Welche Dirigenten arbeiten mit variablen Tempi?

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 17. Okt 2008, 17:23
Welche Dirigenten arbeiten mit variablen Tempi, mit Tempowechseln, Accelerando und Riterdando nennt man das wohl, die nicht in der Partitur stehen? Ich kenne nur zwei: Furtwängler, der für dergleichen wohl berühmt ist, aber auch Eugen Jochum.

Mir gefällt das - wenn es mich überzeugt. Also ich hörte vor nicht allzu langer Zeit Brahms 3. mit Furtwängler und dieses für mich abgegriffene Werk wurde da plötzlich zum Leben erweckt - es war spannend - und ich war begeistert. Bruckners 7. mit Jochum finde ich wunderbar - Chaily war ne Schlaftablette.

Mir gefällt das wiegesagt, es scheint auch eine Tradition dahinterzustehen, man nennt einen solchen Interpretationsansatz wohl "romantisch" und es ist wohl keine Erfindung von Furtwängler. Heutige Interpreten schlagen eher stur den Takt.

Aber wiegesagt, außer Furtwängler und Jochum kenne ich niemanden, der dafür bekannt wäre. Wie steht ihr dazu? Findet ihr dergleichen "fragwürdig" oder spannend? Meint ihr, dies stehe im Ermessen des Interpreten oder meint ihr, da maßt er sich etwas an, was ihm nicht zusteht?

Und ich wäre sehr interessiert, mehr dergleichen zu kennen, von Dingen, die Euch in dieser Hinsicht überzeugen, weil ich einen solchen Interpretationsansatz spannend finde.

Gruß Martin
Gantz_Graf
Hat sich gelöscht
#2 erstellt: 17. Okt 2008, 17:45
Mir ist noch nicht aufgefallen, dass manche Dirigenten besonders Gebrauch davon machen. Ansonsten ist es, wie es immer ist: Mag man es nicht, kritisiert man evtl. aus Gründen der Werktreue, mag man es, hält man sich geschlossen

Sehr gelungen ist die Verlangsamung, die mir zu dem Thema in den Sinn kommt. Ich vermute, dass sie in der Partitur steht, aber bei Blomstedt (SFSO) beispielsweise ist sie kaum wahrnehmbar.

Sibelius#3/2 "Andantino", Leif Segerstam/Helsinki PO. Es passt einfach zu der auch genialen Idee des Komponisten. Eine wundervolle Passage:

Klick!
http://www.fileden.com/files/2007/9/21/1446950/sib3.2_segerstam.mp3

Tempoverschleppungen gibt es m.E. auch hier (RVW7, Previn/LSO):
Klick!
http://www.fileden.com/files/2007/9/21/1446950/rvw7-1.mp3

EDIT: Oh, Du schreibst "die nicht in der Partitur stehen" Na ja, was solls.


[Beitrag von Gantz_Graf am 17. Okt 2008, 17:55 bearbeitet]
Kaddel64
Hat sich gelöscht
#3 erstellt: 17. Okt 2008, 19:13

Martin2 schrieb:
Welche Dirigenten arbeiten mit variablen Tempi, mit Tempowechseln, Accelerando und Ritardando nennt man das wohl, die nicht in der Partitur stehen?

Die beschriebenen musikalischen Ausdrucksmittel laufen unter dem Oberbegriff Agogik. Sie sind keineswegs eine Erfindung der Romantik, vielmehr kommt Musik ohne Temposchwankung nicht aus. Neu ist ab etwa 1880 lediglich ihre zunehmende Bezeichnung in der Partitur. Da gibt es aber zum Teil erhebliche Unterschiede in der Sorgfalt der Bezeichnung, und letztlich ist es doch dem Komponisten überlassen, wie exakt er Temposchwankungen vorschreibt. Für sehr penible Vortragsbezeichnungen berüchtigt war beispielsweise Max Reger (1873-1916). Doch auch im Barock kommt man ohne Ritardando und Rubato nicht aus, sie sind wesentliche Ausdrucks- und Gestaltungsmittel. Musik ohne Temposchwankungen klänge leblos wie vom Computer.

Beispiel: Legt mal eure CD von einem Neujahrskonzert auf , irgendeinen klassischen Walzer oder eine Polka. Wer jemals versucht hat danach zu tanzen, wird gespürt haben, wieviele (starke und weniger starke) Temposchwankungen hier musiziert werden, die als hinderlich empfunden werden. Beim bloßen Hören jedoch scheint alles zwingend, schlüssig und stimmig. Nur durch solche Schwankungen steckt Leben in der Musik, alles andere ermüdet und wirkt schlaff.

