Timing bei klassischen Werken

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Gantz_Graf
Hat sich gelöscht
#1 erstellt: 02. Mai 2005, 15:17
Hallo,

ich habe eine wahrscheinlich Laienhafte Frage: Haben die Dirigenten keine Vorgaben an das Timing des Werkes?

Beispiel: Ich war an die 7. Symphonie Beethovens aus der Karajan Gold-Edition gewöhnt. Nun hörte ich mir Satz 2, das Allegretto, aus der Interpretation der Dresdner Philharmonie/Kegel an. Wesentlich langsamer! Für meine Ohren unerträglich langsam, aber das ist ja eine Sache der Gewohnheit.

Besonders krass ist der Unterschied im 4. Satz: Karajan braucht 6:46, Kegel 9:12.

Gibt es denn keine Zeitvorgaben durch den Komponisten?
Norbert2
Ist häufiger hier
#2 erstellt: 02. Mai 2005, 16:49
Gerade Beethoven hat präzise Zeitvorgaben durch Metronomangaben in die Partitur geschrieben. Bei den meisten Komponisten findet man allerdings keine präzisen Zeitangaben, sondern nur Tempobezeichnungen.

Die Metronomangaben Beethovens beinhalten allerdings Tempi, die noch schneller sind als die Karajans (besonders in langsamen Sätzen) und lange Zeit als "unspielbar" galten.

Andererseits, wenn alle Dirigenten ein Werk in der gleichen Zeit spielen sollten, dann haben sie wenig Spielraum zur eigenen Interpretation. Das ist auch der Hauptgrund, weswegen Beethovens Metronomangaben erst in den letzten beiden Jahrzehnten verstärkte Beachtung finden.

Wenn Kegel im letzten Satz eine längere Spielzeit als Karajan hat, kann es auch daran liegen, daß Kegel sämtliche Wiederholungen spielt. 6:46 klingt danach, als ob nicht alle Wiederholungen gespielt werden.
Gantz_Graf
Hat sich gelöscht
#3 erstellt: 02. Mai 2005, 20:32
Mit den Wiederholungen müsste ich überprüfen. Ich glaube aber nicht daran: Im Allegretto, Satz 2, gibt es definitiv keine Unterschiede in den Wiederholungen. Aber der zeitliche Unterschied ist da: 8:01/9:25

Und BTW: Du schriebst, stark eingehaltene Metronomangaben liessen wenig Raum für eigene Interpretationen. Soll der Spielraum denn da sein? Für mich ist der Komponist der geistige Autor des ganzen, da erwarte ich von Dirigent und Orchester nur noch korrekte Umsetzung. Oder liege ich da jetzt komplett falsch? Wenn sie sich selbstverwirklichen wollen, sollen sie sich doch selbst ein Stück einfallen lassen!

Bitte fühle sich niemand auf den Schlips getreten. Ich gebe meine Meinung als jemand wieder, der einfach nur die Musik liebt und sonst nicht weiter in der Materie steckt.


[Beitrag von Gantz_Graf am 02. Mai 2005, 20:38 bearbeitet]
hemmi
Ist häufiger hier
#4 erstellt: 02. Mai 2005, 22:54
Hallo Gantz_Graf, liebe anderen Forianer,
ich bin wie Du jemand, der die Musik liebt und ich glaube, das tun die meisten hier.
Was Norbert2 schreibt ist richtig. Nach dem was wir heute wissen oder zu wissen glauben, sind die Vorgaben von Beethoven wirklich auch heute noch kaum zu realisieren. Es ist auch wahrscheinlich, das er dies so gewollt hat. Ob er sich über die praktischen Konsequenzen im Klaren war, weiß ich nicht.
Wenn Du dies so idealistisch siehst, ist das so in Ordnung, trotzdem bedenke, dass auch eine langsame Interpretation "Sinn" machen kann. Ich verweise auf den hier im Forum sehr beliebten Dirigenten Otto Klemperer. Ich selbst habe einmal live eine sehr langsame Wiedergabe von Beethoven 6. Giulini/Concertgebow Amsterdam gehört. Und er ließ die Wiederholung der Exposition 1. Satz mitspielen. Aber je länger die Symphonie dauerte, desto schlüssiger war die Wiedergabe. Es war zum Schluß wundervoll... Außerdem muß ich wirklich auch Norbert2 in soweit recht geben, dass sonst die Vielfalt verloren geht. Ausserdem laufen sich diese schnellen Wiedergaben in meinen Ohren sehr schnell tot. Und - kannst Du ohne Verlust so schnell hören? Und glaube mir, der ich auch ein wenig Praxis habe: Der Musiker, aber auch die Musik wollen atmen (können).
Noch ein Gedanke: Bei Norbert2 klingt noch eine Frage an, die mir auch sehr wichtig ist. Die der Wiederholungen. Es ist richtig: Karaschmalz läßt nach meiner Erinnerung nur in der 1., 2. und 8. die Wiederholungen mitspielen. Aber gláube bitte nicht, dass Dirigenten, die die "Originalen" Tempi spielen lassen, auch alle Wiederholungen spielen lassen. Mit Nichten und mit Neffen. Da sind die Herren auf einmal dann sehr inkonsequent. Ich kenne bisher keinen Dirigenten, der mir das bei allen Symphonien geboten hätte (für anders lautende Hinweise bin ich dankbar.) Ich war, ehrlich gesagt, bekloppt genug, sämtliche von mir erworbene Aufnahmen darauf hin abzuklopfen.
Übrigens: für mich ein guter Kompromiss bei Beethoven ist Wand/NDR. Erlässt, mit Ausnahme von der 9. (Scherzo) alle Wiederholungen mitspielen. Und die Tempi sind zumindestens Annäherungswerte an die von Beethoven geforderten Tempi. Bei der Neunten bringe ich es auf 3 (i.W.: drei) Klemperer und sicher nicht nur, weil er im Scherzo alle Wiederholungen musizieren läßt... Ich bin da Überzeugungstäter

