Beethovenschen Metronomangaben selbst bei größtem Willen in Einklang zu bringen ist.

Ich frage mich aber schon, warum die Sache mit den genauen Metronomangaben so preußisch korrekt betrieben wird. Und man dann teilweise geradezu unfair wird. Beispiel eine Radiosendung mit Schumanns Kinderszenen. Man hörte die Kinderszenen so wie sie "meistens" gehört wird und dann in der metronomklinischen Fassung. Das war schlicht Unsinn, Weissenberg zerdehnte Sätze wie "Von fremden und fernen Ländern" und die "Träumerei" bis zur Unkenntlichkeit - dem dann die "korrekte" Fassung gegenüberzustellen, war schlicht unfair. Kempff und Demus hetzen bei weitem nicht so, zerdehnen aber auch nicht bis zur Unkenntlichkeit wie Weissenberg.

Das alles gesagt bin ich auch nicht der Meinung, daß man Tempoangaben schlicht "übergehen" sollte. Sie sind wichtige Fingerzeige, zweifellos. Aber sie sind für mich keine "Vorschrift", der ich als Hörer Genüge tun muß - ich höre dann doch schon lieber, was mir gefällt.

Gruß Martin
flutedevoix
Stammgast
#22 erstellt: 07. Mai 2011, 12:54

Das alles gesagt bin ich auch nicht der Meinung, daß man Tempoangaben schlicht "übergehen" sollte. Sie sind wichtige Fingerzeige, zweifellos. Aber sie sind für mich keine "Vorschrift", der ich als Hörer Genüge tun muß - ich höre dann doch schon lieber, was mir gefällt.


Ich frage mich immer wieder, wo man einen zu respektierenden Komponistenwillen erkennen darf und wo e sich nur um Fingerzeige des Komponisten handelt. Das ist jetzt gar nicht polemisch gemeint, aber ich stelle doch einmal sehr provokativ noch einmal folgende Fragen:

Wenn die Tempoangaben und Satzbezeichnungen der Komponisten nur Fingerzeige der Komponisten sind, an die man sich als Interpetet und Hörer nicht halten muß, dann frage ich:

Warum sollten wir uns an den Notentext halten?
Dieser stammt ebenso wie die Tempoangabe und die Satzbezeichnung aus der Feder des Komponisten. Hat er sich dabei mehr gedacht als bei den Tempoangaben? Hat er uns irgendwie vermittelt (Fettdruck, Kursivsetzung, anderer Schreibstil?), daß er das für wichtiger hält?
Wenn wir mit der Haltung an die Sache gehen "ich höre, was mir gefällt", sollten wir dann nicht auch den Notentext ändern, damit es uns noch etwas besser gefällt?
Oder eine andere Argumentationskette aufgreifen: Wenn wir uns als Hörer schon verändert haben (was zweifellos richtig ist), müssen wir dann nicht auch die Werke verändern, sie auf unsere Hörerwartung, unsere Orchester anpassen? So, wie es u.a. Mendelssohn und Mozart mit der Musik Bachs und Händels zu ihrer Zeit gemacht haben?

[i]Ist eine Interpretation der Straußwalzer durch André Rieu eine gute Interpretation, nur weil sie Millionen gefällt?[/i]
Rieu verändert in seinen Aufführungen den Notentext. Er streicht z.B. einzelne Abschnitte und fügt dafür Abschnitte aus anderen Walzern ein. Er verändert die Instrumentation
Was davon ist akzeptabel, was nicht? Oder anders gefragt, ist seine Vorgehensweise legitim, weil es Millionen von Menschen gefällt? Ab wieviel begeisternden Hörern ist eine solche Aufführung legitim?

Haben wir die richtige Persepktive?
Ist ein "ich höre, was mir gefällt" wirklich die richtige Perspektive. Sollte unser persönliches Befinden, unsere Hörerwartung der Ausgangspunkt für die Beurteilung sein?
Oder wäre nicht der umgekehrte Ansatz die richtigere Vorgehensweise?
Sollten wir nicht zunächst einmal das Überlieferte als Basis nehmen, alle Angaben als gleichermaßen zu respektierenden Komponistenwillen? Ich bin immer davon ausgegangen, daß sich die Schöpfer von Kompositionen etwas dabei gedacht haben, wenn sie etwas schriftlich niederlegten. Das heißt nicht, daß nicht auch Fehler vorgekommen sind (z.B. im Notentext, in Tempoangaben), aber das sind doch einzelnen Phänomene.
Ausgehend von diesen Grundlagen entwickle ich dann die Interpretation, mein Bild von der Komposition. Selbst wenn ich die Noten, das Tempo und die bekannten Interpretationsgegebenheiten einhalte, habe ich noch ein unendliche Zahl von Entscheidungen zu treffen, eine extrem große Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten. Diese muß ich aber aufgrund der Gegebenheiten treffen. Oder kürzer gesagt:
Ich muß meine Auffassung (Interpretation) dem Werk anpassen, nicht das Werk meiner Vorstellung!
Hörbert
Inventar
#23 erstellt: 07. Mai 2011, 14:15
Hallo!

@flutedevoix

Sorry, aber mit Aussagen wie:


Ich muß meine Auffassung (Interpretation) dem Werk anpassen, nicht das Werk meiner Vorstellung!


Habe ich so meine Probleme, grob gesagt muß ich gar nix ausser einige Biologische Verrichtungen um die ich nicht rumkomme.

Die Rezeption von Musik dient in allererster Lienie für mich dem pesönlichen Genuß und muß jedenfalls nicht irgendeiner These entsprechen. Das es gerade en vogue ist die Werke getreu den Intentionen der Komponisten wiederzugeben anstatt in einer wie immer auch gearteten Bearbeitung ist eine Zeitekscheinung die irgendwann genau so schnell wieder vorbei sein kann wie sie aufgetaucht ist.

M.E. gibt es für mich als Zuhörer keine richtige oder falsche Pespektive, eine Perspektive hat der jeweilige Interpret, -respektive die Interpreten- eine Werkes die er mir mit seiner Interpretation zu vermitteln versucht. Das kann mir einen bestimmten Zugang zu einem Werk ermöglichern oder auch nicht.

So sind z.B. Otto Klemperes Bruckner und Beethoven Interprettionen alles andere als Werksgetreu, aber sind sie deswegen weniger wert als z.B. die Interpetationen von Günter Wand? Ich meine nein.

MFG Günther
Joachim49
Inventar
#24 erstellt: 07. Mai 2011, 14:42
"Ich muß meine Auffassung (Interpretation) dem Werk anpassen, nicht das Werk meiner Vorstellung!" schreibt Flutedevoix.
Ich verstehe zwar den Geist dieser Worte, aber etwas reizt mich zum Widerspruch. Um meine Auffassung dem Werk anzupassen, muss ich das Werk kennen. Ich kann es aber nicht kennen, ohne es irgendwie aufzufassen. (Es ist ein altes Problem: man muss die Erkenntnis der Wirklichkeit anpassen, aber um dies tun zu können muss man die Wirklichkeit schon erkannt haben).

Nehmen wir an, der Komponist schreibt ein bestimmtes Tempo vor, eventuell sogar mit einer Metronomziffer. Nun habe ich mehrere Möglichkeiten:
- der Komponist hat die Absicht, dass das Tempo die ganze Zeit strikt eingehalten wird. Also passe ich meine Interpretation meiner Auffassung der Intention des Komponisten an.
- der Komponist will einen Fingerzeig geben, die Tempoangabe bedeutet nicht, dass eine gewisse Flexibilität nicht der Absicht des Komponisten entspricht. Wenn das Seitenthema des Beethoven'schen Violinkonzerts auftritt, dann trete ich ein bisschen auf die Bremse, auch nach der Kadenz verzögere ich, um dann mit einem Strettaeffekt den Schlussstrich zu erreichen. Wird das Geschehen ein bisschen dramatischer, dann sorge ich dafür dass der Puls ein bisschen in die Höhe geht. Das ist so selbstverständlich und natürlich, dass der Komponist es nicht extra angegeben hat. Auch dieser Interpret respektiert die Auffassung des Komponisten, oder er beabsichtigt es zumindest. Er spielt so, wie es seiner Auffassung der Absicht des Komponisten entspricht. (Was anders kann er nicht tun, er kann nicht wissen was der Komponist will ohne eine Auffassung des Komponistenwillens zu haben.
- Auch wenn man weiss, was der Komponist wollte, sind wohl manchmal Abweichungen nötig. So schnell kann man es mit so einem grossen Orchester in diesem riesigen Saal nicht spielen. Oder: mit diesen modernen Instrumenten kann ich den Willen des Komponisten nur respektieren, wenn ich von seinen Angaben abweiche (denn sonst hört man dies oder jenes nicht mehr, oder sonst ist die Balance futsch, etc.). Abweichungen vom Werk sind also manchmal nötig um dem Werk gerecht zu werden.
- Natürlich gibt es auch Interpreten, die gar nicht erst beabsichtigen sich um die Absicht des Komponisten zu kümmern (so wie sie sie auffassen, die also glauben, so hat es der Komponist wohl nicht gemeint, aber es trotzdem anders tun. Ein extremes Beispiel: Gould's erstes Brahmskonzert. Aber auch: die quälende Langsamkeit in Richters D 960. Wie Minkowski (angeblich) durch die h-moll Messe rast. Ich will diese Provokateure ein bisschen verteidigen, nicht weil sie recht haben. Aber Musik lebt von der Variation. Mir scheint es manchmal, dass wir etwas zu viel Respekt haben, wenn wir sagen: Der Komponist hat es so geschrieben, also dürfen wir es nicht antasten. Beethoven hat sich etwas dabei gedacht, als er hier diese Metronomziffer wählte. Gewiss, aber wäre er auch der Meinung gewesen, dass es eine Schändung seines Werks wäre, wenn man's ein bisschen schneller oder langsamer spielt? Oder dies ein bisschen lauter und jenes ein bisschen leiser?

