Boris Yoffe

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R_Oblomov
Neuling
#1 erstellt: 19. Dez 2011, 11:48
http://www.klassikak...-bei-ecm-new-series/

Das Lied der Lieder - so heißt die neue CD des Komponisten Boris Yoffe. Ich kann die darauf eingespielte Musik weder ein Werk noch ein Opus nennen, da die auf der CD präsentierte musikalische Form eher dem näher kommt, was man aus dem literarischen Bereich kennt: einer Poesie-Sammlung, einem Gedichtband.
Ein Dichter dichtet nicht, um ein Buch zu verfassen, es sind die einzelnen Gedichte in ihrer bestimmten Reihenfolge, die zusammen ein Buch formen. Diese CD gleicht solch einem Buch.

Was auf der CD erklingt, ist eigentlich das Quartett-Buch: Boris Yoffe schreibt schon seit 15 Jahren Quartett-Stücke, jedes ist bloß eine Seite lang, und zwar nicht einem bestimmten Konzept, sondern einem intuitiven Bedürfnis folgend. Eigentlich hat das Quartettbuch kein Ende, es hört irgendwann auf, wenn das letzte Quartett eingetragen ist. Es kann aber nicht das Ende bedeuten: Das Quartettbuch ist kein festes Format, es ist nicht mit dem Buchdruck oder Schrifttum verbunden. Die Schrift ist nur insofern erforderlich, weil der Mensch sich nicht alles merken kann. Vielleicht wird das Quartettbuch einmal als eine vielbändige Sammlung herausgegeben, - dann wird auch ein entsprechendes Format ins Leben gerufen; vielleicht wird es dank neuer Medien-Möglichkeiten überflüssig sein. Um bis dahin Kontakt mit der Umwelt aufzunehmen, muss man beim Alten bleiben und die Stücke in einem Buch sammeln. Ergibt sich eine Möglichkeit, erscheint ab und zu eine CD. (Die erste CD, die ganz den Quartetten gewidmet ist, erschien in Israel 1994. 2004 wurde die CD mit dem Titel "32 Gedichte aus dem Quartettbuch" mit der Mitwirkung von Patricia Kopatchinskaja aufgenommen und herausgegeben. Auf der Kammermusik-CD "Musical Semantics" aus dem Jahr 2008 gibt es sieben Gedichte aus dem Quartettbuch).

Die neue CD unterscheidet sich aber von den Vorherigen, da der Komponist hier selbst die Sammlung der einzelnen Stücke zu einem einheitlichen Ganzen bearbeitet hat. Jetzt ist es schon fast eine große Form, ein Opus und doch ist es etwas Anderes.
Seit dem 19 Jahrhundert impliziert der Begriff Opus, abgesehen von wenigen Ausnahmen, etwas Einzelnes, das in einer konkreten Form, einem Konzept folgend, planmäßig komponiert wurde. Diese CD lässt sich aber nicht als ein Vokalzyklus, eine Kantate, ein Oratorium, eine Suite oder eine Sinfonie benennen. Die Gattung hier kann man nur als ein Gedicht bezeichnen. Alles, was die Stücke formal miteinander verknüpft, ist der Text und die Zusammensetzung. Der Hauptstoff hat sich unabhängig von der Form entwickelt, die er letztendlich auf der CD bekam. Es ist einfach etwas geschehen, was einem Wunder ähnelt: der Komponist hat in seinem "Quartettbuch" etwas gefunden, was Salomons Hohelied sehr ähnlich ist. Es blieb nur noch die Gesangszeilen zu schreiben, oder einfach das vorliegende Material zu beschriften. Dabei ist die Verbindung des Textes mit der Musik, die Einigkeit des Wortes und der Melodie, die Verknüpfung des Sinnes mit der Struktur erstaunlich organisch und überzeugend.

Auf der CD sind zwei Parallelen zu erkennen: das vokale und das instrumentale Quartett. Die Hauptlinie ist das instrumentale Quartett, das die Musik des Quartettbuches darstellt. Das Gesungene entwickelt sich jedoch aus dem Instrumentalen und ist so mit dem Verbalen versehen, dass wir dadurch besser das Wesen des Quartettbuches verstehen und klarer nachvollziehen können, womit sich der Komponist identifiziert.

