Welche Meilensteine mit revolutionärer Studio und Aufnahmetechnik könnt ihr empfehlen?

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ravecreator
Stammgast
#1 erstellt: 20. Jan 2023, 16:41
Hallo Musikliebhaber,

um meinen bescheidenen Musik-Kosmos zu erweitern bin ich
Genre-unabhänig auf der Suche nach Meilensteinen oder Skurrilitäten
der Studio und Aufnahme-Technik aus den letzten Jahrzehnten die
Trends gesetzt haben oder etwas völlig neues erfunden (zbs. Wall of Sound).
Gerne auch die passenden Geschichten oder Annekdoten dazu.

Ich fange selbst mal an und werfe "Thriller" von Michael Jackson
in den Raum. Als witziges Fun-Fact habe ich gelesen,
das weder Michael Jacksons Stimme noch die Instrumente so hoch waren
wie auf seinen Platten zu hören, sondern fast alle Tracks
nachträglich beim Mastern gepitcht und erst dann veröffentlicht wurden.
Das hatte den Vorteil das alles noch etwas "zackiger" klang und
somit einfach mehr Tracks auf eine Plattenseite gepasst haben.
Auf youtube habe ich mal gehört, wie die fertigen Songs nach
der Aufnahme ungepitcht anhörten.

Ein weiterer Meilenstein - allerdings eher im negativen Bereich ist "Californication" von den Red Hot Chili Peppers,
welches es in den Anfängen des digitalen "Loudness-Wars" so übertrieben haben, dass das komplette Album
so übersteuert und mit digitalem Clipping versehen war, dass sogar nicht- Audiophile Hörer sich über die
schlechte Qualität beschwerten oder dachten ihre Anlage wäre kaputt.

Welche Meilensteine muss man gehört haben? Gerne neues, altes und oder ganz altes posten.


[Beitrag von ravecreator am 20. Jan 2023, 17:03 bearbeitet]
TrueHighFidelity
Stammgast
#2 erstellt: 20. Jan 2023, 22:15
Eigentlich alle Aufnahmen der Beatles, bei denen man sehr schön die aufnahmetechnische Weiterentwicklung im Laufe der Zeit hört. Schon bei ihrem ersten Album Please Please Me ist Toningenieur Norman Smith von den üblichen Gepflogenheiten bei EMI abgewichen und hat versucht, den Live-Sound der Band im Studio einzufangen. Sie sollten so spielen, wie sie auf einer Bühne gespielt hätten, und wurden eher distanziert mikrofoniert, um den Raumklang des Studios einzufangen.
Später, nach dem Wechsel von Norman Smith zu Geoff Emerick, gab es dann noch mehr tontechnische Experimente: Flanging, Automatic Double Tracking, rückwärts abgespielte Instrumente, eingespielte Soundeffekte usw. Als Meilenstein könnte man wohl Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band bezeichnen, und darauf insbesondere A Day In The Life. Dort hatte man Band und Orchester auf zwei separaten Vierspur-Tonbändern, die man irgendwie miteinander synchronisieren musste. Oder auch In My Life vom Album Rubber Soul: Da meint man, ein Cembalo-Solo zu hören. In Wirklichkeit ist es aber ein normales Klavier, bei dessen Aufnahme das Tonband langsamer lief und das deshalb beim Abspielen doppelt so hoch und so schnell klingt.

Da gibt es so viele Ankedoten, dass man sie hier nicht alle wiedergeben kann. Deshalb hier einige empfehlenswerte Interviews, wo Beteiligte aus dem Nähkästchen plaudern:
George Martin (Produzent)
Norman Smith (Toningenieur)
Geoff Emerick (Toningenieur)
Richard Lush (damals Tape Operator)
TrueHighFidelity
Stammgast
#3 erstellt: 20. Jan 2023, 22:35
Phil Spector und seine "Wall of Sound" wurden ja schon angesprochen: Instrumente doppelt und dreifach besetzt, viel Percussion, Streicher- und Bläsergruppen, und das alles dann durch die Hallräume der Gold Star Studios geleitet und in Mono abgemischt. Als Klassiker gelten z. B. Be My Baby von den Ronettes, Da Doo Ron Ron von den Crystals, You've Lost That Lovin' Feelin' von den Righteous Brothers oder River Deep, Mountain High von Ike & Tina Turner. Aber man könnte eigentlich alle Aufnahmen der genannten aus den 1960er Jahren dazu zählen. Vor einigen Wochen hätte ich auch noch das Weihnachtsalbum A Christmas Gift for You from Phil Spector empfehlen können.

