Hatto,Joyce: Ihre "Referenzaufnahmen" - Der grösste Fake seit Milli Vanilli?

+A -A
Autor
Beitrag
Miles
Inventar
#1 erstellt: 18. Feb 2007, 16:43
Die Sache beschäftigt zur Zeit die Klassikszene, und beschämt viele Kritiker, die darauf reingefallen sind.

Die britische Pianistin Joyce Hatto, letztes Jahr 78-jährig verstorben, hatte sich 1976 wegen einem Krebsleiden aus dem Konzertbetrieb zurückgezogen, dann aber in den 90er wieder eigenproduzierte Aufnahmen veröffentlicht, die von manchen Kritikern über allen Klee gelobt wurden.

Jetzt stellte sich heraus dass auf einigen ihrer CDs geklaute Aufnahmen anderer Pianisten sind, sogar Produktionen grosser Label.

Ich kannte Joyce Hatto bisher nicht. Schade dass die Pianistin so in die Geschichte eingehen wird.

Sorry, die Artikel sind alle auf Englisch:

Masterpieces Or Fakes? The Joyce Hatto Scandal (Gramophone)

Joyce Hatto - The Ultimate Recording Hoax (Pristine Classical)

Late Joyce Hatto recordings are fakes (BBC Music Magazine)

Rezensionen auf Classic Today

http://en.wikipedia.org/wiki/Joyce_Hatto


[Beitrag von Miles am 18. Feb 2007, 16:45 bearbeitet]
s.bummer
Hat sich gelöscht
#2 erstellt: 21. Feb 2007, 00:36
Eigentlich müßte Jed Distler (Classicstoday) nen langem letzten Blick auf seinen Schreibtisch werfen und gehen..............
Immerhin hat er Stücka ein dutzend hymnische Besprechungen der Dame abgeliefert. Ravel ist "Disk of the month."
Doch auf einmal sind da nur noch Politiker am Schreiben.

Gruß S.
Miles
Inventar
#3 erstellt: 21. Feb 2007, 11:26
Auf der Wikipedia-Seite wird die Liste der identifizierten geklauten Aufnahmen ständig erweitert. Ich gehe davon aus dass alle Aufnahmen Fakes sind, ausser den Reissues alter Produktionen aus den 60ern. Wieso solle jemand andere Aufnahmen klauen während er selbst en masse Werke einspielt?

Die CDs erschienen ab 2003. Es gibt sogar Spekulationen dass Joyce Hatto schon 2002 verstorben sei (ohne Aufnahmen hinterlassen zu haben) und ihr Ehemann dann mit dem Betrug begann.


[Beitrag von Miles am 21. Feb 2007, 12:42 bearbeitet]
s.bummer
Hat sich gelöscht
#4 erstellt: 22. Feb 2007, 00:41
Da wären Links hilreich.
So ein Fake wäre ja das Sterben der Unschuld im digitalen Zeitalter.
Guter alter Walter Benjamin, Du hast nur die Hälfte gesehen, oder?
"Das Kunstwerk im Zeitalter der digitalen Manipulierbarkeit"
Gruß S.
vanrolf
Inventar
#5 erstellt: 27. Feb 2007, 17:13
sake 1971 schrieb heute in einem neuen thread:


Hallo zusammen,

anbei ein Bericht über gefälschte Tonaufnahmen. Erstaunlich, dass jahrelang die Musikkritiker sich täuschen ließen und keiner die Kopien bemerkt hat. Laut einem anderen Bericht konnte erst über ein Computerprogramm die Fälschung entlarvt werden.


Ehemann von Star-Pianistin Hatto fälschte Tonaufnahmen

Dienstag 27. Februar 2007, 09:38 Uhr
von AFP


Der Mann der verstorbenen britischen Star-Pianistin Joyce Hatto, William Barrington-Coupe, hat eingeräumt, Tonaufnahmen anderer Musiker unter dem Namen seiner Frau veröffentlicht zu haben. Die britische Zeitung "The Times" zitierte aus einem Brief des Klassikproduzenten an den Chef der Plattenfirma BIS, in dem er die Plagiate zugibt. Demnach erklärte Barrington-Coupe, seine im vergangenen Jahr nach einem langen Krebsleiden verstorbene Frau habe nichts von seinem Vorgehen gewusst. Er habe ihr am Ende ihres Lebens "die Illusion eines großartigen Abschlusses" vermitteln wollen.
"Ich bin hoffnungslos unglücklich über die dummen Enscheidungen, die ich getroffen habe, um ihre letzten Monate glücklicher zu machen, mit denen ich aber ihren Namen beschmutzt habe", schrieb Barrington-Coupe dem Bericht zufolge.
BIS-Chef Robert von Bahr sagte der "Times", Hattos Mann habe die Aufnahmen gefälscht, "um seiner Frau die Anerkennung zuteil werden zu lassen, die sie seiner Meinung nach immer verdient hat und um ihr in den letzten Zügen ihres Lebens Trost zu spenden." Doch bewirkt habe Barrington-Coupe das Gegenteil: "Ich denke, sie ist nun gänzlich stigmatisiert, das ist sehr, sehr traurig."
Joyce Hatto war im Juni 2006 im Alter von 77 Jahren nach einem drei Jahrzehnte dauernden Kampf gegen den Krebs gestorben. Seit Anfang der 70er Jahre konnte die als eine der größten britischen Musikerinnen aller Zeiten gefeierte Pianistin nicht mehr öffentlich auftreten. Hattos Karriere startete 1952 in London, wo sie mit ihren Interpretationen von Liszt und Chopin Erfolge feierte.


