Schattenmusik

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Mellus
Stammgast
#1 erstellt: 02. Okt 2008, 23:07

Wilhelm Müller schrieb:

Am Brunnen vor dem Tore,
Da steht ein Lindenbaum,
Ich träumt' in seinem Schatten
So manchen süßen Traum


Nicht nur diejenigen, die schnell einen Sonnenbrand bekommen, wissen Schatten zu schätzen. Schatten haben ihre eigene, ambivalente Magie. Zwar haben sie etwas gemeinsam mit Finternis und Nacht (Tod), aber im Gegensatz zu diesen beiden gibt es keinen Schatten ohne Licht (Leben und Wahrheit). Schatten können der Vorbote der Finsternis sein, sie können aber auch eine Rückzugssphäre (Intimität) bieten. Das Changierende, nicht festgelegte, aber immer Seelennahe, Weltabgewandte von Schatten lässt sich sicher künstlerisch fruchtbar machen, so wie es Schubert im Lindenbaum seiner Winterreise gemacht hat (Textauszug oben).

Eine Schattenkomposition, die ich kenne und schätze, ist Shadows von Peter Eötvös. Dazu habe ich bereits hier ein wenig zusammengetragen.

Ich bin mir sicher, dass das Thema Schatten in der einen oder anderen Weise noch mehr Komponisten angeregt hat. Fällt Euch etwas ein?

Viele Grüße,
Mellus
Kreisler_jun.
Inventar
#2 erstellt: 03. Okt 2008, 11:03
Das vielleicht berühmteste Schattenstück dürfte die Arie des Titelhelden aus Händels Xerxes "Ombra mai fu" (auch als "Largo" bekannt) sein.

JK jr.
op111
Moderator
#3 erstellt: 03. Okt 2008, 12:41
Spontan fällt mir Mahlers 7. Sinfonie mit ihren
Nachtmusiken ein.
Die Satzbezeichnung des 3. Satzes ist sogar explizit:
Scherzo. Schattenhaft (d-Moll)


[Beitrag von op111 am 03. Okt 2008, 12:43 bearbeitet]
op111
Moderator
#4 erstellt: 03. Okt 2008, 13:08
ein Nachtrag zur 7. Mahler

zum Charakter der Mittelsätze (Nachtmusiken und Scherzo) erinnere ich mich, einmal einen Artikel eines Mahlerexperten (K. Blaukopf ? ) gelesen zu haben, das einen Bezug zur Malerei, speziell zu Rembrandts "De Nachtwacht" (Nachtwache) hergestellt hat.
Wikipedia
op111
Moderator
#5 erstellt: 03. Okt 2008, 13:16
Weiter zum Unheimlichen, Bizarren des Schattens passt auch der 2. Aufzug von Richard Wagners Meistersingern.

Meistersinger

...Beckmesser erscheint gerade jetzt, um sein Ständchen zu bringen. Die Liebenden verbergen sich im Schatten einer Linde und werden Zeugen eines seltsamen Spiels...
AladdinWunderlampe
Stammgast
#6 erstellt: 03. Okt 2008, 13:27
Hallo, liebe Sonnenflüchtlinge,

anscheinend ist die Musik des 20. Jahrhunderts besonders schattenhaft, zum Beispiel


Francois Bayle: Théatre d'Ombres für elektronische Klänge (1988)



(Magison MGCB 1298)


Pierre Boulez: Dialogue de l'ombre double für Klarinette und Tonband (1982-1985)



(Apex 0927 49987 2)


Brian Ferneyhough: kurze schatten II für Gitarre solo (1983-1989)



(Montaigne MO 782029)


Brian Ferneyhough: Shadowtime (Oper, 2004)



(NMC D123)




Bayles elektroakustische Komposition fasst die asiatische Tradition der Schattenspiele als eine Art Metapher für einen akusmatischen Kompositionsansatz, wie ihn Bayle in Weiterführung der französischen Tradition der Musique concrète entwickelt hat.