Wozu werden agogische Mittel eingesetzt? Musik besteht aus dem fortwährenden Wechsel von Spannung und Entspannung, von permanenter Zu- und Abnahme. Das geschieht auf verschiedenen Ebenen, z.B. durch dynamische Kontraste oder durch harmonische Entwicklungen. Sinnvoll eingesetzt, kann die Tempoänderung eine zusätzliche Spannungssteigerung erwirken. Das ist beim Accelerando unmittelbar einsichtig, aber auch das Ritardando kann, z.B. wenn es in einen harmonischen Trugschluss mündet, für eine Spannungszunahme sorgen. Die Kunst besteht in der "richtigen" Dosierung an den "passenden" Stellen. Und weil dies wie so vieles dem individuellen Geschmack unterliegt, wird es oft in der Partitur vorgeschrieben.

Martin2 schrieb:
Welche Dirigenten arbeiten mit variablen Tempi?

Lässt sich IMO so pauschal nicht beantworten. Ein Dirigent fiele mir gerade ein, der immmer wieder im Verdacht steht, übermäßig emotional zu dirigieren und sich auch in Tempofragen Freiheiten herauszunehmen: Lenny Bernstein. Ich kann das bei ihm auch nicht immer und v.a. nicht überall vertragen, aber oft gefällt's.

Martin2 schrieb:
Und ich wäre sehr interessiert, mehr dergleichen zu kennen, von Dingen, die Euch in dieser Hinsicht überzeugen, weil ich einen solchen Interpretationsansatz spannend finde.

In diesem Satz stecken zwei Worte, die mir wesentlich scheinen:
- Spannend soll es sein, sonst erfüllt die Musik ihren Zweck nicht.
- Überzeugend muss es gewählt sein, in Bezug auf Zeitpunkt und Maß.
Innerhalb dieser Grenzen und "Spielregeln" scheint mir alles erlaubt, was gefällt.

Gruß
Kaddel
Martin2
Inventar
#4 erstellt: 17. Okt 2008, 20:45
Hallo Kaddel,

seit März 06 dabei und nur 21 Beiträge? Dabei scheintst Du offensichtlich äußerst beschlagen zu sein, sicher ein Gewinn für dieses Forum. Also bitte: danke, aber bringe Dich mehr ein in dieses Forum.

Gruß Martin
Klassikkonsument
Inventar
#5 erstellt: 19. Okt 2008, 23:24
Beim variablen Tempo muss noch unbedingt Willem Mengelberg genannt werden. Seine Interpretation von Mahlers 4. fällt mir als einziges mir auffallendes Beispiel für extravagante Temposchwankungen ein.
Die Aufnahme ist zwar von 1939, hat dafür aber einen guten Klang. Es gibt sie mittlerweile wohl in mehrere Billig-Ausgaben.

Viele Grüße


[Beitrag von Klassikkonsument am 19. Okt 2008, 23:26 bearbeitet]
Joachim49
Inventar
#6 erstellt: 22. Okt 2008, 21:30
Auch ich möchte hier einen Dirigenten erwähnen der zur alten Schule gehört und der es liebte aufs 'Gas' zu treten (viel mehr, denn auf die Bremse): Hermann Abendroth. Ich möchte ihn nicht nur erwähnen, sondern wieder einmal nachdrücklich empfehlen. Seine Bruckner 9 gehört zu den bedeutendsten Interpretationen dieses Werkes. ER war ein grosser Interpret der klassischen deutschen Symphonik (Beethoven, Brahms, Bruckner)und er ist zu Unrecht fast vergessen. Ich selbst schätze ihn mehr als Furtwängler und ich versuche jede Abendroth Aufnahme zu ergattern, die auf dem Markt zu finden ist. Vor allem Tahra und Arlecchio haben hier Verdienste. Die Berlin Classic Aufnahmen sieht man immer seltener. Hätte Abendroth nicht auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs gelebt, würde er wahrscheinlich noch heute bejubelt. Vor ein paar Wochen ist übrigens die erste und einzige Abendrothbiographie erschienen, nach meinem Geschmack etwas zu nüchtern und 'objektiv'. Man hat nicht gerade das Gefühl das die Autorin den Dirigenten bewundert, sondern sie absolviert eher eine Pflichtübung als Archivarin der Weimarer Musikhochschule: Irina Lucke Karminiarz - Hermann Abendroth - Ein Musiker im Wechselspiel der Zeitgeschichte.

Ein nicht allzustrenger Umgang mit den Tempovorschriften stört mich meistens wenig - ich habe zum Beispiel an Jochums Bruckner im allgemeinen wenig auszusetzen. Wenn etwas metronomisch exakt gespielt wird, dann habe ich das Gefühl, dass die Musik nicht atmet (und also schon halbtot ist). Als ein Beispiel für wunderschöne agogische Finessen möchte ich zwei Pianisten erwähnen: die Brahmsaufnahmen von Lars Vogt und das Chopinspiel des jungen Polen Rafael Blechasz (?).
Joachim
s.bummer
Hat sich gelöscht
#7 erstellt: 22. Okt 2008, 22:42
Hallo,
auf die Gefahr hin, mich in die Nesseln zu setzen:

Mir gefällt das wiegesagt, es scheint auch eine Tradition dahinterzustehen, man nennt einen solchen Interpretationsansatz wohl "romantisch" und es ist wohl keine Erfindung von Furtwängler. Heutige Interpreten schlagen eher stur den Takt.