Ich will hier nicht Willkür verteidigen: aber der Interpret hat sehr wohl (und zum Glück) einen Spielraum. Und das Pochen auf das Werk als letzter Massstab, das ist ein Hirngespinst. Ebensowenig wie wir das Wort Gottes in der Bibel interpretationsfrei lesen können, ebensowenig können wir Beethovens Auffassungen interpretationsfrei kennen. (Na, jetzt wird wohl wieder ein bisschen Fahrt in diesen thread kommen, oder?)
mit freundlichen Grüssen
Joachim
flutedevoix
Stammgast
#25 erstellt: 07. Mai 2011, 15:23
Hallo Joachim,

schön, daß jemand auf meine durchaus provokanten Thesen eingegangen ist.

Zu Deinem Beitrag:
Ich gebe Dir in vielem, ja sogar dem meisten recht!

Vielleicht aber nur eine kleine Begrifsklärung vorweg, die mir inzwischen angebracht scheint.
Ich denke wir müssen zwischen Tempo und Agogik unterscheiden. Tempo meint sozusagen die Grundgeschwindigkeit eines Satzes, die sich unter anderem aus der Tempoangabe ablesen läßt. Und hier bin ich nachwievor der Meinung, daß der Komponist schon genaue Vorgaben macht, die wir Interpreten einzuhalten haben.
Zur Agogik zählen dagegen Temporückungen innerhalb eines Satzes. Man fängt oft z.B. eine Überleitung ab, indem das Tempo langsamer wird oder macht ein wie auch immer geartetes Ritardando am Ende des Satzes. Bestimmte Themen nimmt man etwas langsamer manches etwas rascher. Auch hier können wir noch ein weites Diskussionsfeld eröffnen bezüglich der Frage was erlaubt sein könnte/ dürfte oder nicht. Ganz oft muß man gar nicht am Tempo drehen sondern erreicht die gleichen Effekte und Affekte über Artikulation.

Wenn ich hier also so auf der Tempofrage herumreite, dann meine ich damit nicht ein sklavisches Durchhalten eines einmal gewählten Tempos. Ich beziehe mich vielmehr auf das Grundtempo. Agogische Freiheiten sind natrülcih erlaubt, ja nötig. Mir ist auch keine Quelle bekannt, aus der zweifelsfrei hervorgehen würde, daß ein Tempo strikt eingehalten werden muß.

Ebenfalls stimme ich in der Frage zu, daß gewisse Modifikationen nötig werden können. Etwa bedingt durch die Art des verwendeten Instrumentariums, der Anzahl der Musiker, der Beschaffenheit der Instrumente etc. Ich sehe, daß ich entsprechende Hinweise nicht hier geschrieben habe, sondern im "Berührende und große Interpretationen"-Thread in der Diskussion um die Einspielung der Beethoven-Konzerte von Aimard und Harnoncourt.
Allerdings muß ich mich dann auch fragen, ob ich unter diesen Aufführungsbedingungen das Werk überhaupt aufführen sollte. Also, nicht jedes Werk geht mit jedem Instrumentarium, nicht jedes Werk geht in jedem Raum etc.

Ein Dorn im Auge sind mir aber jene Interpretationen, in denen sich der Interpret nicht um die verbürgten Angaben schert. Zwei Maximen oder Haltungen kann ich in dieser Hinsicht absolut nicht tolerieren:
"Ich spiele es so, weil es mir so gefällt"
"Ich muß etwas ganz anders, ganz neu machen, egal was das Werk sagt."
Wie ich weiter oben schon schrieb, kann dabei ja durchaus Gutes und Stringentes herauskommen. Beispiele sind für mich da z.B. Beethoven-Sinfonien mit Furtwängler oder Mahler mit Bernstein (DGG). Es ist und bleibt aber das Problem, daß das nicht das ist, was in den Noten steht. Ich würde das "Beethoven Bearbeitung Furtwängler" nennen wollen. So wie ja auch etwa im Jazz der Interpret im Vordergrund steht und nicht der Komponist eines Stückes.
Auch ich halte Provokationen nicht für schlecht, sie können durchaus den Blick öffnen und schärfen, sowohl im Sinne eines "So nicht!" als auch eines "Interessant! Das könnte auch in diesem Werk stecken".

Was den interpretatorischen Freiraum angeht: natürlich ist der evident und absolut nötig. Aber auch, wenn ich mich "einschränke", indem ich Tempo und Notentext strikt beachte und mich gar noch an die verbürgten Spieltechniken der jeweiligen Zeit halte, habe ich einen unglaublich großen Interpretationsspielraum.
Natrülich kan ich mich einem Werk nicht wertfrei, nicht interpretationsfrei nähern. Ich verlange von einem Interpreten aber schon, daß die Perspektive Werk -> Interpretation ist und nicht Interpretation -> Werk. Und ich verlange vom Interpreten, daß er sich mit dem Werk, den Quellen und den musiktheoretischen Fragestellungen rund um das Werk befaßt hat und diese zur Grundlage seiner Interpretation machte. Leider gibt es aber viel zu viele, die einfach mal Frescobaldi spielen wie sie Brahms spielen. Dieser Ansatz geht nicht auf!
flutedevoix
Stammgast
#26 erstellt: 07. Mai 2011, 15:56
@Hörbert:


M.E. gibt es für mich als Zuhörer keine richtige oder falsche Pespektive, eine Perspektive hat der jeweilige Interpret, -respektive die Interpreten- eine Werkes die er mir mit seiner Interpretation zu vermitteln versucht. Das kann mir einen bestimmten Zugang zu einem Werk ermöglichern oder auch nicht.


Diesen Satz halte ich zumindest für ambivalent. Wenn es ausschließlich zur persönlichen Erbauung geht, mag das noch richtig sein. Auch wenn es für mich persönlich nicht in Frage käme.

Sobald ich aber über ein Werk oder eine Interpretation zu urteilen anfange, dann gilt in meinen Augen schon, daß ich auch als Hörer eine Perspektive haben muß. Denn dann verlasse ich eine rein rezipierende Rolle (sofern das geht) und bewege mich selbst auf dem Feld der Interpretation.




So sind z.B. Otto Klemperes Bruckner und Beethoven Interprettionen alles andere als Werksgetreu, aber sind sie deswegen weniger wert als z.B. die Interpetationen von Günter Wand? Ich meine nein.


Ich glaube, mit der Frage nach dem Wert einer Interpretation erreichen wir neues Beurteilungs- und damit Diskussionfeld. Ich habe mich ja nicht zu dem Wert einer Interpretation geäußert sondern bin von der Prämisse "richtig od. falsch" ausgegangen.
In dieser Beziehung ist zumindest eine Klemperer-Interpretation der Beethoven-Sinfonien nicht richtig, weil sie sich u.a. über Beethoven in der Tempofrage hinwegsetzt. Dennoch kann diese Interpretation einen wie auch immer gearteten Wert besitzen. Bevor wir aber über diese Frage diskutieren, müßten wir uns schon auch noch darüber unterhalten, worin grundsätzlich der Wert einer Interpretation liegen kann.



Das es gerade en vogue ist die Werke getreu den Intentionen der Komponisten wiederzugeben anstatt in einer wie immer auch gearteten Bearbeitung ist eine Zeitekscheinung die irgendwann genau so schnell wieder vorbei sein kann wie sie aufgetaucht ist.


Vielleicht lohnt es sich, über diesen Satz einmal genauer nachzudenken.

Ich sehe schon einen Grund in der Erscheinung, die Werke intentionsgetreu wiedergeben zu wollen. Jedenfalls kann ich nicht erkennen, daß es sich um eine zufällig geborene Anschauung handelt.
Die Frage nach einer historisch informierten Aufführungspraxis, die hier dahinter steht, stellte sich in dem Moment, in dem es üblich und gängig wurde, nicht mehr in erster Linie zeitgenössische Werke aufzuführen, sondern zumeist Musikwerke vergangener Epochen auf das Programm zusetzen. Das wäre, ganz grob gesprochen, die Zeit um 1900.

Mit diesem Einschnitt sind generell zwei Probleme ausgelöst worden:
1. Wie spiele ich Werke von Komponisten, an die keine persönliche Erinnerung eines Zeitzeugen mehr besteht?
2. Wie spiele ich Werke eines zeitgenössischen Komponisten, wenn ich den Komponisten nicht direkt befragen kann. Dieses Problem entstand erst nach 1950/ 1960. Zu dieser Zeit erreichte die zeitgenössische Musik einen Nischendasein, durch das nicht mehr von einem allgemeinen Interpretationsbewußtsein oder einer Aufführungstradition od. wie auch immer man es nennen will gesprochen werden kann. Es entwickelten sich auch hier Spezialisten für dei Aufführung morderner Musik, eben wie die moderne Musik ein spezielles Feld wurde.

Ich möchte damit zum Ausdruck bringen, daß das Novum des 20. Jahrhunderts in der ausübenden Musik folgende ist:
Die Aufführung von Kompositionen entfernte sich weitgehend von der Hand des Komponisten in die Hände von Dirigenten/ Ensembleleitern/ Musikern. Eine "authentische" Musizierpraxis", wie sie noch bis quasi Ende des 19. Jahrhunderts dadurch gegeben war, daß weitgehend "moderne"Musik vom Komponisten aufgeführt oder zumindest die Aufführungen betreut wurden, entfiel somit.
Dadurch stellte sich die Frage nach der Interpretation eines Werkes ganz neu.
Sichtbar wird diese Entwicklung ganz deutlich darin, daß heute die "Stars" der Musikszene die Interpreten und nicht mehr die Komponisten sind.
Hörbert
Inventar
#27 erstellt: 07. Mai 2011, 16:33
Hallo!