Ich denke, daß ein thread zu diesem Thema ausreicht, der andere wurde entfernt.

Gruß Rolf
op111
Moderator
#6 erstellt: 28. Feb 2007, 16:40
Hallo zusammen,
Inzwischen hat auch Der Spiegel das Thema entdeckt.

Sehr informativ der oben veröffentlichte Link zu "Pristine Classical", in dem erläutert wird, welche Maßnahmen zur Verfremdung der Originale ergriffen wurden.

Zur Demonstration hat man eine Aufnahme im "Hatto"-Stil bearbeitet: Part 8: How it's done: A fake we prepared for this site


s.bummer schrieb:
Eigentlich müßte Jed Distler (Classicstoday) nen langem letzten Blick auf seinen Schreibtisch werfen und gehen ... Immerhin hat er Stücka ein dutzend hymnische Besprechungen der Dame abgeliefert.

Peinlich für Distler vor allem, daß er die Godowsky CD mit dem (Teil-) Original von Hamelin verglichen haben will.

Bei allen Vorbehalten gegen Classics Today - wären nicht vielleicht auch andere Kritiker drauf reingefallen?
Ich vermute: ja! Die starke Korrelation zw. Interpretationsnote und Klang lässt vermuten, daß ein und dieselbe Aufnahme in unterschiedlichen Abmischungen von den meisten Kritikern auch unterschiedliche Interpretationsnoten erhalten würde.

Gruß


[Beitrag von op111 am 28. Feb 2007, 17:05 bearbeitet]
s.bummer
Hat sich gelöscht
#7 erstellt: 28. Feb 2007, 17:29
Man kann das Ganze auch ironisch sehen.
In der heutigen SZ stand ein Artikel über den Fall.
Angeblich hat der Ehemann ohne Wissen seiner Frau in ihre Aufnahmen Schnipsel von anderen Interpreten hineingeschnitten, wenn Frau Hattos pianistisches Vermögen nicht mehr hinreichend war. Außerdem hat er die Tempi modifiziert, damit es nicht so auffällt.
Das ist wie in der Whisky Industrie. Wir hätten dann folgende Entsprechungen:

Single CASK Malt = Unverfälscht, also Liveaufnahme.
Single Malt= Eine Aufnahme eines Künstlers, durch diverse Takes veredelt, die typische Studio Aufnahme.
Vatted Malt = Ein Stück wird aus Mischung von Aufnahmen verschiedener Interpreten erstellt, also der Fall Hatto.
Blended = Industrieware wird zum Strecken der musikalischen Einflüsse verwendet. Clayderman, Rieux, His Masters Thief?

Gruß S.


[Beitrag von s.bummer am 28. Feb 2007, 17:30 bearbeitet]
Kreisler_jun.
Inventar
#8 erstellt: 28. Feb 2007, 18:01

Franz-J. schrieb:
Hallo zusammen,
Inzwischen hat auch Der Spiegel das Thema entdeckt.

Sehr informativ der oben veröffentlichte Link zu "Pristine Classical", in dem erläutert wird, welche Maßnahmen zur Verfremdung der Originale ergriffen wurden.

Zur Demonstration hat man eine Aufnahme im "Hatto"-Stil bearbeitet: Part 8: How it's done: A fake we prepared for this site


Ein Link auf Pristineaudio lohnt sich ohnehin. Interessante historische Aufnahmen und man kann sehr ausführlich und für lau probehören. Rose und Kollegen verstehen ihr Handwerk!




s.bummer schrieb:
Eigentlich müßte Jed Distler (Classicstoday) nen langem letzten Blick auf seinen Schreibtisch werfen und gehen ... Immerhin hat er Stücka ein dutzend hymnische Besprechungen der Dame abgeliefert.

Peinlich für Distler vor allem, daß er die Godowsky CD mit dem (Teil-) Original von Hamelin verglichen haben will.

Bei allen Vorbehalten gegen Classics Today - wären nicht vielleicht auch andere Kritiker drauf reingefallen?
Ich vermute: ja! Die starke Korrelation zw. Interpretationsnote und Klang lässt vermuten, daß ein und dieselbe Aufnahme in unterschiedlichen Abmischungen von den meisten Kritikern auch unterschiedliche Interpretationsnoten erhalten würde.