Es ist eher eine schlechte Tradition und schlechte Angewohnheit.
Und heutige, jedenfalls die besseren, Interpreten schlagen keinesfalls stur den Takt, nur sind die Deltas in den Tempo-Veränderungen geringer.
Man denkt sich eben etwas am Gesamtwerk, nicht nur an den schönen Stellen. Die heutigen Dirigenten sind schon gut. Keine Sorge!

Jochum war mit den Berlinern bei Bruckner übrigens viel besser als mit den altersgebrechlichen Aufnahmen aus Dresden.
Und Furtwängler war immerhin jemand, dessen Agogik ein sehr klares Konzept hatte, wenn auch extrem schwankend in der Qualität. Man vergleiche beispielsweise die Eroica von 1943 (Maestro..) mit 1953(Music and Arts). In der 53iger Aufnahme sind im ersten Satz die Temposchwankungen so stark, das man seekrank wird.
1943 ist das viel harmonischer, wenn auch immer deutlich spürbar.
Das ist leider das Problem bei Dr. Willem. Es gibt so viel von ihm und darunter ist viel Gutes aber auch viel Mist, wo er außer Form war, aber dennoch ein Rekorder mit lief.
Und seine Apologeten denken sich heute das Hirn kraus, diesen Mist zu rechtfertigen. Dabei war der Meister nur außer Form.

Was übrigens früher viel häufiger vorkam als es heute toleriert würde.
Exemplarische Beispiele wären auch Lennie, der bei Mahler 2 den 1. Satz (NJP) den Anfang einfach sinnentstellt, weil er sich fröhlich über die Partiturbezeichnungen hinwegsetzt oder Knappertsbusch, dessen Schubert 9 (live bei DGG) zu einer Vollbremsung im 4. Satz führt, wo davon nix in der Partitur steht.

Schauspielern heute laufen ja auch nicht, wie noch in den 30iger Jahren oder in den Bollywood Filmen mit weit aufgerissen Augen und dramatischen Gesten alles übersteigernd umher. Sondern sie geben sich dem Werk entsprechend natürlich.
Deshalb, wenn ein Konzertstück nur wirkt, wenn dem "Affen Zucker gegeben" werden muss, vergesst es!
Oder lobt den Interpreten nicht den Autor!

Im Übrigen haben bereits Dirigenten wie Kleiber sen., Busch, Toscanini, Klemperer, Szell, Reiner, Ancerl, Cluytens, Ansermet, Leibowitz, Kondrashin, Markewitsch, Schuricht, Mrawinski, Sanderling, Roshdestwenski, de Sabata, Wand, Karajan und auch Celibidache mit solchem Tempounsinn seit mind. 50 Jahren aufgeräumt, von Jüngeren ganz zu schweigen.
Gruß S.


[Beitrag von s.bummer am 22. Okt 2008, 22:43 bearbeitet]
op111
Moderator
#8 erstellt: 23. Okt 2008, 17:16

s.bummer schrieb:
Und Furtwängler war immerhin jemand, dessen Agogik ein sehr klares Konzept hatte, wenn auch extrem schwankend in der Qualität.


Da stimme ich dir zu.

Vielleicht sollte man noch festhalten, daß tempo rubato keinesfalls eine schlechte Angewohnheit sein muß, sondern ein typisches Stilmittel der Romantik ist, aber auch den Komponisten der Klassik nicht unbekannt war.

Auch als sture Taktschläger verschriene "moderne" Kapellmeister gebrauchen durchaus Rubati, nicht nur Szell sondern auch Boulez, ganz offenkundig in der 8. Bruckner.
Martin2
Inventar
#9 erstellt: 23. Okt 2008, 18:07

s.bummer schrieb:


Jochum war mit den Berlinern bei Bruckner übrigens viel besser als mit den altersgebrechlichen Aufnahmen aus Dresden.


Wir hatten das Thema schon. Ich besitze 4, 7, 8 und 9 aus dem Berliner Zyklus und den der Dresdner. Vielleicht hat die Staatskapelle nicht ganz die Klasse der Berliner. Dafür bekommst man einen besseren Klang. Mir ist im Vergleich eher aufgefallen, daß Jochums Sichtweise auf Bruckner sich eigentlich gar nicht verändert hat, jedenfalls da, wo ich in der Lage war zu vergleichen. Da ich diese Sichtweise aber schätze, finde ich die günstige Box mit dem Bruckner von Jochum sehr empfehlenswert. Von "Altersgebrechlichkeit" ist mir gar nichts aufgefallen. Ist auch ein etwas komisches Argument, da "uralte Brucknerdirigenten" fast eher die Ausnahme als die Regel sind, siehe etwa Wand und Tintner. Tintner schätze ich auch, wiewohl die langsamen Tempi sehr Geschmacksache sind.