Richtig:


Die Aufführung von Kompositionen entfernte sich weitgehend von der Hand des Komponisten in die Hände von Dirigenten/ Ensembleleitern/ Musikern


Das ist in der Tat ein Novum in der Interpretationsgeschichte der Europääischen Musik. Die Ursache liegt m.E. vor allem in der Möglichkeit der maschinellen Aufzeichung und Wiedergabe der alten Werke. Ohne die Massenhafte Verbreitung der alten Musik durch Rundfunk und Tonträger würde sich die Frag der Interpretation dieser Werke gar nicht in der heutigen Form stellen. Da diese Tonträger auf den Kreis der kaufwilligen Konsumenten zugeschnitten sein müssen da sonst die Dinger eifch nicht mehr an den Mann (Frau) zu bringen wären ist die gesamte Frage m.E. ein geschmackliche bei der es eben kein "richtig" oder "falsch" im ideellen Sinn gibt sondern allenfalls im Sinne von "gefällt", oder "gefällt nicht".

Das es -bei Lichte betrachtet- somit zu einer starken Abhängigkeit der Auffassungen von Interpretationen rein durch Vekaufszahlen kommt ist die von dir erwähnte Interpretation der Straußwalzer durch André Rieu durcaus als eine "richtige" Interpretation zu werten. Das weder ich noch du damt glücklic werden könnten ist zwar richtig aber benfalls eine bloße Geschmacksfage.

MFG Günther


[Beitrag von Hörbert am 07. Mai 2011, 16:34 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#28 erstellt: 07. Mai 2011, 23:37

flutedevoix schrieb:

Ein Dorn im Auge sind mir aber jene Interpretationen, in denen sich der Interpret nicht um die verbürgten Angaben schert. Zwei Maximen oder Haltungen kann ich in dieser Hinsicht absolut nicht tolerieren:
"Ich spiele es so, weil es mir so gefällt"
"Ich muß etwas ganz anders, ganz neu machen, egal was das Werk sagt."


Hallo Flutedevoix,

da frage ich mich nun wieder, was Du damit meinst, daß Du etwas "absolut nicht tolerieren" kannst. Was genau meinst Du mit diesem "absolut nicht tolerieren"? In der Interpretation etwas neu zu machen nur um es neu zu machen ist allerdings affig. Aber wenn mich die neue Interpretation nun überzeugt? Und "Ich spiele so, weil es mir so gefällt" als Maxime, die Du "absolut nicht tolerieren" kannst, finde ich eine sehr vernünftige Maxime, denn wenn ein Interpret so spielt wie es ihm gefällt ist die Chance groß, daß sich Hörer finden, denen es genauso gut gefällt.

Ich habe mich in diesem Forum schon bei manchen unbeliebt gemacht, weil ich auf dem "Gefallen" so sehr herum reite. Oder noch mehr auf dem "Geschmack", dieser fürchterlich kleingeistig reaktionären Haltung. Die Frage ist nur: Warum soll ich eine Interpretation anhören, nur weil sie etwa in Tempofragen "korrekter" ist und eine andere nicht mehr, nur weil sie nicht korrekt genug ist( und wo genau liegt die Grenze zum Inkorrekten?). Noch lächerlicher würde es allerdings, wenn ich meinetwegen den Zinman sehr loben würde, weil ich weiß, daß er "korrekter" ist und den Cluytens meinetwegen bei den Beethovensinfonien in die Pfanne hauen. Gefallen heucheln wo einem etwas nicht gefällt, Mißfallen heucheln, wo einem etwas eigentlich sehr gut gefällt und das vielleicht noch, weil es Menschen gibt, die etwas "absolut nicht tolerieren" können - das kann doch nicht die Lösung sein.

Gruß Martin
flutedevoix
Stammgast
#29 erstellt: 09. Mai 2011, 20:38
@Martin2:


denn wenn ein Interpret so spielt wie es ihm gefällt ist die Chance groß, daß sich Hörer finden, denen es genauso gut gefällt.


Gegenfrage: Warum muß man denn als Interpret unbedingt ein Werk im Konzert spielen oder auf Platte aufnehmen, wenn man sich nicht mit dem identifizieren kann, was man in den Noten vorfindet?
Ich jedenfalls finde es unredlich, sich ein Werk so zurechtzulegen, daß es den persönlichen Empfindungen entspricht. Als Interpret ist man nun mal nicht der Schöpfer des Werkes sondern nur der "Nachschöpfer", der Reproduzent. Als solcher hat man nun mal die Vorgaben zu achten.
Wenn man das nicht kann oder will, dann muß man anderes Reprtoire spielen, indem man sich mit den Vorgaben identifizieren oder man muß selber komponieren oder improvisieren.

Dieses Dilemma habe ich ja schon versucht in meinem letzten Post anzudeuten. Bis zum 20. Jahrhundert stellten sich die Fragen nach einer Aufführungspraxis ja nicht oder in weitaus geringerem Maße. Im Normalfall war man als Komponist auch der Interpret, zudem war die Aufführungspraxis, das, was man im Musikbetrieb hören konnte. Natrülcih gab es auch da Unterschiede, sowie es heute ja selbst in der historisch-informierten Aufführungspraxis interpretatorische Unterschiede gibt. Das ist ja gewollt, das wird ja von den Komponisten eingefordert. Hier fällt dann auch das Stichwort "Geschmack", dazu gleich mehr.
Ein Grundkonsens über Tempo-, Artikualtions-, Besetzungsfragen etc. war aber gegenwärtig, ganz im Gegensatz zu unserer Zeit.



Ich habe mich in diesem Forum schon bei manchen unbeliebt gemacht, weil ich auf dem "Gefallen" so sehr herum reite. Oder noch mehr auf dem "Geschmack", dieser fürchterlich kleingeistig reaktionären Haltung.


Ja, der "Geschmack"! Gesschmack wird gerade im Barock immer wieder eingefordert und als unabdingbare Notwendigkeit vom Musiker eingefordert. Quantz sprich aber immer vom "guten" Geschmack und meint damit einen Geschmack der auf Wissen, auf Bildung beruft. Geschmack ist also nicht etwas X-beliebiges, Individuelles, nicht näher Greifbares, sondern etwas ganz reales, das man durch Bildung, in unserem Fall durch musikalisches Wissen um die Gegebenheiten bildet. Das war im Barock zugegebenermaßen einfacher als es heute ist, da man weitgehend nur "moderne", also Musik seiner Zeit aufführte. Das ist heute schon sowohl für den Interpreten wie für den Hörer wesentlich schwieriger, da man Musik vom Mittelalter bis zu Moderne hört und so mit ganz unterschiedlichen "Geschmäckern" vertraut sein muß bzw. sollte. Unter diesen Voraussetzungen finde ich dann auch Spezialisierungen kein Problem, bei Innterpreten unter Umständen durchaus sinnvoll. Das ist aber eine andere Frage, die wir gerne auch noch anreißen können.



Noch lächerlicher würde es allerdings, wenn ich meinetwegen den Zinman sehr loben würde, weil ich weiß, daß er "korrekter" ist und den Cluytens meinetwegen bei den Beethovensinfonien in die Pfanne hauen. Gefallen heucheln wo einem etwas nicht gefällt, Mißfallen heucheln, wo einem etwas eigentlich sehr gut gefällt und das vielleicht noch, weil es Menschen gibt, die etwas "absolut nicht tolerieren" können - das kann doch nicht die Lösung sein.


Das ist ja ganz richtig, zielt aber letztendlich doch an der Fragestellung vorbei. Der Vorwurf eines wie auch immer "nicht korrekten Spielens" ist ja nicht dem Hörer zu machen sondern dem Interpreten. Ich habe ja niemals behauptet, daß nicht gute Musik in solchen Interpretationen herauskommen kann, ich stelle lediglich die Frage, was das mit dem in den Noten festgehaltenen Willen des Komponisten zu tun hat.

Und ich stelle die unangenehme Frage noch einmal:

Warum fassen wir die Noten als wertvolleres, unveränderlicheres Gut auf als die Tempoangabe?

Beides stammt aus der Feder der gleichen Person, bei beidem hat er sich etwas gedacht, mit beidem wollte er uns etwas sagen.
Warum soll das Eine wichtiger/ authentischer/ verbindlicher sein als das Andere?
Mit dem Geschmack kann ich jedenfalls bei einem Verändern der Noten auf die gleiche Weise argumentieren wie beim Verändern des Tempos.

Nebenbei, ich habe noch nie Aufnahmen aufgrund eines "falschen" Tempos in die Pfanne gehauen. Gerade habe ich im "berührenden-Interpretationen-Thread" bei Beethoven ziemlich häufig den Namen Furtwängler ins Gespräch gebracht. Diese Aufnahmen sind genau das was ich oben angesprochen habe: Es sind gute Aufführungen, weil berührend und emotional. Ich wage aber eben im gleichen Atemzug darauf hinzuweisen, daß das mit dem von Beethoven Überlieferten nicht so viel zu tun hat. Zusammenfassend gesagt halte ich das für "gute" Musik, eine "gute" Aufführung aber ganz gewiss nicht für eine "richtige" Interpretation und daher problematisch.

Ich wiederhole es noch einmal gerne:

Ein Dorn im Auge sind mir aber jene Interpretationen, in denen sich der Interpret nicht um die verbürgten Angaben schert. Zwei Maximen oder Haltungen kann ich in dieser Hinsicht absolut nicht tolerieren:
"Ich spiele es so, weil es mir so gefällt"
"Ich muß etwas ganz anders, ganz neu machen, egal was das Werk sagt."


Warum kann ich das nicht tolerieren: Weil es in meinen Augen unredlich vom interpreten ist. Ich finde im Blockflötenrepertoire auch genug Werke, mit denen ich nicht kann, bei denen sich meine Vorstellungen nicht (oder vielleicht noch nicht) mit dem Notentext decken, ich bin dann aber so ehrlich und verantwortungsvoll der Komposition gegenüber und lasse die Finger davon! Das heißt nicht, daß ich an diesen Werken nicht arbeite, ich bügle ihnen aber halt nicht meinen Willen über. Denn das gehört für mich (und nicht nur für mich) eben auch zum "guten Geschmack"
flutedevoix
Stammgast
#30 erstellt: 09. Mai 2011, 21:13
@Hörbert:


Die Ursache liegt m.E. vor allem in der Möglichkeit der maschinellen Aufzeichung und Wiedergabe der alten Werke. Ohne die Massenhafte Verbreitung der alten Musik durch Rundfunk und Tonträger würde sich die Frag der Interpretation dieser Werke gar nicht in der heutigen Form stellen.