Liebe Grüße
hemmi
vanrolf
Inventar
#5 erstellt: 03. Mai 2005, 01:11
Gantz_Graf schrieb:

Soll der Spielraum denn da sein? Für mich ist der Komponist der geistige Autor des ganzen, da erwarte ich von Dirigent und Orchester nur noch korrekte Umsetzung. Oder liege ich da jetzt komplett falsch? Wenn sie sich selbstverwirklichen wollen, sollen sie sich doch selbst ein Stück einfallen lassen!


Hallo Gantz_Graf,
herzlich willkommen im Forum!

Meine Fragen dabei sind: was ist eine korrekte Umsetzung und was ist, wenn ein Werk verschiedene Facetten hat, die sich in einer einzigen Ausführung nicht unterbringen lassen?
In ähnlicher Form wurde das schon hier im Forum diskutiert, zum Beispiel im Zusammenhang mit Komponisten, die ihre eigenen Werke dirigieren (die müßten es ja demnach nun wirklich genau wissen) und dabei oft klägliche Resultate erzielten (Bruckner z.B. war bekannt dafür).

Deine Ansicht würde auch bedeuten, daß es streng genommen nur noch eine einzige, korrekt umgesetzte Interpretation gäbe (die ja dann auch keine solche mehr wäre), die von allen Orchestern und Dirigenten auf ewig quasi maschinell reproduziert werden könnte und müßte, was ich für unmöglich (und vor allem langweilig) halte.

Es hieße ebenfalls, daß diese "korrekte Umsetzung" bereits zu Lebzeiten des Komponisten von diesem so und nicht anders (vor dem Hintergrund seiner Zeit und seines Erkenntnisstandes) festgelegt worden wäre und für eine spätere Zeit, wenn sich die allgemeinen, gesellschaftlichen Vorstellungen gewandelt hätten, keine Bedeutung mehr hätte. Was dann? Das "eingespielte" Prinzip, eine Komposition von Dirigenten und anderen Künstlern interpretieren zu lassen, erlaubt eine Entwicklung des Werkes und die Ansicht seiner verschiebenen Aspekte, damit letztlich seine Zukunftsperspektive.

Mit Werkverfälschung hat das nichts zu tun, die Interpreten komponieren ja nichts dazu, sie legen die schriftlichen Angaben des Komponisten nur unterschiedlich nach ihrem persönlichen Empfinden aus. Und das ist einem Beethoven mit Sicherheit auch bewußt gewesen.
Es gibt (z.B. gerade bei Beethoven) genügend Werke, die sich mit zeitlosen Menschheitsthemen befassen, und die daher von jeder Generation neu entdeckt werden können, nur bedarf es dann eben auch einer zeitgemäßen Interpretationssprache.

Ich vergleiche das ein bißchen mit dem Malen: Wenn Du einem Malkurs von 20 Personen einen Gegenstand hinlegst und sie damit beauftragst, diesen naturgetreu darzustellen, dann wirst Du 20 verschiedene Resultate bekommen, schon allein, weil jeder den Gegenstand von einem anderen Platz aus sieht. Selbst wenn Du einen festgelegten Text von zwanzig Personen vortragen lässt, wirst Du ebensoviele unterschiedliche Vorträge erhalten. Interessant und spannend ist, daß irgendwann doch einmal eine Interpretation dabei ist, von der sich sehr viele ganz besonders angesprochen fühlen und die trotzdem im Einklang mit der ursprünglichen Komposition steht. Genauso "sehen" die unterschiedlichen Dirigenten die Kompositionen von verschiedenen Standpunkten aus, z.B. weil sie in unterschiedlichen Zeiten aufgewachsen oder auf unterschiedlichen Instrumenten ausgebildet worden sind.

Ich bestreite dabei nicht, daß es unter den Interpreten auch Selbstdarsteller gab und gibt, die in Wirklichkeit noch andere Motivationen umtreiben.

Gruß Rolf
op111
Moderator
#6 erstellt: 03. Mai 2005, 10:07

Gantz_Graf schrieb:
... Metronomangaben liessen wenig Raum für eigene Interpretationen. Soll der Spielraum denn da sein? Für mich ist der Komponist der geistige Autor des ganzen, da erwarte ich von Dirigent und Orchester nur noch korrekte Umsetzung. Oder liege ich da jetzt komplett falsch?