Danke an Joachim für den Tip mit dem Abendroth.

Ich finde Agogik kann überzeugen oder sie kann stören. In besonderer Weise überzeugt hat sie mich bei Brahms 3. mit Furtwängler und Bruckners 7. mit Jochum. Mir scheint Agogik auch bei Brahms 1. Klavierkonzert mit Rubinstein/ Mehta aufgefallen zu sein, muß das noch mal hören. Es kann auch sein, daß ich eine gewisse Art milderer Agogik nur eher unbewußt wahrnehme. Bei Leuten wie Furtwängler ist sie halt sehr deutlich.

Mir ist in jedem Fall lieber, wenn jemand ein "künstlerisches Risiko" auf sich nimmt und das gilt auch für die Agogik und damit scheitert, als zahm und risikolos zu interpretieren, wobei das Ergebnis blaß bleibt. Wobei ich auch der Meinung bin, daß bestimmte Stücke eine ausgeprägte Agogik gar nicht vertragen, während sich andere Stücke erst damit wirklich entfalten können. Und auch wenn mir Agogik nicht immer bewußt auffällt, hat die Tatsache, daß ich eine bestimmte Interpretation als langweilig empfinde oder sie mich fesselt, bestimmt auch mit der Agogik zu tun.

Gruß Martin
Szellfan
Hat sich gelöscht
#10 erstellt: 15. Okt 2010, 10:16
Nun gebe ich wohl überall meinen Senf dazu.... sorry.
Aber hier kam mir dann doch mal Mengelberg unter, den ich andernorts schon erwähnte.
Ich bin mir sogar ziemlich sicher, daß diese Tempi rubati von vielen Komponisten erwünscht waren. Von Brahms weiß man, daß er für jedes Thema ein eigenens Tempo wollte, nur eben entsprechende Metronomangaben wieder aus den partituren getsrichen hat, damit eben später man nicht das Metronom hört, sondern einen quasi erfühlten Tempowechsel.
Und genau das ist das Problem. Bei Jochum stört mich das immer wieder, bei Mengelberg nehme ich es als solchen fast nicht wahr.
Jochum klingt dabei für mich tatsächlich schlampig, denn bei ihm scheint zum Crescendo ein Accelerando zu gehören und beim Decrescendo tritt er eben auf die Bremse. Für mich ergibt das keinen Sinn, es dient nicht der Strukturierung, sondern kommt mir hier wirklich als "schlechte Angewohnheit" daher. Doch selbst so als "werktreue" Dirigenten teilweise verunglimpfte Herren wie Szell rücken ganz gewaltig das Tempo! Man nehme nur den Schlußsatz der Bruckner Dritten mit Szell, wo sonst, annähernd vielleicht noch bei Böhm, hört man das Seitenthema so schön als beinah Schubertschen Ländler daherkommen, mit einem ganz eigenen Tempo, das sich eben nur organisch in das Gesamtkonzept einfügt.
Mengelberg ist dabei natürlich ein Fall für sich. Für mich klingen seine Aufnahmen immer so, als hätte er das Ideal noch aus dem 19. Jahrhunderts ins zwanzigste "gerettet". Nachdenklich stimmt mich das jedesmal, denn er dirigiert ja Mahlers Vierte aus der Partitur, die er mit Mahler selbst erarbeitet hat. Natürlich würde sich das, was da an Rückungen stattfindet, heute niemand mehr wagen! Höchstens noch Bernstein, aber der findet eben allzuoft nicht zum eigentlichen Grundtempo zurück und so zerfasert das alles eben manchmal.
Das ist ja alles auch nicht so einfach. Mengelbergs Brahms ist so eine Referenz. Wenigstens für mich. Häufig vibratoloses Streicherspiel, Transparenz wie bei historisierenden Aufnahmen, und dagegen diese Temporückungen und Portamenti, die heute niemand mehr zu machen sich getraut. Mackarras hats ja versucht, dem "originalen" Klangbild nachzugehen. Moderne Streicher, altes Blech, wie von Brahms gefordert, der mochte eben keine Ventilhörner, ebenso zu hören die Portamenti und auch das Rücken. Aber als Gesamtbild überzeugt es mich eher nicht, klingt vieles gewollt und zu wenig "instiktiv richtig".