Ich glaube, da liegst Du falsch. Das Interesse an "alter Musik" (wo ziehen wir dei Grenze?) geht ja nicht von der Tonträgerindustrie aus. Lange bevor die Tonträgerindustrie überhaupt in punkto Marketing in der Lage war, das Publikum zu beeinflussen, war ja das Interesse an alter Musik schon erwacht:

Das ist auf Komponistenebene ja schon immer so gewesen, wenn man Bachs Notenbibliothek oder die Mozartschen Bearbeitungen von Händel und Bach denkt. Bei Mendelssohn haben wir dann das Phänomen, das das Interesse sich nicht mehr nur auf Expertenseite findet, sondern auch das hörende Publikum Gefallen an dieser Musik findet.
Das liegt sicher am Zeitgeist oder nennen wir es dem Lebensgefühl der Romantik. Hier entstand ja das Interesse am "mittelalter", bedingt durch eine "Nationalisierun" der Menschen in der folge der Befreiungskriege. Und so wie das Interesse an Burgen erwachte, durchforstete man auch die Musik nach hehren Gütern.
Verstärkt wurde diese Auseinandersetzung mit älterer Musik durch Bewegungen wie den Cäcilianismus (in der katholischen Kirchenmusik) oder den aufkommenden Liedertafeln (Männerchöre). Neben der Aufführung neuer Kompositionen gehörte hier selbstverstänclich auch die Auseinandersetzung mit älterer Musik (Kirchenmusik, "Volksliedsätze" von Hassler, Praetorius, etc.) zum Tagesgeschäft.
Schließlich setzten auch die großen Namen unter den Dirigenten gerne ältere Musik auf die Konzertprogramme, natürlich Händel (der das Phänomen einer durchgehenden breiten Rezeptionsgeschichte besitzt), Bach, Mozart, Haydn. Auch die Komponisten setzten sich mit diesem Erbe auseinander, man bedenke nur die ganzen Variationswerke, die auf Themen älterer Musik beruhen (z.B. Regers Mozart oder Telemann-Variationen!). Im gleichen Zug wuchs auch das Interesse an den Originalen und genau da wurde auch die historisch-informierte Interpretationsweise geboren. Diese sog. HIP-Praxis ist ein Kind des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts!
Die Frage der Interpretation stellte sich von Anfang an, also mit dem Erwaxhen des Interesses an den originalen Instrumenten, nicht erst irgendwann in den 50ern oder 60ern.

Eine Massenverbreitung zumindest der klassischen Musik durch Tonträger findet doch wohl erst sehr viel später statt. Ich würde das vielleicht auf die 50er-Jahre ansetzen. (abgesehen von Recitals etwa Taubers, Caruso, Giglis etc.) Vielleicht kennt sich da ja jemand aus und kann mich bestätigen oder korrigieren.



Da diese Tonträger auf den Kreis der kaufwilligen Konsumenten zugeschnitten sein müssen da sonst die Dinger eifch nicht mehr an den Mann (Frau) zu bringen wären ist die gesamte Frage m.E. ein geschmackliche bei der es eben kein "richtig" oder "falsch" im ideellen Sinn gibt sondern allenfalls im Sinne von "gefällt", oder "gefällt nicht".


Meinst Du die Thematik "kaufwillige Konsoumenten" jetzt in Bezug auf das Repertoire oder die Interpretationsweise?
In beiden Fällen hätte ich doch einigen Widerspruch anzubringen.



Das es -bei Lichte betrachtet- somit zu einer starken Abhängigkeit der Auffassungen von Interpretationen rein durch Vekaufszahlen kommt ist die von dir erwähnte Interpretation der Straußwalzer durch André Rieu durcaus als eine "richtige" Interpretation zu werten.


Richtig ist, daß Marketing den Absatz von bestimmten CDs enorm fördert. Oft wird einem dabei das exklusive, das besondere, das "so ist es toll" vorgegaukelt und so sicher bei vielen Käufern ein "Geschmack" geprägt. Dieser Geschmack ist aber gar kein Geschmack, sondern ein blindes Vertrauen auf Werbesprüchen. Natürlich prägt dies das Verkaufsverhalten.
Andereseits erlebe ich in Konzerten und auch bei zufälligen Gesprächen, mit Personen, die gar nicht Wissen, daß ich Musiker bin, daß durchaus auch eine kritische Hörweise besteht, die sich nicht auf das Vorgaukeln sondern auf das eigene Hören und Beurteilen verläßt.
Jedenfalls habe ich nicht das Gefühl, daß die Auffassung von Interpretationen so stark von den Verkaufszahlen beeinflußt ist, daß dies entscheidend wäre. Aber vielleicht kann auch da jemand noch mehr Fleisch liefern, sprich ein paar Zahlen in den Raum werfen, wenn es die denn gibt.

Die Straußwalzer von Rieu sind jedenfalls sicher betriebswirtschaftlich richtig, in keinem Fall aber ästhetisch. Wenn wir allerdings nur kulturpesimistisch nach Verkaufszahlen argumentieren wollen, können wir uns das Urteilen über Einspielungen auch schenken und jeden Monat das neue Verkaufsranking veröffentlichen.
Martin2
Inventar
#31 erstellt: 09. Mai 2011, 21:52
Hallo Flutedevoix,

Du betonst für mein Gefühl ein bißchen sehr den "Komponistenwillen" und nivelliest damit zu sehr die Unterschiede, die etwa zwischen dem "Notentext" und etwa einer Tempoangabe besteht.

Zum Thema Tempo fällt mir noch eine Anekdote ein, wie der zu jener Zeit schon weltberühmte Richard Wagner nach England kam und sich ein Konzert mit Werken zeitgenössischer englischer Komponisten anhörte. Dann trat er nach der Aufführung eines Werkes - es könnte Parry gewesen sein - ganz gönnerhaft zu dem englischen Komponisten, der wohl als Komponist auch Dirigent war, und meinte trocken "ja mein Gott, was hetzen sie denn bloß so durch ihr Stück durch. So schlecht ist es doch gar nicht". Eine nette Anekdote, die für mein Gefühl auch deutlich macht, das Tempoangaben wohl sehr wohl den "Komponistenwillen" deutlich machen, anderseits auch wieder "vom Komponisten gemachte Hinweise zu Interpretationsfragen" sind.

Denn in einem Punkt wirst Du mir doch wohl recht geben und diesen Punkt nivellierst Du zu stark, daß nämlich eine Tempoangabe kaum Teil des kreativen Aktes des Komponisten ist. Ein Komponist, der ein Stück schreiben kann, aber sich zu Tempoanfragen nicht äußerst, ist doch zweifellos ein Komponist, dagegen eine reine Tempoangabe ist zweifellos kaum ein Teil des kreativen Aktes.

Ich bin meinesteils nicht sicher, ob Komponisten immer die idealen Interpreten ihrer eigenen Werke sind. In der Interpretation eines Komponisten seines eigenen Werkes fehlt für mein Gefühl etwas sehr essentielles, nämlich die Liebe, die wir nur etwas fremdem entgegenbringen können. Die Liebe, die man sich selbst gegenüber hat, ist eher etwas narzistisches, dagegen die Liebe zu einer fremden Person - auf einer ästhetischen Ebene auch die zu einem Komponisten - ist das, was für mich einen wesentlichen Bestandteil des nachschöpferischen Prozesses ausmacht.

Also darf in Interpretationsfragen für mein Gefühl eben auch der Interpret mitreden und darf - als Akt seiner Liebe zu einem Stück Musik - den Komponisten auch korrigieren. Gerade in Tempofragen darf man die Wagneranekdote durchaus auch generalisieren. Schnellere Tempoangaben, wie etwa bei Beethovens Violinkonzert oder bei Schumanns "Träumerei" mögen ein Stück etwa davor bewahren "schmalzig" zu werden, gelegentlich habe ich aber den Eindruck, daß die Tempoangabe eines Komponisten weniger ein Zeichen seiner Genialität ist als ein Zeichen seines "Temperaments". Ein rührseliger Komponist wird möglicherweise ein zu langsames Tempo fordern, ein Komponist wie Beethoven jedoch, der offensichtlich einen Horror davor hatte, daß seine Kompositionen bei zu langsamen Tempi auch nur ein Gramm Fett ansetzen könnten, wird ein zu schnelles Tempo fordern.

Und ein genialer Komponist ist ein genialer Mensch. Ein genialer Mensch ja, aber kein Heiliger.

Gruß Martin


[Beitrag von Martin2 am 09. Mai 2011, 21:53 bearbeitet]
Joachim49
Inventar
#32 erstellt: 09. Mai 2011, 22:39
Dass Komponisten nicht immer die besten Interpreten ihrer Werke sind, das ist ein interessanter Punkt. Allerdings kann dabei eine Rolle spielen, dass der Komponist, der nur gelegentlich zum Taktstock greift (oder in die Tasten), vielleicht zu wenig Erfahrung im Umgang mit einem Orchester hat. Strawinsky's eigene Aufnahmen seiner Werke gelten vermute ich nicht als der ultime Massstab.
Bei lebenden Komponisten die eine (Ur-)Aufführung begleiten, kommt es vermutlich manchmal vor, dass zB der Solist abweicht von der Intention des Komponisten - aber die Abweichung dem Komponisten vielleicht besser gefällt, als seine ursprüngliche Idee. (Gut, dass ist dann natürlich autorisiert. Aber vielleicht hätten Beethoven Karajans Interpretationen gefallen, wenn er sie hätte miterleben können.
Paul Wittgenstein hat ziemlich oft in die Partituren der von ihm beauftragten Komponisten eingegriffen, etwa wenn er der Meinung war, dass man das Klavier nicht mehr hören kann. Natürlich hat er versucht die Komponisten zu überzeugen, diese Eingriffe zu autorisieren, aber die haben nicht immer mitgespielt.

mit freundlichen Grüssen
Joachim
(Ist es denkbar, dass ein Interpret den Komponisten besser versteht, als er sich selbst vertanden hat? In der Literatur und Philosophie soll's sowas ja geben.)
flutedevoix
Stammgast
#33 erstellt: 09. Mai 2011, 23:08
@Martin2:


Denn in einem Punkt wirst Du mir doch wohl recht geben und diesen Punkt nivellierst Du zu stark, daß nämlich eine Tempoangabe kaum Teil des kreativen Aktes des Komponisten ist. Ein Komponist, der ein Stück schreiben kann, aber sich zu Tempoanfragen nicht äußerst, ist doch zweifellos ein Komponist, dagegen eine reine Tempoangabe ist zweifellos kaum ein Teil des kreativen Aktes.


