Bericht - Fluance RT85N

Mein Pro-Ject Debut Carbon mit Ortofon 2M Red bereitet mir keine Freude mehr, daher habe ich schon seit längerem nach einer Alternative gesucht. Zuerst wollte ich nur den Tonabnehmer tauschen, schlussendlich habe ich mich für einen komplett neuen Plattenspieler entschieden.

Wer in die amerikanische Youtube Vinyl Bubble hineinschaut, der kommt ja um den Namen „Fluance“ nicht herum. Kaum eine Marke wird von diesen Kanälen derart gehyped, wenn es um – angeblich – sehr empfehlenswerte Plattenspieler im Einsteiger- bis Mittelklassebereich geht.

Auf dem Papier sind die Geräte bezüglich Ausstattung tatsächlich Preis-Leistungsknaller. Während man selbst im Preisbereich von 500-1000 EUR noch Plattenspieler findet, die mit 50 EUR Tonabnehmern (typischerweise Audio-Technica 95er) bestückt sind, packt Fluance z. B. in sein Modell RT84 mit einem Listenpreis von 500 USD mal eben eine Ortofon 2M Blue für 200 USD rein.

Die Spitzenmodelle von Fluance sind der RT85 mit Ortofon 2M Blue und der RT85N mit einem Nagaoka MP-110 Tonabnehmer. Beide 85er Modelle haben gegenüber dem RT84 einen Acryl Plattenteller zu einer UVP von 550 USD.

Ich habe immer gehört, die Ortofon 2M Blue würde im Vergleich zur 2M Red neutraler, analytischer, transparenter klingen. Das ist definitiv nicht die Richtung, in die ich persönlich gehen will – mir ist ein harmonischer, warmer Klang lieber, dafür verzichte ich gerne auf kleine Details oder eine besonders gut definierte Klangbühne.

Also: RT85N – mein Kandidat für einen Traumplattenspieler. Klingt alles toll, aber leider werden die Fluance Modelle nicht in Europa vertrieben. Man müsste in den USA bestellen, was den Preis durch Transport, MwSt. und Zoll auf über 820(!) EUR treibt. Seit kurzem jedoch bietet eine Firma die RT85 Modelle für 603 EUR auf dem amazon Marketplace an. Musste also meine Antipathie gegenüber Jeff Bezos herunterschlucken und bei amazon bestellen.

Nach kurzer Wartezeit war das erstaunlich kompakte Paket da. Meine erste Skepsis wich gleich Begeisterung, dann die Verpackung ist zwar platzsparend, aber sehr gut und sehr durchdacht designt. Selbst DHL konnte dem Gerät nichts anhaben. Anhand der Spuren am Karton haben sie sich alle Mühe gegeben, den Plattenspieler klein zu kriegen - vergeblich.

Acryl-Plattenteller und ein teurer Tonabnehmer – irgendwo müssen die doch sichtbar gespart haben!? Ehrlich gesagt - bis auf die Plastikscharniere der Staubschutzhaube habe ich keine offensichtlichen Sparmaßnahmen entdecken können. Das Finish der MDF Basis ist „gut“ – gerade da habe ich kleinere Mängel erwartet. Natürlich gibt es immer Luft nach oben, aber angesichts des Budgets, mit dem dieser Plattenspieler gefertigt wird bin ich wirklich positiv überrascht. Verarbeitung, Haptik - alles besser als gedacht.

Die Bedienung ist einfach. Man dreht den Schalter auf die gewünschte Geschwindigkeit, der Plattenteller läuft jedoch erst dann los, wenn man den Tonarm Richtung Platte schwenkt.

Mein absolutes Lieblingsfeature (und einer der wichtigsten Kaufgründe) ist der Auto-Stop. Ich höre gerne nebenbei Musik. Leider ist es mir schon oft vorgekommen, dass ich abgelenkt wurde und ich daraufhin den Plattenspieler vergessen hatte. Der drehte dann munter mehrere Stunden seine Runden. Einmal lief der Plattenspieler sogar über Nacht und am nächsten Morgen hatte die Nadel - kein Scherz! –tatsächlich feine Vinyl Späne aus der Endrille gehobelt. Horror!

Zwei Sachen sind mir dann aber doch negativ an dem Plattenspieler aufgefallen.

1. Die Tonarm-Arretierung kommt in der „entriegelt“ Position dem Tonarm-Lifthebel sehr nahe – ich bin mehrfach mit der Hand an dieses eher scharfkantige Teil gekommen. Nach kürzester Zeit habe ich es demontiert.
   
2. Gegenüber dem Pro-Ject ist der Fluance empfindlicher gegenüber Vibrationen. Mein Altbau-Boden ist eine Mischung aus Trommel und Trampolin – die Vibrationen z. B. durch Schritte sind deutlich wahrnehmbar. Die Gummi-Füße des Fluance sind definitiv mit dem Ziel Vibrationshemmung konstruiert, dennoch machen sie keinen guten Job. Inwieweit der Acryl-Plattenteller bei Resonanzen wirklich hilft, kann ich nicht sagen – ich finde er sieht schick aus. 😊
   

Ich habe keine goldenen Ohren, daher will ich mich mit dem Thema Klang hier nicht aufhalten. Gegenüber der Pro-Ject mit Ortofon 2M Red empfinde ich die Nagaoka etwas dynamischer und tatsächlich gefälliger und wärmer – für mich eine eindeutige und deutliche Verbesserung.
Zusammenfassend: Ich persönlich bin sehr, sehr glücklich mit dem Kauf.

Positiv:

• Sehr gute, durchdachte Verpackung
  
• sehr gute Anleitung (Englisch), einfacher Aufbau und Justage (Tonabnehmer auf Headshell vormontiert)
  
• Weiße Stoffhandschuhe, Libelle, Cinchkabel, Erdungskabel und 45er Adapter mitgeliefert
  
• Headshell mit Schnellverschluss – einfach wechselbar
  
• 1,5 kg schwerer Acryl Plattenteller
  
• geregelter Motor – exakte Geschwindigkeit (gemessen!)
  
• Höhenverstellbare, gedämpfte Füße
  
• Auto-Stop Funktion
  
• in Relation zum Gesamtpreis hervorragender Tonabnehmer
  

Neutral:

• Tonarm „nur“ aus Aluminium
  
• vereinzelt einfache Materialien (Scharniere)
  
• Nagaoka MP-110 Tonabnehmer des RT85N (150 EUR) ist ein „schlechterer“ Deal als der Ortofon 2M Blue (200 EUR) des RT85 Modells, da beide Modelle denselben Preis haben
  
• Ersatzteile müssen aus den USA importiert werden, kein Händler-Support in der EU
  
• Riemen verläuft nicht mittig um den Acryl-Plattenteller – mein innerer Monk findet das schlimm ;D
  

Negativ:

• Tonarm nicht höhenverstellbar
  
• keine 78 RPM
  
• anfällig für Vibrationen
  
• Bezug derzeit nur über den amazon Marketplace