Nadeschda Mandelstamm, die Witwe des großen russischen Dichters Ossip Mandelstamm, hat in ihren Erinnerungen geschrieben, dass für den Dichter (in erster Linie hat sie Mandelstamm selbst gemeint) ein veröffentlichtes Buch so etwas ist wie eine Entwicklungsstufe, ein biographisches Ereignis, das seinem Leben eine zyklische Form spendet, aber in sich auch Zyklen beinhaltet. Das selbe muss unter anderem über diese CD Boris Yoffes gesagt werden: hier gibt es auch einige innere Zyklen unterschiedlicher Ordnung. Die erste Ordnung beinhaltet Zyklen, die mit dem Wort zusammenhängen, die zweite und die wichtigste jedoch besteht aus Quartettzyklen. Es gibt Stücke, die verschiedene Gemeinsamkeiten aufweisen, sei es durch bestimmte harmonische und auch melodische Bewegungen, oder sei es durch die Intonation oder Textur. Solche Quartetten gruppieren sich und formen die Mikrozyklen. Im ganzen Quartettbuch, das Tausende musikalische Gedichte umfasst, gibt es Hunderte solcher Zyklen. Gewöhnlich befinden sich diese Zyklen in der Sphäre einer gemeinsamen Idee, einer gemeinsamen Erscheinung, einer Empfindung, als ob wir einen Gegenstand zur Betrachtung nehmen würden, um ihn aus verschiedenen Perspektiven und unter verschiedenen Beleuchtungen zu beobachten.

...Wenn man von Gedichten spricht, ist es unmöglich nichts über die Dichter zu sagen. Ich glaube, dass man in der Musik schon fast seit zwei Jahrhunderten zwei wesentliche Pole beobachten kann - die Architektur und die Poesie. Anders gesagt, es gibt die Möglichkeit in einem Komponisten einen "Architekten" oder einen "Poeten" zu sehen. Wenn ich über "Architekten" rede, so meine ich natürlich nicht das eigentliche Verhältnis zum musikalischen Aufbau, denn in diesem Sinne sind alle mehr oder weniger Architekten, sondern spreche von der sozialen Rolle des Schaffens. Der "Architekt" soll in erster Linie eine Vorstellung von dem Raum haben, in dem er schaffen will. Er hat zu bedenken, wie, wo und für welche Ziele er sein Bauwerk einrichten will. Es wäre falsch zu behaupten, dass ein solcher Komponistentypus erst im 19. Jahrhundert aufgetaucht ist. Aber gerade im 19. Jahrhundert oder gar früher begann die rasante Entwicklung der Konzertveranstaltungen in großen Sälen für ein breites Publikum. Davor gab es so etwas nur in der Oper. Gerade die Opernkunst hatte einen hervorragenden Architekten, Richard Wagner, hervorgebracht. Im Gegensatz zu den anderen Architekten hatte er seine Bauwerke nicht einfach irgendwo hingesetzt, sondern ganze Städte erbaut: sein Rom, sein Venedig. Brahms, ebenso ein Architekt, der Wagners Antagonist war, hat keine eigene Städte erbaut. Gewöhnlich errichtete er die bedeutenden Säulengebäude, oder die gemütlichen Häuser irgendwo in Baden-Baden. In einem Architekten konnte auch ein Poet erwachen, dann geschah das Allerschönste. Es gibt nicht viele Poeten reiner Natur. Besonders Gute gibt es heutzutage immer weniger, denn viele denken nur, sie seien Poeten, aber in Wirklichkeit bauen sie nur Ferienhäuser. ...Ein Poet macht sich keine Gedanken über den Raum, in dem er sich niederlassen will; sein Schaffen findet selbst seinen Platz. Zum Poeten muss man kommen, er selbst richtet sich nach niemandem. Um den Poeten zu entdecken, muss man die Poesie lieben, und zwar wirklich. Mit den Komponisten poetischer Beschaffenheit ist es dasselbe.
Es gibt nur wenige von ihnen, man weiß von ihnen nur wenig, sie drängen sich nicht auf. Erst später werden sie für Genies erklärt, das träge Publikum übernimmt diese Meinung, und ihre Werke werden in der Schule unterrichtet.

Die Musik Boris Yoffes ist ein kostbares uns seltenes Phänomen. Das Erscheinen eines "poetischen Komponisten" ist an sich eine Seltenheit. Die Kostbarkeit der Musik Yoffes besteht darin, dass ihre Schönheit geheimnisvoll ist, und jedes Mal kann der Zuhörer etwas Neues an ihr entdecken: eine neue Fläche, einen neuen Lichtfleck. Diese Musik schenkt neue Erfahrungen, die sich sowohl als etwas Bekanntes und Nahes erweisen, als auch verblüffen, erschüttern, zu einem Wunder werden können, ähnlich den Buchstaben, die plötzlich an der Wand auf Belshazars Fest erschienen sind: erinnern wir uns an das Gemälde Rembrandts. Auf der vorliegenden Aufnahme ist dieses Hell-Dunkel besonders gut hörbar: manchmal ist sogar die Dunkelheit Licht. Die Verbindung zu Rembrandt besteht nicht nur durch das Lichtspiel, sondern durch die Ästhetik allgemein. Man erinnert sich an das Spätwerk des großen holländischen Malers, der im jüdischen Viertel wohnte. Wie er von der jüdischen Ästhetik durchdrungen war! Wie sie sich in ihm mit der europäischen Malerei verband! Während des Hörens der CD Boris Yoffes, kann man sich gut vorstellen, dass eine ähnliche Musik im Tempel von Jerusalem erklang, oder David das Gleiche gesungen hat. Und dabei besteht auch die klare Verbindung zur europäischen Musik der alten Meister. So ein Werk ist tatsächlich ein Schnittpunkt zwischen Europa und dem Orient. In dieser Musik hört man eine alte europäische Straße, auf deren einer Seite eine gotische Kirche steht, und auf der anderen ein jüdisches Viertel anfängt. In welcher Musik gibt es noch so etwas?