Natürlich ist eine Tempoangabe (auch in Zusammenspiel mit dem affektiven Gehalt der Satzbezeichnung) ein schöpferischer Akt. Es macht einen großen Unterschied, ob man ein Stück Andante, Allegretto oder Presto spielt.

Tempoangaben gibt es ja erst sehr spät. In der Renaissance war es gar nicht nötig, Tempobezeichnung zu benutzen, die Tempofrage stand da nicht zur Diskussion, das war durch die Musiktheorie (menschl. Pulsschlag und Proportionen) ja eindeutig geklärt (s.o. entsprechendes Posting).
Interessanterweise sind Satzbezeichnungen ja zunächst Affektbezeichnungen(um 1600), in Sonaten/ Sinfonien/ Canzonen der Musik um 1600 gibt es ja noch gar keine in sich abgeschlossene Sätze, die zusammen ein Werkganzes ergeben. Erst im Hochbarock so um 1670/80 entwickelt sich mehrsätzige Sonaten/ Sinfonien/ Concerti etc. Das Probelm ist nun, daß motivisch und von der Taktvorzeichnung her, das Tempo eines Stückes nicht mehr so eindeutig zu erkennen ist, anders als in der Renaissance oder dem Frühbarock. Zusätzlich werden die Differenzierungen, die die Komponisten vornehmen, immer feiner. Gab es zunächst nur Allegro (=fröhlich) und Adagio (=ruhig), kamen Presto, Andante dazu. Nach 1710 haben wir dann schon ein recht viefältiges Spektrum an Grundtempi (Largo, Larghetto, Adagio, Andante, Allegro, Vivace, Presto, u.v.m.), zumeist aber noch ohne charakterisierende Adjektive wie oder "ma non troppo".
Insgesamt darf man schon konstatieren, daß die zunehmende Genauigkeit in der Vorgabe des Tempos und der Affektfrage einhergeht mit einer zunehmende Mehrdeutigkeit der Themenbildung. Das ist summarisch und grob, aber in der Summe eben auch festzustellen.

Wie wichtig den Komponisten und Musiktheoretikern (noch bis ins 19. Jh. hinein gibt es auch da eine Personalunion) das Thema Tempo war, erschließt sich ja aus der Tatsache, das in den entsprechenden Schulen und Theoriewerken so darauf herumgeritten wird.
Nebenbei zeigt es zweierlei: zum einen das den Komponisten das Tempo in denen ihre Werke gespielt wurden sehr wichtig war und zum anderen, daß es schon immer Interpreten gab, die davon abwichen (wenn man den überlieferten Bemerkungen der Komponisten trauen darf, dann meistens deswegen, weil sie sich virtuos profilieren wollten). Unsere Diskussion ist also eine Uralte!

Zur meiner provokativ gestellten Frage werde ich mich auch noch ausführlich äußern. Ich habe sie zugegebenermaßen nicht ohne Hintergedanken gestellt.


Zum Schluß nur noch Anmerkungen zu Folgendem:


Ich bin meinesteils nicht sicher, ob Komponisten immer die idealen Interpreten ihrer eigenen Werke sind. In der Interpretation eines Komponisten seines eigenen Werkes fehlt für mein Gefühl etwas sehr essentielles, nämlich die Liebe, die wir nur etwas fremdem entgegenbringen können. Die Liebe, die man sich selbst gegenüber hat, ist eher etwas narzistisches, dagegen die Liebe zu einer fremden Person - auf einer ästhetischen Ebene auch die zu einem Komponisten - ist das, was für mich einen wesentlichen Bestandteil des nachschöpferischen Prozesses ausmacht.


Das ist eine Frage, die wir nie klären können. Es gibt aber ab dem Barock viele begeisterte Berichte über Aufführungen der Werke durch ihre Komponisten, daß ich eher vom Gegenteil ausgehe. Zumindest in den Fällen, in denen die Komponisten die Werke für sich schrieben und zu Aufführung brachten.
Auch hier eröffnet sich ein weites, wenn auch recht spekulatives Diskussionsfeld. Zumal es sehr schwer werden dürfte

die Liebe zu einer fremden Person - auf einer ästhetischen Ebene auch die zu einem Komponisten - ist das, was für mich einen wesentlichen Bestandteil des nachschöpferischen Prozesses ausmacht.

in einer Interpretation auszumachen.


[Beitrag von flutedevoix am 09. Mai 2011, 23:11 bearbeitet]
flutedevoix
Stammgast
#34 erstellt: 09. Mai 2011, 23:31
Ah, ich freue mich, daß Fahrt in die Diskussion kommt!


Bei lebenden Komponisten die eine (Ur-)Aufführung begleiten, kommt es vermutlich manchmal vor, dass zB der Solist abweicht von der Intention des Komponisten - aber die Abweichung dem Komponisten vielleicht besser gefällt, als seine ursprüngliche Idee. (Gut, dass ist dann natürlich autorisiert. Aber vielleicht hätten Beethoven Karajans Interpretationen gefallen, wenn er sie hätte miterleben können.


Das ist ja für viele (die meisten?) Kompositionen verbürgt, die für einen Solisten entstanden, z.B. die Violinkonzerte von Brahms od. Tschaikowski, bei denen die Solisten stark beratend am Solopart mitwirkten. Und in der Tat darf man da von einer Autorisierung ausgehen.


Paul Wittgenstein hat ziemlich oft in die Partituren der von ihm beauftragten Komponisten eingegriffen, etwa wenn er der Meinung war, dass man das Klavier nicht mehr hören kann. Natürlich hat er versucht die Komponisten zu überzeugen, diese Eingriffe zu autorisieren, aber die haben nicht immer mitgespielt.


Vermutlich hatten sie ihre Gründe!
Ganz im Ernst, ich würde niemals behaupten, daß die Komponisten immer die besten Interpreten ihrer Werke sind. Aber mit dem was sie uns hinterlassen haben, wollten sie uns etwas sagen.
Ihr glaubt gar nicht, wie oft ich von Dirigenten und Solisten höre, "das geht ja gar nicht", "da muß man sich keine Gedanken drüber machen", "das spielt man einfach so". Das ist genau diese Interpretenliga, gegen die sich mein "Zorn" richtet.
Grundsätzlich sollte man einfach schon mal, dem Notentext vertrauen und nich mit einem Rucksack an vorgefaßten Meinungen dem Werk zu Leibe rücken. Ich für mein Teil führe diese Tempodiskussion nur als Stellvertreterdiskussion für alle Parameter, die zu einer Interpretation gehören.


Voila:

Ist es denkbar, dass ein Interpret den Komponisten besser versteht, als er sich selbst vertanden hat? In der Literatur und Philosophie soll's sowas ja geben.


Das ist doch der springende Punkt, um den wir kreisen!

Ergänzend:
Wenn ja, warum?
Wenn ja, woran erkennen wir es?
Auf welcher Grundlage wollen wir es beurteilen?

Und erweiternd:
Kann sich der Bedeutungshintergrund einer Komposition verändern?
Kann der Affektgehalt in der Wahrnehmung sich verschieben?
Joachim49
Inventar
#35 erstellt: 10. Mai 2011, 10:49
Nimm mal an ein Interpret improvisiert mal ein bisschen. Man hört ja oft, dass dies früher gebräuchlich war, etwa in dem Sinne dass (z.B.) im Klavierkonzert K 488 im langsamen Satz Verzierungen ad libidum erwartet werden. Gut, solche Verzierungen sind autorisiert (eventuell durch eine beim Komponisten bekannten Spielpraxis). Kopatchinskaja weicht in ihrem Beethovenkonzert manchmal vom üblichen Notentext ab. Allerdings handelt es sich um von Beethoven selbst notierte Varianten, um die sich die Interpreten bisher nicht geschert haben. Das ist also okay. Und wenn sie selbst mal eine Variante erfunden hätte? (in diesen ewigen Arkaden und Läufen ?). Wäre das ein Verbrechen.
Die Frage ist auch wodurch die Abweichung motiviert ist. Durch Schlamperei? Desinteresse?
In der Schnittke Kadenz zum Beethovenkonzert gibt es diese wundervolle Entwicklung, wo der Solist auf einmal ins Brahmskonzert überleitet. Nimm mal an, die hätten das nicht in der Kadenz gemacht, sondern sie hätten in Konzert selbst mal einen Kurzausflug ins Brahmskonzert gemacht. Just for fun. Wäre das denn schlimm?
Oder: die Winterreise mit Streichquartett oder zB Akkordeon (in Zenders 'Interpretation' der Winterreise wird zum Beispiel ein Akkordeon verwendet, um die Verbindung zwischen Schubert und der Volksmusik zu unterstreichen. Gut, das sind (legitime) Bearbeitungen. Aber warum sollte eine kleine 'Bearbeitung' (etwa eine improvisierte Variante in einem überbekannten Stück) ein Verbrechen sein?
Der Interpret kann ja manchmal auf etwas hinweisen wollen: eine Stelle viel langsamer spielen um deutlicher hören zu lassen, was da geschieht. Etwas zu ausdrücklich hervorheben, etwa eine Nebenstimme, um auf sie aufmerksam zu machen.
Musikalisches Geschehen hat ja sehr wesentlich etwas mit Variation zu tun. Warum darf der Interpret nicht ein bisschen mitspielen? (vorausgesetzt er kann es überzeugend)
mit ketzerischen Grüssen
Joachim
Hörbert
Inventar
#36 erstellt: 10. Mai 2011, 11:09
Hallo!