Hier ein lesenswertes Manuskript eines Radio-Features über Phil Spector:
Mountain High, River Deep Glanz und Elend des Impresarios Phil Spector

Daneben gibt es auch Aufnahmen, die zwar nicht von Phil Spector produziert wurden aber so klingen: I Got You Babe von Sonny & Cher ist z. B. eindeutig "Wall of Sound", oder einige Aufnahmen der Beach Boys. Eine ähnliche Klangästhetik, wenn auch nicht so überladen, haben die Aufnahmen des Motown-Plattenlabels aus den 1960er Jahren. Phil Spector hat sich in einem Interview mal beklagt, dass Motown ihm seinen Sound gestohlen hätten.
TrueHighFidelity
Stammgast
#4 erstellt: 21. Jan 2023, 00:25
Und dann wäre da noch Produzent und Toningenieur Joe Meek, dem hier eine eigene Internetseite gewidmet wurde:

"Nicht nur der Song oder der Sänger, auch der Sound macht den Hit. Meek war der erste europäische Musikproduzent, der das in vollem Umfang begriff. Er sah das Tonstudio als sein Musikinstrument an, und er beherrschte es virtuos. Als extraordinärer Soundtüftler kann er in einem Atemzug mit Pop-Eminenzen wie Phil Spector, George Martin, Lee Hazlewood, Tom Wilson oder den Teams der "Motown"- oder der "Stax"-Studios genannt werden; der typische Sound einer Meek-Produktion ist sofort zu identifizieren. Zwar trat Meek nur ungern selbst in die Öffentlichkeit, doch sein Einfluss auf die britische Popmusik ist trotzdem noch heute spürbar."
Joe Meek - ein Portrait

Übertrieben starke Bässe und Kompression, Echo, Equalizing, beschleunigte oder verlangsamte Gesangsstimmen: Das alles hört man in Joe Meeks Produktionen, mit denen er gegen alle damals anerkannten Regeln der Tontechnik verstieß. Zum Beispiel mit Telstar von den Tornados, Have I The Right von den Honeycombs, Sweet Little Sixteen von Michael Cox oder Johnny Remember Me von John Leyton. Auch hier gibt es viele Anekdoten, von denen viele vermutlich nicht der Wahrheit entsprechen. Aber das liest man besser selber oben nach.
Mr._Lovegrove
Inventar
#5 erstellt: 21. Jan 2023, 11:27
Oha, das ist ein verdammt weites Feld. Spontan fallem mir da nahezu sämtliche Aufnahmen von Alan Parsons bis in die frühen 80er ein. Und da meine ich nicht nur des Projects, sondern auch die anderen. Sei es nun Pink Floyds "Dark Side Of The Moon" (man erkundige sich danach, wie das Klingel der Kassen und des Geldes entstanden ist) oder auch die Al Stewart Sachen oder auch Pilot und Ambrosia.

Eine weitere absolut erwähnenswerte und völlig unterschätzte Geschichte ist die von "Staying Alive" von den Bee Gees. Hier wurde der Drumtrack aus einem Loop heraus geboren. Der Song musste fertig werden, aber der Drummer war krank. Und so wurde aus einer kleinen Sequenz des Songs "Night Fever" ein verlangsamter Drumloop produziert. Eine für damalige Verhältnisse pionierhafte Arbeit.

Ferne ist natürlich die Entstehung der ersten digitalen Aufnahmen in den 70ern eine sehr spannende Story. Anfangen sollte man da natürlich mit "Something" von Steve Marcus, der ersten kommerziellen Digitalaufnahme aller Zeiten.

Eine sehr interessante Pionierarbeit ist Bob James' Scheibe "Explosions" von 1965. Der Pianist experimentierte hier schon früh mit Tapeloops und -Effekten.

Die Geschichte der Tontechnik ist voll von Pioniertaten und ungewöhnlichen Arbeiten. Da kannste Bücher drüber schreiben....
ravecreator
Stammgast
#6 erstellt: 21. Jan 2023, 12:08
Vielen Dank schonmal für die Antworten und die interessanten zugehörigen Links.