Es SIND offensichtlich massenhaft andere Rezensenten darauf reingefallen, u..a auch von Gramophone selbst, soviel ich weiß. Der größte Teil der Aufnahmen wurde indes überhaupt nicht manipuliert, sondenr einfach geklaut. Es scheint, dass vor allem die rührende Geschichte den Hörern Hirn und Ohren vernebelt hat. Denn dass es sich um eine Reihe verschiedener Pianisten handelt, hätte man auch ohne die "Originale" zu kennen, feststellen können.
Und es gab praktisch von Anfang an vereinzelt Stimmen, die vermuteten, dass etwas faul sein dürfte.

Hurwitz hat allerdings Anfang der Woche eine ziemlich peinliche Kolumne zu der Affäre veröffentlicht, inklusive unnötiger Tieflschläge, z.B. gegen Pristine Audio...

viele Grüße

JK jr.
Hüb'
Moderator
#9 erstellt: 28. Feb 2007, 23:07
Tragische Geschichte. Wirklich traurig.
Irgendwie musste ich hieran denken:

"Die Liebe erträgt alles glaubt alles, hofft alles, hält allem Stand. Die Liebe hört niemals auf." 1. Kor 13,7


Grüße

Frank


[Beitrag von Hüb' am 28. Feb 2007, 23:07 bearbeitet]
Fressbacke
Stammgast
#10 erstellt: 28. Feb 2007, 23:39

Hüb' schrieb:
Tragische Geschichte. Wirklich traurig.
Irgendwie musste ich hieran denken:

"Die Liebe erträgt alles glaubt alles, hofft alles, hält allem Stand. Die Liebe hört niemals auf." 1. Kor 13,7


Grüße

Frank
:prost



So sehe ich das auch. Ich könnte dem Mann nicht einmal böse sein, wenn ich mir diese "Aufnahmen" gekauft hätte. Es war nicht unbedingt der richtige Weg - aber wenn er seiner schwer kranken Frau dadurch nur eine glückliche Minute zusätzlich geschenkt hat, hat er jedes Verständnis verdient.


Ralf
Miles
Inventar
#11 erstellt: 01. Mrz 2007, 11:19
Also bitte!

Der Kerl ist wegen Betrug vorbestraft, und hat die Kritiker nach Strich und Faden belogen.

Ausserdem musste er ja nicht gleich 120 CDs in 3 Jahren veröffentlichen nur um zu zeigen dass seine Frau gut Klavier spielen kann.

Nur aus Liebe hat er das nicht getan.


[Beitrag von Miles am 01. Mrz 2007, 11:20 bearbeitet]
Hörbert
Inventar
#12 erstellt: 01. Mrz 2007, 12:37
Hallo!

Ich halte die Einlassungen des Ehemannes ebenfalls für eine Schutzbehauptung. Ich sehe da eher eine Liebe zu hartem barem Geld, wenn er nach den Ableben seiner Frau die Aufnahmen vom Markt genommen hätte sähe die Sache für mich anders aus.

MFG Günther
Suche:
Das könnte Dich auch interessieren:
Richter, Sviatoslav: Fragen zu S. R.
Wilke am 04.10.2011  –  Letzte Antwort am 19.08.2015  –  37 Beiträge
Gitarristen: Neuere Gitarristen
Duru am 11.12.2004  –  Letzte Antwort am 19.12.2004  –  5 Beiträge
Welcher Dirigent für die Mahler Symphonien?
Otoul am 05.06.2011  –  Letzte Antwort am 06.06.2011  –  4 Beiträge
Bedeutende "geniale" Dirigenten mit einer außerordentlichen, prägenden Wirkung
Hörstoff am 13.10.2019  –  Letzte Antwort am 30.12.2019  –  15 Beiträge
Wiener oder Berliner?
hyperion am 16.12.2004  –  Letzte Antwort am 05.12.2007  –  70 Beiträge
Mustonen , Olli: Gould--Verschnitt oder Musik-Ikone?
Alfred_Schmidt am 02.04.2004  –  Letzte Antwort am 01.07.2004  –  6 Beiträge
Würtz, Klara: Die Pianistin
Jeremias am 14.07.2005  –  Letzte Antwort am 14.07.2005  –  2 Beiträge
St. Petersburger Philharmonie - wie hat sich das Orchester verändert seit Leningrader Zeiten?
Mr_M am 08.12.2004  –  Letzte Antwort am 08.12.2004  –  2 Beiträge
Kleiber, Carlos: Der "Schwierige"
Alfred_Schmidt am 12.04.2004  –  Letzte Antwort am 16.06.2010  –  38 Beiträge
Kopatchinskaja, Patricia (Violine) - der ungeschliffene Diamant
Joachim49 am 19.08.2007  –  Letzte Antwort am 15.09.2013  –  63 Beiträge
Foren Archiv

Anzeige

Aktuelle Aktion

Partner Widget schließen

  • beyerdynamic Logo
  • DALI Logo
  • SAMSUNG Logo
  • TCL Logo

Forumsstatistik Widget schließen

  • Registrierte Mitglieder925.698 ( Heute: 9 )
  • Neuestes Mitgliedchris3761
  • Gesamtzahl an Themen1.551.014
  • Gesamtzahl an Beiträgen21.536.000