Paradebeispiel Beethovens Siebente mit Mengelberg. Besonders zweiter und letzter Satz. Im zweiten gelingt es Mengelberg stets, das "Gehtempo" als Grundtempo zu wahren, dennoch haben Seitenthemen eigene Tempi, weil sie ja doch andere Stimmungen erzeugen sollen. Das erweckt in mir stets den Eindruck eines Trauerzuges, dessen einzelne Personen eben unterschiedliche Gedanken bewegen, aber in der Menge doch im selben Tempo mitgehen. So vielschichtig erlebe ich diesen Satz sonst nie. Und der letzte ist ein Faszinosum, denn Mengelberg beginnt ja relativ langsam, aber zieht das Tempo bis zum Schluß unmerklich, aber stetig an, so daß es einen ja fast aus dem Sessel zerrt, weil es einen Drive entwickelt, den auch Carlos Kleiber so nicht erreicht.
Zusammenfassend plädiere ich für diese Art Agagik und gegen "Metronom- Dirigenten", aber es muß eben überzeugen und sozusagen von innen heraus entwickelt sein und nicht "gepropft" klingen wie bei denen, "die alles richtig machen" wollen.
Daß das auch heute noch geht, zeigen mir immer wieder die Aufnahmen Frans Brüggens als Dirigent. Einen guten Freund hab ich mal sehr irritiert, indem ich Brüggens Aufnahme der "Unvollendeten" manipuliert habe, Knistern unterlegt und den Frequenzgang an Mengelbegs Klang angenähert habe und dann beide abgespielt habe nacheinander. Agogisch beinah nicht zu unterscheiden. Bei weiteren Hörvergleichen dann technische Manipulationen unterlassen, aber die Nähe zu Mengelbegs Lesart ist immer wieder frappierend, Eingangschor Matthäus- Passion ebenso wie bei manchem Beethoven.
Nun ja, Brüggen wird in Deutschland ja nicht geschätzt, doch kann ich jedem besonders seine Haydn- Einspielungen nur ans Herz legen. Das eine Generalpause der Höhepunkt eines Satzes sein kann (zweiter Satz 97)glaubt einem ja kein Mensch mehr.
Wie wichtig Pausen überhaupt sind, weil sie als Ruhe und Stille den Klang ringsum überhaupt erst möglich machen, das kann man hier hören. Genauso den Humor Haydns, der ja nie so platt daherkommt wie der Witz Mozarts, aber auch diese ganz leise Melancholie des späten Haydn, die diese Musik so unglaublich reich macht, daß ich manchmal glaube, daß ich eigentlich gar keine andere Musik brauche als Haydn, denn er kann einfach alles ausdrücken...all das höre ich bei Brüggen und das sicher, weil er so frei mit Tempi umgeht, aber so genau mit Temporelationen.
Dazu kommt, das dieses Orchester und alle Drumherum, ein ganz wunderbarer "Haufen" Menschen sind. Vor ein paar Jahren hatte ich das Glück, sie alle etwas näher kennenzulernen, den Kindergarten hinter der Bühne, denn sie reisen, so es geht, immer mit ihren Familien. Dieses Uneitle auch, wenn Herr Hünteler sagt, daß er alles, was er von Musik weiß, von Brüggen gelernt hat. Und ich werde nie vergessen, daß mir zum Abschied der Manager all die wunderbaren Blumensträuße in den Arm gedrückt hat nebst einer Einladung nach Amsterdam und 50 Euro als Auslage für die Fahrtkosten und, ohne meinen Dank abzuwarten, verschwand. Mit eben dieser Art Herzlichkeit musizieren sie eben auch, und so uneitel kommt das auch rüber zu Hause. Man hört eben Haydn und nicht Brüggen oder wen auch immer, sondern die Musik und den Geist Haydns. Und wenn es das auch nicht ist, es klingt so und das zählt.
Und Zehetmair spielt Mendelssohns Violinkonzert und nach der Pause sitzt er in den zweiten Geigen und ist "Tuttischwein".
Vielleicht verständlich, daß man das in Deutschland nicht schätzt. Eben so überhaupt kein Starrummel.
Zurück aber, denn das sollte auch nur zeigen, daß diese Art sich zu geben im übertragenen Sinne auch ein variables Tempo ist und das findet man in den Aufnahmen wieder.
Herzliche Grüße, Mike
Martin2
Inventar
#11 erstellt: 18. Okt 2010, 11:47
Hallo Mike,

vielen Dank für Deinen sehr interessanten Beitrag. Es ist schön, daß Du Brüggens Haydn so sehr schätzt. Vor ein paar Monaten gab es ihm mal "im Angebot" und ich habe ihn mir auch geholt und bin sehr begeistert von ihm, auch vom Klang dieser historischen Instrumente.