Boulez' Werktitel bezieht sich wohl darauf, dass die vom Tonband zugespielten und räumlich verteilt erklingenden Klarinettenklänge eine Art Klangschatten des live agierenden Klarinettisten darstellen; dieser Effekt wird noch durch ein ausschließlich als Resonanzkörper für die Klarinettenklänge verwendetes Klavier hinter der Bühne verstärkt - daher wohl auch die Formulierung "Dialog des doppelten Schattens")

Ferneyhoughs Stücke beziehen sich beide auf den Philosophen Walter Benjamin: kurze schatten II spielt auf einen kurzen Text Benjamins an, in dem die kurzen, scharf geschnittenen Schatten der Mittagsstunde als Metapher für philosophische Erkenntnis fungieren, denn "die Erkenntnis umreißt wie die Sonne auf der Höhe ihrer Bahn die Dinge am strengsten." Die Oper Shadowtime kenne ich nur vom Hörensagen, so dass ich zur Bedeutung der "Schattenzeit" nichts beitragen kann.


Mittägliche Grüße
Aladdin
Klassikkonsument
Inventar
#7 erstellt: 04. Okt 2008, 00:06

Franz-J. schrieb:
ein Nachtrag zur 7. Mahler

zum Charakter der Mittelsätze (Nachtmusiken und Scherzo) erinnere ich mich, einmal einen Artikel eines Mahlerexperten (K. Blaukopf ? ) gelesen zu haben, das einen Bezug zur Malerei, speziell zu Rembrandts "De Nachtwacht" (Nachtwache) hergestellt hat.


Wobei das Nachtstück wohl überhaupt ein Genre in der Malerei ist, nach dem auch die Nachtstücke genannten Erzählungen von E.T.A. Hoffmann benannt wurden.
Um den Bogen zurück zur Musik zu kriegen: es gibt ja auch die 4 Nachtstücke op. 23 für Klavier solo von Robert Schumann. Die muss ich mir aber nochmal anhören.

Viele Grüße
Mellus
Stammgast
#8 erstellt: 01. Nov 2008, 00:36
Ich weiß nicht, ob es tatsächlich einen programmatischen Zusammenhang zwischen Schatten un der Musik gibt, aber als schattenhaft kann man die Klänge schon bezeichnen, die Mark Andre in ...als...II komponiert hat. Die beteiligten Instrumente -- Bassklarinette, Vionloncello, Piano, Live-Elektronik -- erzeugen Klangfelder zumeist in den tiefen Lagen. Das hat etwas Verhangenes, Dämmriges, bisweilen Düsteres. Die Musik spielt sich wie hinter getönten Scheiben ab, eben wie im Schatten.

Grüße,
Mellus
AladdinWunderlampe
Stammgast
#9 erstellt: 01. Nov 2008, 11:59

Mellus schrieb:
Ich weiß nicht, ob es tatsächlich einen programmatischen Zusammenhang zwischen Schatten un der Musik gibt, aber als schattenhaft kann man die Klänge schon bezeichnen, die Mark Andre in ...als...II komponiert hat.


Hallo Mellus,

der Werktitel dieses für mich überaus faszinierenden Stücks bezieht sich auf einen Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes, nämlich auf den achten Vers des sechsten Kapitels. Er lautet: "Und als das Lamm das siebente Siegel auftat, entstand eine Stille im Himmel etwa eine halbe Stunde lang." Es scheint sich demnach eher als ein Auskomponieren von Stille oder Verstummen zu handeln. Kurz vor der zitierten Bibelstelle, beim Öffnen des sechsten Siegels, hatte sich immerhin kurzzeitig die Sonne verfinstert. Die Stille entfaltet sich daher möglicherweise durchaus in einer "dunklen" Umgebung. Und Deine Charakterisierung der Klänge als "schattenhaft" ist natürlich nich von der Hand zu weisen.


Herzliche Grüße
Aladdin
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