David Zinman und das Tonhalle-Orchester Zürich

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STR
Ist häufiger hier
#1 erstellt: 20. Jun 2009, 16:21
Hallo zusammen

Als Zürcher interessiert es mich natürlich, wie man im Ausland über unser Orchester denkt. Seit Zinman Chefdirigent ist, wurde unheimlich viel aufgenommen: Schumann Sinfonien, Strauss Orchesterwerke, Beethoven Orchesterwerke und seit neuestem die Mahler Sinfonien. Zudem tourt das Orchester fleissig und ist immer auch wieder in Deutschland zu hören.

Hatte jemand schon mal das Vergnügen das Orchester auf einer Tournee zu hören? Wie sieht es mit den Aunfahmen aus? Gelungen oder Müll oder schlichtweg überflüssig? In welcher Liga spielt das Orchester euer Meinung nach?

Ich freue mich schon auf die Diskussion ;).

Gruss Marc
Martin2
Inventar
#2 erstellt: 20. Jun 2009, 18:12
Hallo Marc,

ich kenne das Tonhalle Orchester Zürich nur über die Einspielungen der Beethovensinfonien mit Zinman. Die haben mir teilweise nicht so gut gefallen, was aber wohl an dem Zinman lag. Am liebsten dann die 3., weil diese Sinfonie für meinen Geschmack gerne etwas zügiger gespielt werden darf.

Vom Tonhalle Orchester Zürich hatte ich einen guten Eindruck, absolut bewundernswert, für sich genommen großartig, wenn man dann nicht doch andere Aufnahmen gehört hätte, Beethoven mit Szell, Strauss mit Reiner, Szell und Ormandy, Ravel mit Munch. Diese "Zirkusleistung an Präzision" diese "absolute Makellosigkeit", die verblüfft und auch, wenn sie noch kein ästhetisches Kritierium ist, doch gegenüber der Orchesterleistung einfach in die Knie zwingt, die teilweise amerikanische Spitzenorchester der 60 er hatten, die Londoner Sinfoniker oder die Berliner Philharmoniker und vielleicht auch nur zu gewissen Zeiten, die habe ich beim Tonhalle Orchester Zürich aber nicht so heraus hören können, wobei das nicht viel sagt, auch die Staatskapelle Dresden spielt nicht zirkusreif, wird aber von mir durchaus geschätzt, zum Beispiel beim Beethoven.

Gruß Martin
Hüb'
Moderator
#3 erstellt: 21. Jun 2009, 15:34
Hi,

ich kenne leider nur ein paar der Aufnahmen.

Der Beethoven-Zyklus ist IMHO beachtlich und kann demjenigen, der vor allem romantisierende Deutungen im Ohr hat, neue Sichtweisen eröffnen, ohne das gleich ein "Zwang" zum HIP-Instrumentarium besteht.

Die Strauss-Einspielungen wurden von der Presse ebenfalls sehr positiv aufgenommen, ich kenne sie aber leider nicht.

Der Schumann wurde mittelprächtig besprochen. Der neue, nun für RCA entstehende Mahler-Zyklus hat ebenfalls (sehr) gute Kritiken bekommen, in denen aber zwischen den Zeilen meiner Meinung nach ein "Hauch von Verzichtbarkeit" mitschwingt.
Wahrscheinlich bleibt die Vervollständigung abzuwarten, bevor ein vernünftiges Urteil möglich ist.

Aufgrund der Aufnahmeaktivitäten würde ich die Züricher schon als eines der besten Schweizer Orchester ansehen. Nicht zu vergessen sind aber auch das Orchestre de la Suisse Romande, das Sinfonieorchester Basel sowie das Berner Symphonieorchester (beide u. a. auf CPO mit relativ wenig beachtetem Nischenrepertoire befasst).

Grüße
Frank
Joachim49
Inventar
#4 erstellt: 21. Jun 2009, 22:45
Ich habe Zinmans Beethoven ein paar mal blind verkostet, d.h. ich habe das Radio eingeschaltet und ohne zu wissen wer spielt eine Beethovensinfonie gehört, die mich sofort gefesselt hat. Das ist mir so 2 bis 3 mal mit ZinmanZürich passiert und natürlich habe ich den Zyklus gekauft (und nie bereut; bei den damaligen arte nova Preisen ohnenhin nicht. Von den Mahleraufnahmen habe ich die 4. gehört, die mir auch sehr gut gefallen hat. Ansonsten kenne ich Zinman von früheren Aufnahmen: hilary Hahn hat ja ihre ersten Aufnahmen mit ihm gemacht und Helene Grimaud hat auch für erato mit ihm aufgenommen. Ich habe den Eindruck, dass es für Zürich eine gute Sache ist, dass Zinman da ist ... und auch ein bisschen bleibt.
Joachim
AladdinWunderlampe
Stammgast
#5 erstellt: 22. Jun 2009, 04:39
Mit Zinmans Beethoven-Zyklus geht es mir wie Joachim - immer wieder sind mir hier einzelne Sinfonien "blind" im Radio begegnet, und immer war ich davon sehr angetan. (Da meine erste Beethoven-Schallplatte in den späten 1980er Jahren Norringtons Einspielung der Eroica gewesen ist und ich in den folgenden Jahrzehnten gewissermaßen mit den Beethoven-Zyklen von Harnoncourt, Gardiner und - neuerdings - Järvi aufgewachsen bin, haben mich auch die - übrigens unter anderem schon bei Leibowitz anzutreffenden - zügigen Tempi Zinmans nicht erschreckt.)