Leider habe ich insgesamt nicht eine so scharfe Beobachtungsgabe wie Du, wobei Deine Beobabachtungsgabe sicher auch geschult ist. Manchmal fällt es mir eben auf, wie neulich etwa bei dem wunderbar agogisch gespielten Scherzo aus Bruckners 7. mit Abendroth, sehr interessant, der Satz bekommt bei solcher Agogik etwas raffiniertes, das ihn viel besser ins Werk einfügt als ich es anderswo kenne.

Aber wie ich schon sagte, habe ich nicht so eine genaue Beobachtungsgabe. Daß Jochum bei Crescendos das Tempo anzieht, hat auch Franz schon mal fest gestellt, ich höre so etwas selten bewußt und mir gefällt der Jochum. Nicht immer, aber oft. Ich bin eben kein analytischer Hörer. Ich finde Interpretationen meistens entweder langweilig oder spannend, kann aber nie ganz genau sagen, woran das liegt. Gut, bei Beethovens 5. Klavierkonzert mit Ashenazy etwa im ersten Satz ist mir eine gewisse Agogik aufgefallen, die mir ungemein gefiel und bei Gulda zum Beispiel und einigen anderen fehlte sie mir und der Satz erschien plötzlich langweilig.

Ich denke man merkt Deinen Beiträgen allerdings an, daß Du ein sehr intimes Verhältnis zum Musikmachen hast, während ich trotz meiner vielen Klassik CDs eben doch nur jemand bin, der einfach in seiner Freizeit gerne Musik hört und dabei noch mehr begeisterter Depp als Analytiker ist.

Gruß Martin
Szellfan
Hat sich gelöscht
#12 erstellt: 18. Okt 2010, 12:16
Lieber Martin,
habe ich den Eindruck erweckt, daß ich etwas weiß?
Ich weiß gar nichts, ich falle auf die Knie und danke einem Brüggen für das, was er macht!
Ich bin auch nur Schlosser von Beruf und habe im Hinterkopf immer das, was Szell geantwortet hat, nach seinem Rezept befragt.
Mit dem Kopf fühlen und mit dem Herzen denken.
Dabei möchte ich es belassen, denn das erklärt alles.
Fühl Dich bitte wohl bei Deinem Hören
und herzliche Grüße, Mike
op111
Moderator
#13 erstellt: 18. Okt 2010, 12:49

Martin2 schrieb:
Daß Jochum bei Crescendos das Tempo anzieht, hat auch Franz schon mal fest gestellt, ich höre so etwas selten bewußt und mir gefällt der Jochum.

Um diese Methode festzustellen, muss man aber nicht analytisch an Werk und Wiedergabe herangehen. Die meist kräftige Beschleunigung fühlt man doch sicherlich, oder?
Und das gefällt, stört oder bleibt gleichgültig.
Szellfan
Hat sich gelöscht
#14 erstellt: 18. Okt 2010, 20:47
Nochmal, Martin, Hallo.
Ein paar Beiträge weiter oben hat Kaddel sich sehr fundiert zu diesem Thema geäußert.
Vorhin wollte ich Dir nur schreiben, daß ich selbst beim Hören auch einfach nur Bauchmensch bin und froh darüber, nie mit Musikwissenschaft zu tun bekommen zu haben.
Insofern glaube ich, höre ich gar nicht so analytisch.
Daß die Beschäftigung aber mit der Theorie nicht ausbleibt, ist vielleicht verständlich.
Die ganze Agogik und Rhetorik betreffend, also das Speil mit dem Tempo,
stammt doch schon von den alten Griechen.
Eine heute noch verbindliche Schule der Rhetorik hat Quintilian verfaßt, alter Römer,
und der "Alte" Bach in seinem Musikalischen Opfer, so scheint es, hat genau diese Lehre, wie eine Rede zu verfassen und zu halten sei, musikalisch umgesetzt.
Du kennst das ja, These, Antithese, Synthese.
Und so kommt es, daß tatsächlich alle Musik seit Monteverdi und seinem streitbaren Gegner Caccini buchstäblich zu uns spricht.
Dazu gehört eben, daß man, wie beim Sprechen, Pausen macht, Betonungen setzt.
Oder aber, ich bin zu recht gerügt worden, beim Schreiben Absätze.
Diese Rhetorik in der Musik, dieses übertragene Sprechen,
ist somit ein unabdingbares Mittel, die uns als Zuhörer Musik verstehen, heißt: nachvollziehen läßt.
Und da kommt es schon vor, daß Sätze von einem anders verstanden werden als von einem anderen.
SonstwürdenwirMusikungefährsowahrnehmen.
Es kann aber auch geschehen, daß man das überbetont, dazu neigt Harnoncourt manchmal und dann wird das Erbsenzählerei.