@flutedevoix

Das:


Kann sich der Bedeutungshintergrund einer Komposition verändern?
Kann der Affektgehalt in der Wahrnehmung sich verschieben?


Sind zwei Fragen die sich eindeutig mit Ja beantworten lassen.

Niemand wird ernsthaft behaupten können das er z.B. ein Bach-Oratorium mit de gleichen tiefenGläubigkeit anhören kann wie es Die Zeitgenossn Bach´s konnen, diese Geisteshaltung und somit auch der ursprüngliche Bedeutungshintergrund dieser und vieler anderen alten Wrke ist unwiederbringlich dahin.

Somit ist auch der Affektgehalt nicht mehr der gleiche, -ganz davon abgesehen das die Klanglichen Strukturen heute mit ganz anderen Ohren gehört werden ist ein Teil der alten Bedeutungsinhalte die die Musiksprache einem Zeitgenossen de jeweiligen Komponisten nicht mehr gegeben-, oder andes ausgedrückt ein Menuett oder auch ein Walzer an einer bestimmen Stelle gespielt sagt uns heute nicht mehr das gleiche was sie einem Zeitgenossn des Komponisten gesagt hätte.

Ein heutiger Rezeptient denkt und fühlt anders, dazu kommt die veränderte Rezeptionskultur, Musik zu Zeiten Bachs oder auch Mozarts war in gewisser weise ein oft elitäres ganz gewiss aber seltenes Ereigniss gemessen an der heutigen Rezeptionskultur.

MFG Günther
Joachim49
Inventar
#37 erstellt: 10. Mai 2011, 13:39
(Flutedevoix)
noch eine ketzerische Bemerkung (in meinem vorigen Beitrag schon mitenthalten); Fasse 'Fehlinterpretationen' einfach als Bearbeitungen auf. Dagegen gibt's doch keine Einwände, oder? Natürlich kann eine solche Bearbeitung gut oder schlecht sein.
Freundliche Grüsse
Joachim
Klassikkonsument
Inventar
#38 erstellt: 10. Mai 2011, 18:57

Joachim49 schrieb:
noch eine ketzerische Bemerkung (in meinem vorigen Beitrag schon mitenthalten); Fasse 'Fehlinterpretationen' einfach als Bearbeitungen auf. Dagegen gibt's doch keine Einwände, oder? Natürlich kann eine solche Bearbeitung gut oder schlecht sein.


Um nicht zu sagen, eine Fehlinterpretation kann ein neues Kunstwerk eigner Dignität sein.

Viele Grüße
Klassikkonsument
Inventar
#39 erstellt: 14. Mai 2011, 20:08
Um nochmal diesen wichtigen Einwand aufzugreifen:

Joachim49 schrieb:
(Ist es denkbar, dass ein Interpret den Komponisten besser versteht, als er sich selbst vertanden hat? In der Literatur und Philosophie soll's sowas ja geben.)


Das muss man allerdings insofern relativieren, als dass einerseits die Interpretation von literarischen & philosophischen Texten, andrerseits die Ausführung eines Musikstückes doch nicht ganz das Selbe sind.

Musik zu spielen ist zunächst mal ein physikalisches Phänomen (wie etwa auch die bildende Kunst und was auf der Bühne passiert), etwas ziemlich Handgreifliches, dessen Details einem schon trivial vorkommen können.

Wenn dann Geisteswissenschaftler_innen kommen und darüber räsonnieren, kann es allerdings mit dem Genuss schnell vorbei sein.

Viele Grüße
flutedevoix
Stammgast
#40 erstellt: 14. Mai 2011, 20:29
Wir sind in der Diskussion jetzt an einem Punkt angelangt, wo es vielleicht gut wäre, wenn ich meine Position, wie ich sie bisher dargelegt habe, einmal zusammenfasse. Es droht langsam unübersichtlich zu werden:

Am Anfang der Diskussion entwickelte sich zunächt der Eindruck, daß dem Interpreten alles erlaubt ist, solange es dem Zuhörer gefällt. Diese These oder zumindest diesen Eindruck wollte und konnte ich so nicht stehen lassen. Als Punkt, um in die Diskussion einzusteigen, wählte ich die Tempofrage, eben weil sie für Nicht-Musiker wohl am leichtesten nachvollziehbar ist. Jedenfalls habe ich geäußert, daß es sowohl "falsche" auch "Richtige" Interpretationen gibt. Davon bin überzeugt und meine dies auch belegen zu können.

Nun zu der Argumentationslinie:
Meine Auffassung ist, daß das Wesentliche für eine Interpretation in den Noten, wie sie uns vom Komponisten überliefert sind, zu finden ist. Mit diesen Noten hat der Interpret seine Vorstellungen, seine Interpretation übereinzubringen, von hier aus muß er seine Interpretation entwickeln. Jedenfalls darf er nicht mit einer vorgefaßten Meinung an das Werk herantreten und diese dem Werk überzustülpen. Kurz könnte man das so zusammenfassen:

Ich muß meine Auffassung (Interpretation) dem Werk anpassen, nicht das Werk meiner Vorstellung!

Dazu gehört auch, das der Interpret die Tempovorschriften des Komponisten beachtet (wie auch alle anderen Vorgaben).

Klar ist, daß damit nicht eine wie auch immer geartete "maschinelle" Wiedergabe gemeint ist. Selbst wenn ich die Vorgaben (Noten, Insrumentierung, Tempo, Artikulation, etc.) beachte, habe ich als Interpret noch eine unglaublich große Bandbreite an Interpretationsmöglichkeiten.
Diese schließt selbstverständlich auch Modifikationen in einem zugegebenermaßen relativ enggezogenen Rahmen ein. So kann ich eine Tempo etwas langsamer oder schneller nehmen als die Vorgabe. Für mich ist aber eine Veränderung des Tempos von einem (vorgeschriebenen) Allegro (von dem man weiß, wie schnell es gespielt wird) zu einem Moderato schlicht eine "falsche" Interpretation. So würde ich z.B. einige Einspielungen der Beethoven-Sinfonien unter dieser Kategorie einordnen. Damit sei aber nichts über die Wertigkeit einer solchen Interpretation gesagt, ich behaupte lediglich, daß dies nur sehr bedingt noch etwas mit dem vorliegenden Werk zu tun hat.

Ich stehe auch nachwievor dazu, daß man als Interpret die Finger von einer konzertanten Aufführung oder der Einspielung eines Werkes lassen sollte, wenn man seine Vorstellungen nicht mit den Vorgaben übereinbringen kann. Dies schulde ich in meinen Augen der Komposition und ihrem Schöpfer. Bei aller Meisterschaft, die ich Interpreten (also auch mir) unterstelle: ich halte den Komponisten für den größeren, der schon wußte, wa er uns mit dem Werk sagen will und der uns mit den Interpretationshinweisen (Artikulation, Dynamik, Tempo, etc.) zu verstehen geben will, wie er sein Werk sieht.

Ich möchte auch noch auf die provokante Frage eingehen, warum wir den Notentext höher halten als etwas Tempongaben und damit indirekt auch die Frage nach der Legitimität von Bearbeitungen.

Zunächst vorweg, ich habe nichts gegen gute Bearbietungen einzuwenden. Man müßte zunächst aber noch klären, was eine gute Bearbeitung ist.
Wenn mit einer Bearbeitung ein neues Licht auf ein Werk geworfen werden kann, wie z.B. die Bearbeitungen der Beethoven-Sinfonien für Klavier durch Liszt oder die Zehnder-Fassung der Winterreise, dann ist dies in jedem Fall für mich eine gute Bearbeitung.
Auch die Anpassung der Werke auf einen Zeitgeschmack, etwa durch eine Neuinstrumentierung (Bachs Matthäus-Passion durch Mendelssohn, Händels Messias durch Mozart), können darunter fallen. An anderer Stelle im Forum habe ich ja geäußert, daß Bachs 2. Brandenburgisches Konzert in der von Bach vorgeschriebenen Besetzung mit modernem Instrumentarium u.a. wegen der hoch-b-Trompete nicht aufführbar ist. Wenn ich dieses Werk also mit modernem Instrumentarium aufführen müßte/ möchte, würde ich neu instrumentieren: Blockflöte durch Querflöte ersetzen, Trompete durch Horn, und hätte eine Besetzung die dem klanglichen Original relativ nahekommen würde. So sind etwa auch Instrumentationsretuschen von Toscanin in Brahms-Sinfonien oder generelle Veränderungen der Schumann-Sinfonien für modernes Sinfonie-Orchester zu verstehen und nachzuvollziehen.

Hier möchte ich aber gleich einhaken:
Ich persönlich wüßte nicht, wieso ich nur wegen dynamischen/ klanglichen Problemen bei der Aufführung eines Werkes aus älterer Zeit, das für andere Instrumente gedacht war, eine Bearbeitung (z.B. Neuinstrumentation) durchführen muß, wenn ich die Möglichkeit habe auf das Instrumentarium für das das Werk gedacht ist und keine Probelem provoziert, zurückgreifen kann.
Auch hier sei das Instrumentarium wieder nur stellvertretend für andere Parameter genannt.

Es ist gut möglich, daß meine Argumentation zu sehr aus meiner Sicht als Interpret, als Künstler geführt ist. Für die meisten Hörer ist es ja nur bedingt nachzuvollziehen, was der Komponist uns wirklich in den Noten hinterlassen hat (Problematik der z.T. erheblichen Veränderungen der autographen Fassungen in modernen Ausgaben) oder was die Aufführungspraxis oder das Instrumentarium angeht (Kenntnis von Aufführungspraktischen Schriften der Entstehungszeit oder Wissen um Instrumentenbau).