Besser kennengelernt habe ich das Tonhalle-Orchester und Zinman als Dirigenten allerdings erst mit dem Mahler-Zyklus, von dem ich alle bisher erschienen SACD besitze (am Freitag ist die gerade veröffentlichte 7. Sinfonie per Post bei mir eingetroffen) - und schätze. Das Tonhalle-Orchester scheint sich - wenn ich diesen Einspielungen trauen darf - unter Zinmans Leitung zu einem erstaunlich homogenen und klangschönen Ensemble mit wunderbaren Solisten entwickelt zu haben - man höre nur das Posaunensolo im Kopfsatz der 3. Sinfonie oder die fein abgetönten Holzbläser im 2. Satz der 7. Sinfonie. Das Ganze scheint mir auch aufnahmetechnisch hervorragend eingefangen zu sein, wozu sicher auch die besondere Akustik der Tonhalle, in der die Instrumentengruppen zu einem warmen, runden Klang verschmelzen, ohne dass ein undurchsichtiger Klangbrei entstünde, einen Beitrag leistet. (Aber das wird Marc vor Ort sicher besser beurteilen können.)

Anders als Frank habe ich in der deutschen Musikkritik (die ich allerdings nicht besonders intensiv verfolge) bisher meist eher mittelprächtige Beurteilungen dieses Mahler-Zyklus gelesen. Vielleicht liegt die reservierte Einschätzung (und der damit verbundene "Hauch von Verzichtbarkeit, den Frank bemerkte) an einem Aspekt von Zinmans interpretatorischen Ansatz, den ich gerade als besonders positiv auffasse: dass Zinman nämlich auf eine betont "spektakuläre" Inszenierung dieser Musik verzichtet, wie man sie möglicherweise heutzutage aufbieten muss, um am Musikmarkt unter den vielfältigen konkurrierenden Mahler-Einspielungen überhaupt bemerkt zu werden und so der eigenen Interpretation ein verkaufsförderndes (oder zumindest diskussionsanregendes) Markenzeichen aufzudrücken.

Weder ergießt sich die Musik bei Zinman in hemmungslosem Sentiment, noch setzt der Dirigent an allen Ecken grelle Akzente, um die Gebrochenheiten von Mahlers musikalischer Sprache ständig in den Fokus zu rücken. Vielmehr scheint er in meinen Ohren darauf zu vertrauen, dass diese Musik all ihre Emotionalität, ihre Ambivalenz, ihre Ironie gleichsam aus sich heraus hervorbringt, wenn sie nur sorgfältig ausgeführt wird. Und genau das tun Zinman und die Tonhalle-Musiker.

Ich habe den Eindruck, dass man Zinmans Zugang um so mehr zu schätzen lernt, je mehr man in seine Aufnahmen hineinhört; denn es ist (meistens) alles da: eine überaus sorgfältige Artikulation jedes Instrumentalparts, Transparenz des kontrapunktischen Gewebes, eine fein abgestufte Dynamik, eine sehr überzeugende Tempo-Dramaturgie und ein sicheres Gespür für die formalen Spannungsbögen dieser Musik. Alles ist da, ohne sich aber aufzudrängen oder künstlich in den Vordergrund zu spielen. (Einzig die Mahlersche Ironie vermisse ich hier und da - zum Beispiel im 3. Satz der 1. Sinfonie.) Zinmans Interpretation ist sachgerecht, ohne nüchtern zu sein, und ich denke, dass sich das als eine dauerhafte Qualität dieses Ansatzes erweisen könnte.

Natürlich gelingt Zinman nicht immer alles gleich gut - aber in welchem Mahler-Zyklus gelingt immer alles gleich gut? Jedenfalls habe ich durch diese Aufnahmen einen großen Respekt vor dem Tonhalle-Orchester gewonnen. Und ich persönlich würde mir wünschen, dass dieses Ensemble seine besonderen Qualitäten in Zukunft vielleicht auch einmal an Einspielungen zeitgenössischer Musik demonstrieren würde. (Ob Zinman daran Interesse hat, weiß ich allerdings nicht.) Von Klaus Huber über Heinz Holliger bis zu Beat Furrer gäbe es immerhin auch einiges an eidgenössischer Neuer Musik zu entdecken...



Herzliche Grüße
Aladdin
AladdinWunderlampe
Stammgast
#6 erstellt: 23. Jun 2009, 13:51
Nachdem ich gestern das Loblied auf Zinmans Mahler-Zyklus mit dem Tonhalle-Orchester gesungen habe, möchte ich heute vorsichtshalber ergänzen, dass mir die gerade erschienene Einspielung der 7. Sinfonie zumindest nach einmaligem Komplett-Abhören nicht die gelungenste Aufnahme des Zyklus zu sein scheint. Zwar sind die eher kammermusikalischen Mittelsätze - auch das gespenstische Scherzo - wiederum bemerkenswert differenziert und klangschön gespielt, aber die komplexe Polyphonie der beiden Außensätze scheint mir aufgrund eines recht diffusen Klangbildes allzu sehr zu verschwimmen und insgesamt hätte mir ein bißchen mehr Mut zur Doppelbödigkeit und Ironie vor allem im problematischen Finale besser gefallen.

Mit herzlichen Grüßen
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 23. Jun 2009, 13:52 bearbeitet]
Hüb'
Moderator
#7 erstellt: 23. Jun 2009, 13:58
Hi,

hier mal ein paar Besprechungen unter Klassik.com:

Nr. 1
Nr. 2
Nr. 3
Nr. 5
Nr. 6

Grüße
Frank
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