Ohne diese Art des Sprechens durch die Artikulation, die Agogik, die Phrasierung, wäre tonale Musik gar nicht denkbar.
Bach und Telemann nutzen diese Mittel geradezu wortwörtlich, Händel etwas freier, Haydn, Mozart, Beethoven beziehen sich in ihrer Musik, aber auch in schriftlichen Äußerunmgen immer wieder darauf. Brahms genauso, der hatte sowieso viel übrig für "Alte Musik", aber eben auch Bruckner wie Du anmerkst, Mahler geht auch nicht ohne das, zu oft verwendet er schließlich irgendwelche Volksliedfragmente. Und Wagner will ja sowieso vom Wort her gehört werden.
Bis in die "Neue Musik" hinein ist diese Rhetorik ein Mittel, Musik zu "transportieren". Und wenn das geschickt gemacht wird, hört man diese Neue Musik auch gern.

Henze klingt angenehm, auch Wolfgang Killmayer, der einen wunderschönen Liederzyklus komponiert hat, den ich nicht missen möchte.

Zurück zu Haydn, der immer mit uns spricht. Da er sein letztes Quartet nicht mehr hat vollenden können, hat er einen kleinen Kanon an den Schluß gesetzt, für Streichquartett, aber mit Text. Das hat er dann auch zu seiner Visitenkarte gemacht:
„Hin ist alle meine Kraft, alt und schwach bin ich.“
Das wird bei Aufnahmen der Quartette ganz selten miteingespielt, dabei ist es so etwas wie Haydns Letzter Wille und gehört unbedingt dazu.
Das ist auf kleinstem Raum gesprochenes Wort, vermittelt durch wortlose Musik, geht noch weiter als in den "Sieben letzten Worten", in denen jeweils die letzten Worte Jesu ja auch instrumental umgesetzt werden, in der Art, wie sie ausgesprochen klingen würden.
Wenn wir hier nicht ein Forum hätten über Interpreten, würde ich den Vorschlag machen, ein Forum zu Haydn zu gründen, damit Platz wäre, sich zu ihm zu äußern.
Aber was würde sein? Ich selbst könnte gar nichts schreiben, weil ich dem, was er wie sagt, mit dem, was ich schreibe, nicht gerecht werden könnte.
Dabei erinnere ich mich immer wieder an einen Musiker des Gewandhausorchesters, der auch bei Brüggen ab und zu mitspielt. Dessen Lehrer ging so weit, daß er, wenn der Name Haydns fiel, sich jedesmal bekreuzigt hat und in Tränen ausbrach.
Das ist wohl die einzige Art, Haydn zu ehren, wenn man nicht das Glück hat, unter Brüggen Haydn zu spielen.
Szell hat gesagt, ein Orchester, das Haydn spielen kann, kann alles spielen.
Und für Szell war Lehrstück für Schüler die Einleitung der 92. Wer das dirigieren kann, kann alles dirigieren.
Und ich kleiner Mann bin froh, daß ich meiner Ex anläßlich unserer Trennung den wunderbaren Bildband von H.C. Robbins Landon über Haydn geschenkt habe.
Ich habe etwas verschenkt, das sich nie ersetzen läßt, denn mit ihr habe ich einen Menschen verloren, der sich nie ersetzen läßt.
Haydn aber bleibt.
Mir und allen, die ihn hören möchten.
Es freut mich sehr, daß Du das auch ungefähr so machst wie ich.
Ganz herzliche Grüße, Mike
Martin2
Inventar
#15 erstellt: 19. Okt 2010, 12:55
Hallo Mike,

es freut mich sehr, mit Dir hier einen Musikenthusiasten in diesem Forum gefunden zu haben, der auf Musik sehr emotional anspricht. Das gibt es manchmal auch. Musik kann einen auch mal vollkommen überwältigen. Als junger Mensch sowieso. Aber ich erinnere mich, vor ein paar Jahren mal einen lausig klingenden Opernquerschnitt von Otello gehört zu haben - Musik, die ich nicht kannte - mit Fritz Busch von der New Yorker Met von 1949 und mich hat das so emotional überwältigt, mir die Tränen in die Augen getrieben ... unbeschreiblich. Aber ich habe da nicht im Traum an "Agogik" oder solche Sachen gedacht.

Und gestern habe ich mir die große Brendelbox gekauft und mir Beethoven Sonaten angehört. Ich bin sehr begeistert und werde mich dazu noch äußern. Das ist immer schön, wenn man wieder etwas wirklich tolles für sich entdeckt.

Haydn ist für mich noch relativ neu; ich höre ihn bewußt erst seit ein paar Jahren, davor waren es immer nur so Stippvisiten. Ein Forum wie dieses ist dann auch sehr gut; die Tatsache, daß es Menschen gibt, die Haydn sehr hoch schätzen, wirkt letzlich auf einen selbst zurück. Kreisler Jr. etwa ist hier in diesem Forum jmd., der sich immer wieder für die Musik Haydns stark gemacht hat.