Natürlich ist es entscheidend, daß einem das Ergebnis der Interpretation gefällt. Ich habe auch kein Problem zuzugeben, daß mir eine Interpretation z.B. der 7. Sinfonie von Furtwängler durchaus gefällt. Ich bin nur darüber bewußt, daß dies mit dem Komponisten hinterlassenen Notentext nicht mehr so viel zu tun hat, es also eine "falsche" Interpretation ist. Eine "falsche" Interpretation muß ja nicht eine "schlechte" Interpretation unter ästhetischen Gesichtspunkten sein, siehe oben. Es gilt hier auch der Umkehrschluß, eine "richtige" Interpretation ist nicht zwangsläufig eine "gute" Interpretation, auch wenn sie aus einigen Gründen eine bessere Chance dazu hat.

Ich habe aber durchaus Hemmungen manche "falsche" Interpretation, die einen hohen ästhetischen Wert hat, dann als gelungene Interpretation dieses Werkes gelten zu lassen. Konkreter: ich finde, daß Beethovens Sinfonik in der Interpretation Furtwänglers zwar faszinierende Musik ist, aber in der Tat eher als eine Bearbeitung der Sinfonien durch Furtwängler zu fassen ist. Ich möchte das durchaus mit der Interpretation etwa des zweiten Satzes aus Rodrigos Concerto d'Aranjuez durch Miles Davis (auf der Platte "Sketches of Spain") vergleichen. Auch wenn das natürlich viel weitergeht. Da können wir gerne noch drüber diskutieren, wo denn die Grenze zur Bearbeitunggezogen werden kann.
Jedenfalls gibt es in meinen Augen durchaus Grenzen bezüglich des "Erlaubt ist, was gefällt", wenn ich ein WErk noch unter dem Namen des Komponisten verkaufen will.
flutedevoix
Stammgast
#41 erstellt: 14. Mai 2011, 20:56
@Hörbert:



Das:


Kann sich der Bedeutungshintergrund einer Komposition verändern?
Kann der Affektgehalt in der Wahrnehmung sich verschieben?


Sind zwei Fragen die sich eindeutig mit Ja beantworten lassen.



Ich denke so einfach und eindeutig sind diese Frage nicht zu beantworten!

Natürlich ist richtig:

Niemand wird ernsthaft behaupten können das er z.B. ein Bach-Oratorium mit de gleichen tiefenGläubigkeit anhören kann wie es Die Zeitgenossn Bach´s konnen

Dennoch bleibt bei vokaler Musik ja gerade auch ein Text, den der Komponist ausgedeutet. Dies geschah, um bei Beispiel Bachs zu bleiben, nicht mit mystischen Mitteln sondern durchaus mit nachvollziehbaren kompositorischen Mitteln (z.B. Zahlensymbolik, Figurenlehre, etc.)

Vielleicht ist es ehrlicher zu schreiben das sich die rezeptive Haltung des Hörers geändert hat. Ich würde jedenfalls nicht unbedingt davon ausgehen, daß es nötig ist, die gleiche tiefe Gläubigkeit wie zu Bachs Zeiten voraussetzen zu müssen, um den Bedeutungshintergrund der Bachschen Passionen nachvollziehen zu können, zumal diese Gläubigkeit durchaus auch schon bei den Hörern der Bachschen Aufführungen unterschiedlich gewesen sein dürfte.

Und damit gleich weiter zur Frage einer möglichen Veränderung des Affektgehaltes:

Somit ist auch der Affektgehalt nicht mehr der gleiche, -ganz davon abgesehen das die Klanglichen Strukturen heute mit ganz anderen Ohren gehört werden ist ein Teil der alten Bedeutungsinhalte die die Musiksprache einem Zeitgenossen de jeweiligen Komponisten nicht mehr gegeben-,

Ich würde Dir sicher recht geben, daß sich die Stärke der Wahrnehmung verändert hat. Sicher wirkte ein verminderter Akkord schärfer bevor er zum "kompositorischen Normalzustand" wurde. Dennoch wird aus einem "jauchzet, frohlocket", der jubelnden Eröffnung des Bachschen Weihnachtsoratoriums nicht plötzlich ein Stück oder tiefer Trauer oder tiefer Melancholie.
Was die Musiksprache der Komponisten angeht: Die ist eben musiktheoretisch nachvollziehbar, eben weil etwa zu Bachs Zeiten Musik als Kunsthandwerk aufgefaßt wurde. Das Wissen um und die Auseinandersetzung mit diese(n) Themen gehört zu den Obligenheiten des Interpreten.

Richtig ist zweifellos, daß sich die Rezeptionskultur verändert hat. Allerdings sehe ich da keinen Zusammenang mit dem Affektgehalt, der in einer Komposition steckt
Joachim49
Inventar
#42 erstellt: 14. Mai 2011, 20:58
Johannes (flutedevoix) schrieb:"Ich stehe auch nachwievor dazu, daß man als Interpret die Finger von einer konzertanten Aufführung oder der Einspielung eines Werkes lassen sollte, wenn man seine Vorstellungen nicht mit den Vorgaben übereinbringen kann."
Aber dies bedeutet doch, dass Furtwängler die Finger von Beethoven hätte lassen sollen & (zugleich) dass man sich dadurch eventuell (je nach Geschmack) eines Hörvergnügens beraubt.
Über eine Sache sind wir uns aber glaube ich alle einig: Lieber falsch, aber gut, statt richtig, aber schlecht. (wobei richtig hier vor allem heisst, richtige Tempi und Instrumente;- wie wir alle wissen: nicht jede HIP-Aufnahme ist schon deshalb gut, weil sie HIP ist (siehe im vorigen Beitrag unter dem Stichwort 'Umkehrschluss))

Im übrigen bin ich durchaus mit Johannes/ flutedevoix der Meinung, dass die 'Richtigen' auch oft die besseren sind (nur bei einem meiner Lieblinge - den Mozartklavierkonzerte - konnte mich davon weder van Immerseel, noch das Duo Bilson/Gardiner überzeugen.
Freundliche Grüsse
Joachim
flutedevoix
Stammgast
#43 erstellt: 14. Mai 2011, 22:11

Aber dies bedeutet doch, dass Furtwängler die Finger von Beethoven hätte lassen sollen & (zugleich) dass man sich dadurch eventuell (je nach Geschmack) eines Hörvergnügens beraubt.


Oder es nicht als Beethoven verkaufen.

Wobei man fairerweise sagen muß, daß er meines Wissens auch nicht darauf gepocht hat, Beethovens Willen besonders nahezukommen.

Vielleicht kann man es auch so formulieren: Es handelt sich um eine andere Interpretationskultur oder vielleicht noch besser um eine andere Auffassung von der Rolle des Interpreten.
Joachim49
Inventar
#44 erstellt: 14. Mai 2011, 23:02
Hier ist ein Beethoven Violinkonzert, das deutlich anders ist, als die andern. Ein schöner Testfall. Interpretatorische Willkür? Oder haben alle anderen (im Sinne Mahlers = Tradition ist Schlamperei)geschlampt? Es spielt Patricia Kopatchinskaja, hier mit dem Finnischen Radioorchester unter Oramo. Ihre Interpretation des Soloparts entspricht sehr genau der in ihter CD-Aufnahme mit Herreweghe.
http://areena.yle.fi...66436322&language=fi


[Beitrag von Joachim49 am 14. Mai 2011, 23:06 bearbeitet]
Hörbert
Inventar
#45 erstellt: 15. Mai 2011, 01:16
Hallo!

@flutedevoix


Dennoch wird aus einem "jauchzet, frohlocket", der jubelnden Eröffnung des Bachschen Weihnachtsoratoriums nicht plötzlich ein Stück oder tiefer Trauer oder tiefer Melancholie.


Aber bei recht vielen Zuhörern auch kein Jubel zu Ehren einer Gottheit mehr, sondern einfach ein Refrain. Mit der besonderen Stellung dieses Werkes die heute so wie zu Bachs Zeiten einfach nicht mehr gegeben ist, -dafür sorgt schon die beliebige Wiederholbar- und Unterbrechbarkeit einer Tonkonserve-, ist auch der ursprüngliche Affekt dieses Werkes verschwunden.

Unsere gesamte Betrachtungsweise eines Werkes dieser Art ist eine rein retrospektive, ein zeitgenössischer Interpret wird also m.E. immer eine beispielsweise restaurative oder erhalterische Komponente mit einbringen, ob er das nun bewußt oder unbewußt tut. Es schleppt nicht nur die Last einer mehrhundertjährigen Musik und Interpretationskultur mit sich herum sondern auch das Bewußtsein das gerade durch die Tonaufzeichnung und die beliebige Wiederholbarkeit seiner Interpretation seine Arbeit einer anhaltenten kritischen Betrachtung unterzogen werden wird. Wenn das kein geänderter Affekt ist gegenüber einem Musiker zu Bachs Zeiten ist der wohlmöglich auch noch unter der Aufsicht des Komponisten stand weiß ich nicht was ein geänderter Affekt sein sollte.

Somit sehe ich auch auf Seiten der Interpreten eine erheblich Andere Perspektive als wäre das Bach-Oratorium ein Zeitgenössisches Werk. Das eine solche zeitgemäße Interpretation wohlmöglich in unseren Ohren besser und stimmiger klingen kann als ein wie auch immer geartetes "Original" beibt natürlich davon unberührt, aber es gibt nach meiner Ansicht keinerlei objektiven Grund die eine oder andere dieser Interpretationen als besser oder schlechter zu bezeichnen. M.E. ist so etwas ein rein subjektives Urteil, somit in der Tat in der Sphäre des Geschmacklichen angesiedelt.