Eigentlich wurde der Komponist (1968) in Russland, und zwar im sowjetischen Russland geboren. Boris Yoffe kommt ursprünglich aus Sankt-Petersburg. Dort wuchs er auf, bis er 1990 zusammen mit seiner Familie nach Israel emigrierte. Die russische Kultur spiegelt sich natürlich in ihm wider. Er spricht russisch, was die Musik, die Intonation beeinflusst. Auch die russische Literatur und Poesie spielen eine Rolle. Die Verbindung zwischen Yoffes Musik und Mandelstamms Poesie, dessen Strophen durch den Komponisten vertont wurden, lässt sich leicht wahrnehmen. Oder auch Andrej Platonov, dessen Schaffen Yoffe über viele Fragen aufklärte, kommt in Erinnerung.

In Israel eröffnete sich Boris Yoffe die jüdische Kultur, von der er im sowjetischen Russland kaum eine Vorstellung hatte, genauso wie sie sich einmal Rembrandt öffnete. Das, was er gesehen und erlebt hatte, hat tief auf seine Persönlichkeit und sein Schaffen eingewirkt. Der Komponist entdeckte mehrere Themen und Fragen in den uralten jüdischen Büchern, die unter anderem während der Exile in Europa entstanden waren, die ihn jetzt tief bewegten. Gerade in Israel schrieb Boris Yoffe seine ersten Quartette für sein Quartettbuch.

Als er im Jahr 1997 nach Deutschland kam, hat der Komponist mit eigenen Augen das gesehen, was er früher in der deutschen Musik gehört hatte, die er so sehr liebte. Jetzt ist ihm vieles klarer geworden. Man kann sich ungehindert Kathedralen anschauen, sich einen Gottesdienst anhören, die von der Gemeinde gesungenen Choräle vernehmen. Auch das Erlernen der deutschen Sprache und der deutschen Literatur klärt einiges für ihn in der Musik auf. Boris Yoffe lebt auch heute in Deutschland, in Karlsruhe.

Die Musik auf dieser CD wird von hervorragenden Musikern aufgeführt, welche weltweit berühmt sind.
Schon in den 80er Jahren war das Hilliard Ensemble eines der besten Vokalensembles, dessen Aufführungen der Musik Machauts, Dufays, Ockeghems und anderer Komponisten der alten Musik sehr berühmt wurden. Außerdem haben sich die Musiker des Ensembles der zeitgenössischen Musik gewidmet. Sicherlich ist Song of Songs eines ihrer besten Projekte zeitgenössischer Musik.

Die Musiker des Rosamunde-Quartetts haben den instrumentalen Teil unendlich feinfühlig und meisterhaft bewältigt. Das 1992 im München gegründete Quartett führte die Werke von Haydn bis zu Mansurjan und Sylwestrow auf, mit deren Musik das Ensemble 2003 für den Grammy nominiert worden war. Die Musik Boris Yoffes ist ins Repertoire des Rosamunde-Quartetts 2008 eingegangen. Die CD Song of Songs ist zur letzten Arbeit des Ensembles geworden, ein Abschied, in dem die Musiker ihre ganz spezielle, persönliche Art zu musizieren auf eine vollkommene Weise zeigen. Diese Aufnahme kann zur Grundlage für neue Interpreten Yoffes Musik werden, einer Musik, die Zustimmung bei allen finden wird, die hören können.
Martin2
Inventar
#2 erstellt: 19. Dez 2011, 23:08
Hallo Oblomov,

vielen Dank für die sehr liebevolle und schöne Einführung in das Werk eines Komponisten, der mir bisher völlig unbekannt war. Es klingt sehr interessant und ich will hoffen, daß Youtube einem mal die Gelegenheit dazu gibt, sich etwas von diesem Werk anzuhören.

Gruß Martin
R_Oblomov
Neuling
#3 erstellt: 20. Dez 2011, 10:32
Hallo Martin,

danke für das Feedback!


Bei Youtube gibt es einiges von Yoffe (nicht viel), aber nichts aus dieser CD.




Gruss,

Oblomov
R_Oblomov
Neuling
#4 erstellt: 22. Dez 2011, 20:37
http://www.israbox.c...g-of-songs-2011.html

Boris Yoffe, Song of Songs, mp3
R_Oblomov
Neuling
#5 erstellt: 23. Dez 2011, 17:17
Ja, diese Rezension hat Ruslan Khazipov geschrieben.
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