Die genannten Beach Boys und Produzent Brian Wilson finde ich auch sehr interessant. Ich habe mir kürzlich
das remasterte Album "Pet Sounds" angehört, wo einmal die Mono Spuren und
dann die neu gemischten Stereo Versionen drauf sind und war überrascht wie gut und räumlich
dennoch die Mono Aufnahmen klingen und wie die neuen Stereo Versionen irgendwie "zerfallen" und dünn klangen.
Mr._Lovegrove
Inventar
#7 erstellt: 21. Jan 2023, 13:19
Bedenke bitte, dass einige Produzenten zu dieser Zeit nur in Stereo aufgenommen haben, weil sie daraus einfacher und besser ein Monomaster erstellen konnten. Deshalb erklingen diese Zweikanalversionen auch so hart getrennt.
TrueHighFidelity
Stammgast
#8 erstellt: 21. Jan 2023, 20:06
Wobei es bei Phil Spector wohl eher Ideologie war.

Phil Spector Interview In 1972 Talking About His Christmas Album

Hier sagt er, dass Stereo-Aufnahmen künstlich und falsch klängen und keinen wirklichen Sinn ergäben. Und dass Mehrspurmaschinen mit 16 und mehr Spuren nur etwas für Leute seien, die Angst hätten und nicht wüssten, was sie tun. Klingt zwar exzentrisch, aber sowas Ähnliches hat Richard Lush auch über die Vierspuraufnahmen der Beatles gesagt, und dass man Sergeant Pepper unbedingt in Mono anhören solle, denn so sei es von Anfang an gedacht gewesen.
TrueHighFidelity
Stammgast
#9 erstellt: 22. Jan 2023, 03:44
Nicht unerwähnt bleiben sollten auch die ersten Stereo-Aufnahmen der Reichsrundfunkgesellschaft auf Magnetband von 1944.

Stereophonie bei der RRG (Reichsrundfunkgesellschaft)

Neben der dort erwähnten 8. Sinfonie von Anton Bruckner haben auch Aufnahmen des 5. Klavierkonzerts von Ludwig van Beethoven überlebt.
Harald.Ernstberger
Stammgast
#10 erstellt: 22. Jan 2023, 19:55
In diesem Zusammenhang mal ein Buchtipp:

Perfecting Sound Forever
TrueHighFidelity
Stammgast
#11 erstellt: 23. Jan 2023, 05:48
Mit Les Paul kenne ich mich nicht so gut aus, aber er scheint auch Pionierarbeit auf dem Gebiet der Aufnahmetechnik geleistet zu haben.

"1947 veröffentlichte Capitol Records eine Aufnahme, die als Experiment in der Garage von Paul begonnen hatte. Der Titel war Lover (When You’re Near Me), und Les Paul spielte auf dieser Aufnahme acht unterschiedliche E-Gitarren-Parts. Es war das erste Mal, dass das Multi-Tracking-Verfahren bei einer Aufnahme zum Einsatz kam. Diese Aufnahmen wurden nicht mit magnetischen Disks, sondern mit Wachs-Disks produziert.
(...)
Les Paul, der sich auch mit Gitarrenkonstruktion (die Gibson Les Paul ist nach ihm benannt) und Aufnahmetechnik befasste, entwickelte ein Nachhallverfahren, das auf seiner am 4. Januar 1951 zuhause eingespielten Aufnahme von How High the Moon erstmals zu hören ist[2] und seitdem zu den üblichen Soundeffekten der Aufnahmetechnik gehört.
(...)
Im Jahre 1954 fuhr Paul mit der Entwicklung seiner Erfindungen fort, als er die Firma Ampex auf eigene Kosten beauftragte, einen 8-Spur-Bandrekorder zu bauen. Seine Idee, später unter dem Namen „Sel-Sync“ bekannt, bei dem ein Aufnahmekopf eine neue Spur aufnehmen und gleichzeitig zuvor aufgenommene Spuren abspielen konnte, war richtungsweisend für die Zukunft der Mehrspuraufnahmetechnik."


https://de.wikipedia.org/wiki/Les_Paul
TrueHighFidelity
Stammgast
#12 erstellt: 25. Jan 2023, 00:36
Und hier noch ein informatives kleines Video über die Entstehung des typischen 80er-Jahre-Schlagzeug-Sounds:

How a recording-studio mishap shaped '80s music
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