MFG Günther
flutedevoix
Stammgast
#46 erstellt: 15. Mai 2011, 02:21

Aber bei recht vielen Zuhörern auch kein Jubel zu Ehren einer Gottheit mehr


Was auch ja völlig egal ist, Jubel bleibt Jubel, egal ob zu Ehren einer Gottheit, eines Königs oder von Fußballstars.
Zumal ja der Chorsatz ursprünglich weltlichen Ursprungs ist und einer Huldigungskantate (ich meine anläßlich eines Geburtstages) etstammt mit dem ursprünglichen Text "Tönet ihr Pauken, erschallet ihr Trompeten". Ob ich nun aber einen geistlichen oder weltlichen Text der Komposition unterlege, ist ja dem Affektgehalt der Komposition egal. Denn dieser wird sich nicht von Jubel in Trauer ändern, oder größer werden, nur weil er zu Ehren Gottes ertönt. Mich würde schon auch interessieren, wie Du eine unterschiedliche Rezeption des gleichen Chorsatzes konstatieren würdest, nur mit geändertem Text. Zumal dieser Text in keinem Falle, weder in der Huldigungskantate noch im Weihnachtsoratorium spezifisch religiösen Charakter trägt.
Ich wage unter diesen Umständen auch die Behauptung, daß selbst ein Hörer zu Bachs Zeiten, die Sätze in gleicher Form rezipiert hätte, egal ob er das weltliche oder das geistliche Werk hört, egal ob Gott oder der Landesfürst gemeint ist.
So wird aber auch klar, daß ich vom Affekt der Musik spreche und nicht von der Gemütsbewegung eines Interpreten.

Ich kenne aber auch keinen Interpreten und auch keinen Hörer, der bei diesem Stück aus Trauer in Tränen ausbrach. Ob sich nun die Qualität des Jubels geändert hat oder der Grund oder der Bedeutungshorizont für die Jubelstimmung geändert hat ist unerheblich, wir werden ebenso in eine Jubelstimmung versetzt wie der Hörer vor 300 Jahren. Dieser Affekt des Jubels bleibt auch davon unberührt, wei oft grundsätzlich das Werk abgespielt werden könnte.


Somit sehe ich auch auf Seiten der Interpreten eine erheblich Andere Perspektive als wäre das Bach-Oratorium ein Zeitgenössisches Werk.

Das kann ich so nicht sehen. Grundsätzlich stellen sich für einen Interpreten die gleichen Fragen bei der Erarbeitung eines Werkes. Natürlich fällt bei einer zeitgenössischen Neukomposition die Interpretationsgeschichte dieses speziellen Werkes weg, dennoch bleibt ja grundsätzlich eine wie auch immer zu definierende Interpretationsgeschichte "moderner" Musik, von der sich der Interpret auch nicht freimachen kann. Oder anders gesagt, letztendlich führe ich viele Kompositionen auf, die eine Interpretationsgeschichte haben, die mir aber völlig unbekannt ist, die mich also auch nicht beeinflußt.

Und der von Dir erwähnte Aspekt der Nachprüfbarkeit einer Interpretation fällt in jedem Fall weg bei einem Livekonzert, das nicht mitgeschnitten wird. Was das Mitschneiden eines Konzerts angeht, kann ich jetzt nur von mir und einigen guten Freunden, die ich sehr gut kenne, sagen, daß es für unsere interpretatorische Herangehensweise unerheblich ist, ob das Konzert mitgeschnitten wird oder nicht.

Zudem habe ich noch nie ein Tondokument als Referenz für die Nachwelt erstellt. Ich sehe einen Mitschnitt immer als die Momentaufnahme meiner Interpretationsleistung. Ich risiere deswegen nicht mehr oder weniger, ich unterziehe das Werk deswegen weder einem genaueren Studium noch mache ich mir weniger Mühe. Ich habe immer den Anspruch, dem Werk bei jeder Aufführung, bei jeder Probe best möglichst gerecht zu werden. Daß dies auf unterschiedlichem Niveau geschieht, ist selbstverständlich.
Tommy_Angel
Inventar
#47 erstellt: 16. Mai 2011, 22:13
ob jetzt die Zender Aufnahme Maßstäbe setzt weis ich nicht, man sollte da vielleicht doch auch Tabea Zimmermann nennen, die bekanntlich garnit singt

Ein Winterreise-Liebhaber, kein Kenner

(hab aber etwa 30 Aufnamen davon)
Szellfan
Hat sich gelöscht
#48 erstellt: 07. Jun 2011, 10:52
Hallo zusammen,
bedauerlich, daß ich erst so spät hier lesen und einsteigen kann, wo schon so viel gesagt wurde.

Zunächst mußte ich einmal in mich gehen: wie entsteht eigentlich in mir selbst die Vorstellung eines Werkes.
Bei mir persönlich zunächst durch das Hören sehr vieler, damit auch sehr unterschiedlicher Aufnahmen.
Und daraus ergab sich für mich unweigerlich die Beschäftigung mit der Literatur. Nicht nur Zweig oder Mörike, sondern viel mehr eben auch Quantz, CPE Bach, Leopold Mozart etc.

Um dann festzustellen, das diese alle doch sehr genaue und konkrete und verbindliche Angaben gemacht haben.

Um darüberhinaus, hörend, festzustellen, daß diese Interpretationstradition, um die ja hier auch gestritten wird, eine vergleichsweise junge Erscheinung ist.
Entstanden eigentlich erst nach 1945.

Man höre doch nur Nikisch, Weingartner, Mengelberg oder Richard Strauss insbesondere als Beethoven-Dirigenten und wird feststeellen, daß sowohl die Agogik als auch die Tempowahl allgemein deutlich näher an dem liegen, was die HIP- Bewegung erst wieder neuentdecken mußte.
Was meines Erachtens daran liegt, daß es in den Weltkriegsjahren eine Art Traditionsbruch gegeben haben muß, der vielleicht sogar nachzuvollziehen ist.
Interessanterweise also, als die Interpretationen "romantisierend" wurden, entwickelte sich gleichzeitig der Ausgangspunkt des HIP-Bewegung, sei es nun durch Kolisch oder Dolmetsch.
Da wir ja heute in der glücklichen Lage sind, das hörend nachvollziehen zu können, hat das mein Interesse zwangsläufig geweckt, in die Quellen zu sehen.

Was meinen Geschmack eindeutig beeinflußt hat, den Horizont erweitert und einen grundsätzlichen Punkt für mich als Ausgangspunkt entstehen ließ: nicht meine Vorstellung zählt zunächst, sondern die Vorstellung des Komponisten. Auch wenn hier, wie ja schon ausführlich angesprochen, manchmal nur Näherungswerte möglich sind.
Und Freiheiten erlaubt wie das Salz in der Suppe. Aber zuviel davon macht's ungenießbar.

Und zum Schluß nicht zu vergessen, daß ein Musiker ein Werk interpretiert, ich als Hörer aber diese Interpretation nochmals interpretiere.

Das soweit ein Rundumschlag, zu einzelnen Fragen werde ich mich hoffentlich demnächst konkreter äußern können.

Die Freude und den Spaß an der Musik hat mir alles Lesen nicht verdorben, sondern vielmehr deutlich gesteigert.
Herzliche Grüße, Mike
Martin2
Inventar
#49 erstellt: 08. Jun 2011, 01:59
Hallo Mike,

auch wenn vermutlich nicht sonderlich sachdienlich und hochemotional: Toll, daß Du hier wieder schreibst! Ich denke, ich schreibe hier für einige, wenn ich sage: Eigentlich hatten wir Dich schon in den Tiefen des Internets und den Tiefen des Lebens überhaupt verloren gegeben.

Ich freue mich, Du alter Halunke, Du bist wieder da, und teile mir mal Deine neue Telefonnummer mit, damit ich Dich wieder nerven kann

Gruß Martin
Schnuckiputz
Stammgast
#50 erstellt: 18. Jun 2011, 07:59
Wenn schon bei Orchesterwerken die Interpretation eine so bedeutende Rolle spielt, um wieviel mehr ist dies beim Musikdrama bzw, in der Oper der Fall?!

Da nützt eine gute Interpretation durch das Orchester nichts, wenn die Sänger oberflächlich bleiben. Die Sänger wiederum müssen die rein vokale Interpretation außerdem noch darstellerisch rüberbingen. Und schließlich müssen Regie und Bühnenbild das alles zu einem Gesamtkunstwerk verbinden.

Gerade bei Mozart kann das schwierig werden. Das sei am Beispiel von "Cosi fan tutte" gezeigt. Musikalisch dürfte Karl Böhms alte Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern als "Referenz" gelten können, auch das Sängerensemble ist über jeden Zweifel erhaben. Die Inszenierung kommt aber etwas kitschig daher, trotzdem ein Genuß:

Così fan tutte: "Soave sia il vento"

http://www.youtube.com/watch?v=YHwwbtD1eXM


Hier eine minimalistische Inszenierung aus Salzburg, musikalisch sehr gut, auch sängerisch, doch die Aufmachung der Darsteller ist m.E. total daneben:

http://www.youtube.com/watch?v=21ZsycWKqyo&feature=related

Doch es gibt auch immer wieder Momente, wo die Zeit stillzustehen scheint und sich etwas Unwiederholbares ereignet, wo alle Interpreten über sich hinauswachsen und eine stimmige Inszenierung etwas Authentisches vermittelt. Das gelang z.B. in jener legendären Freiluft-Aufführung der Norma im Thèatre Antique d'Orange (Südfrankreich) am 20.07.1974. July 20th, 1974.

Die Geschichte der Druidenpriesterin Norma, die vom inneren Widerstreit ihrer Gefühle fast zerrissen wird, wurde hier in einzigartiger Weise musikalisch erzählt, weder das Orchester, noch die Interpreten leisten sich Schwächen. Die hier noch über ihr ganzes Stimmpotential verfügende Montserrat Caballe wird zu Norma, sie ist Norma. Da stimmt jede Geste, dazu eine unglaubliche Atemtechnik und Gesangskunst auf höchstem Niveau.

Der zeitweise starke Mistralwind stellte die Sänger und Tontechniker vor einige Herausforderungen, verlieh dem Geschehen aber zugleich eine fast schon gespenstische Authentizität. Vielen gilt diese Norma als die beste Aufführung aller Zeiten.

Die erste hier ausgewählte Szene ist die berühmte Arie "Casta Diva". Die zweite Szene ist die ergreifende Schlußszene. Da mag man streiten, ob es keine bessere Lösung gegeben hätte, als zum Schluß optisch alles im Blutrot ersaufen zu lassen.

http://www.youtube.com/watch?v=FIQQv39dcNE

http://www.youtube.c...t=PL17F3961FFA3709FE
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