Hallo Gantz_Graf,
daß ein (z.T. weites) Toleranzfeld in den Tempi besteht, lehrt die Geschichte der Komponisten die Aufführungen ihrer eigenen Werke beurteilt haben und auch krass abweichende für gut befunden haben.
Genaue Aufführungs-Zeiten notiert hat z.B. Bela Bartok (und sich selbst nicht dran gehalten).

Gegenfrage:
Kann es exakte Reproduktion überhaupt geben, gibt das Notenbild dazu wirklich alle Informationen?

Mach doch ein Experiment: Lass mal die exakten Notenwerte im korrekten Tempo von einem Sythesizer spielen?
Ist das Ergebnis zufrieden stellend?

Gruß
Franz

PS: Hast du selbst mal versucht ein Musikwerk notengetreu aufzuführen?
antiphysis
Stammgast
#7 erstellt: 04. Mai 2005, 21:16
Ich halte das «timing" für ein gravierendes Problem im Verhältnis Interpretation - Notation. Die meisten Vortragsangaben sind rein qualitative Begriffe, die Notenwerte geben nur Verhältnisse zu benachbarten Notenwerten wieder.
Eine gewisse Annäherung an die Vorstellungen dessen, was gemeint sein mag, ist nur über historisch-kritische Interpretation möglich.
Allerdings kann das nicht als alleiniger Maßstab gelten.
Es gibt und gab so viele überzeugende individuelle Interpretationsansätze, dass sich dies einfach ausschließt. Von den wenigsten Komponisten ist wohl eine einzige Lösung erwünscht. Andernfalls gäbe es längst ein «besseres» Notationssystem - das gegenwärtige hat sich als erstaunlich robust erwiesen (wenn auch immer wieder Grenzen erreicht werden).
Insofern: ein gutes musikalisches Timing ist für mich innerhalb einer Interpretation dann gegeben, wenn das Timing in sich schlüssig erscheint.
Allerdings ist das «timing" nur ein Teil einer Interpretation.

Grüße
Martin2
Inventar
#8 erstellt: 09. Mai 2005, 23:27
Zum Thema Timing fällt mir eine Geschichte ein ( ich glaube, ich habe die auch schon mal hier erzählt, ich habe schon soviel hier geschrieben). Der große Richard Wagner war mal auf der Insel. Da dirigierte dann ein englischer Komponist ( fragt mich jetzt bitte nicht mehr welcher) seine eigene Sinfonie. Am Ende der Sinfonie geht der berühmte Wagner auf den schüchternen englischen Komponisten zu und sagt: " Mein Gott, was hetzen sie denn so durch ihre Sinfonie durch? Also so schlecht ist die gar nicht. Die dürfen sie ruhig etwas langsamer spielen." Wiegesagt, nur so eine Story ( vielleicht ging sie auch etwas anders, habe sie vor langer Zeit gelesen).

Jedenfalls hatte der gute Richard Wagner so ein glorreiches Selbstbewußtsein, daß er sich nicht scheute, selbst die Interpetation eines Komponisten anzugreifen, wenn dieser sein eigenes Werk interpretierte und ihm dies sogar ins Gesicht zu sagen.

Jedenfalls bin ich, in Bezug auf das richtige Tempo überhaupt nicht bereit, irgendwelche Glaubenskriege zu führen. Nur manchmal habe ich dann allerdings das Gefühl, daß ein Tempo wirklich falsch ist, nämlich wenn es regelrecht sinnentstellend wirkt. Aber selbst das muß jeder selber wissen. Ansonsten habe ich auf die Frage, was das richtige Tempo ist, eine ganz einfache Antwort: Das was mir gefällt! Und ich glaube da gar nicht, daß "Selbstdarstellung" bei der Interpretationen eine so große Rolle spielt, sondern daß Dirigenten im allgemeinen schon Werke so interpretieren ( einschließlich des Tempos), wie sie sie selber gerne hören möchten. Und wenn der Interpret und ich sich in Harmonie befinden, bin ich beglückt. Wen interessiert schon der Komponist?

Das ist natürlich jetzt provozierend gesagt, und soll auch ein bißchen provozieren. Nur warum soll ich mir eine Interpretation anhören, die mir nicht behagt, nur weil ich der Meinung sei, sie sei die richtige? Und warum soll ich die Interpretation in den Müll schmeißen, die mir gefällt, nur weil mir jemand sagt, sie sei die falsche? Das ist doch aberwitzig. Ich höre Musik nur zu meinem Vergnügen, und verfolge keine weitergehenden politischen, sozialen oder kulturellen Absichten damit, also brauche ich mich auch nicht in irgendeiner Weise zu anderen Ansichten missionieren zu lassen.

Ansonsten unterstütze ich die hier geäußerten Ansichten über die "Interpretationsbreite". Die gibt es auf jeden Fall, gerade beim Timing.

Gruß Martin
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