Mir machte es in letzter Zeit viel Freude, die Pariser Sinfonien und die Londoner Sinfonien mit Franz Brüggen zu hören - die alten Instrumente klingen herrlich. Dagegen kann ich mit den früheren Sinfonien Haydns bislang nur wenig anfangen - aber das mag sich irgendwann ändern.

Sehr große Freude machen mir aber auch die Klaviersonaten Haydns, wobei von den frühen bis etwa 20 sicher auch ein paar verzichtbar sein mögen. Die kenne ich jetzt inzwischen, dagegen die Streichquartette nur zum Teil, aber das wird sich irgendwann ändern.

Aber um zum Thema zurückzukommen: Ich bin wirklich kein sehr analytischer Hörer. Das heißt aber lange noch nicht, daß ich ein gleichgültiger Hörer bin. Ich habe glaube ich schon ein Gespür dafür, wenn Interpretationen langweilig sind; dann hat man das Gefühl, daß die Interpreten das nur vom Blatt spielen und rein gar nichts mit der Musik machen und das geht selten gut.

Natürlich ist auch ein Forum wie dieses dazu angetan, nicht immer die analytische Fähigkeit, aber doch das Gefühl dafür zu schärfen. Die Auseinandersetzungen in diesem Forum haben bei mir auch dazu geführt, daß sich bei mir im Laufe der Zeit auch einige Repertoireduplikationen eingestellt haben. Zwar gehöre ich nachwievor nicht zu den Menschen, die 50 Interpretationen von Beethovens 9. bei sich im Regal stehen haben müssen, aber dieses Forum hat nichtsdestotrotz mein Gefühl für Interpretationen ungemein geschärft.

Früher habe ich doch ein bißchen mit dem Gefühl gelebt, na ja, ich kauf mir halt Beethovens 5., so schlecht wird die Interpretation schon nicht sein. Inzwischen haben sich bei mir allerdings schon einige Aha Erlebnisse eingestellt und die Interpretation hat für mich inzwischen einen viel höheren Stellenwert als früher. Es gibt ja auch so diese Erfahrungen, daß einem bestimmte Musik nicht so besonders zusagt, aber dann hört man sie in einer anderen Interpretation und die alte Langeweile ist wie weggeblasen.

"Variable Tempi" können da sehr spannend sein und die Musik erst richtig zur Entfaltung kommen lassen, wobei ich schon das Gefühl habe ( das aber trügen mag), daß manche Dirigenten früherer Zeiten, in dieser Hinsicht auch größere Risiken eingegangen sind. Furtwängler, Abendroth und Jochum sind hier gewisse Namen. Dahinter steht gewissermaßen auch eine Tradition. Gustav Mahler etwa hat ja die Sinfonien Schumanns überarbeitet und auch als er Bruckner aufführte, da einiges gekürzt.

Ich denke dann auch wieder an Bruckner und seine ganzen "Berater", die alle besser meinten zu wissen, wie sich eine Brucknersinfonie ausnehmen müsse und den armen Bruckner zur Verzweiflung trieben.

Man hat gewissermaßen häufig den Eindruck, daß es auch mal so eine Kultur gab, wo die Ehrfurcht vor dem Werk, die wir heute haben, gar nicht vorhanden war und man mit einem solchen Werk gewissermaßen machen konnte, was man wollte ( Bruckners Sinfonien sind meistens gar nicht in von Bruckner authorisierten Fassungen hinaus gekommen).

Ist dies nicht ins Gegenteil umgeschlagen? Aber auch das weiß ich nicht. Es gibt dann anderseits doch wieder möglicherweise trotzdem auch möglicherweise falsche Traditionslinien, die sich trotz allem durchziehen. So wird Schumanns Klavierkonzert möglicherweise auch heute "standardmäßig" falsch interpretiert, weil man die Tempoangaben nicht beachtet.

So mag es denn eine deutlichere Agogik und variable Tempi geben, die aus heutiger Sicht "mutig" sind, auch gegenüber dem Werk, aber auch Traditionen, die sich gegen die ursprünglichen Intentionen des Komponisten auswirken, die überhaupt nicht mutig sind, weil mans halt "so gewöhnt" ist. Aber "Tradition ist Schlamperei" hat Mahler glaube ich mal gesagt.

Gruß Martin
Szellfan
Hat sich gelöscht
#16 erstellt: 20. Okt 2010, 05:03
Hallo Martin,
hab Dank für Deinen ausführlichen Beitrag und den persönlichen Ton.
Musik ist ja einerseits tatsächlich eine sehr emotionale Angelegenheit, zumindest beim Hören. Darum, so glaube ich, sollte man da auch in der Lage sein, alles Wissen oder Halbwissen, einfach mal beiseite zu lassen und "sich tragen lassen".
Mit dem Busch- Otello weiß ich sehr gut, was Du meinst.

Andererseits ist Musik über viele Jahrhunderte für den Komponisten auch Handwerk gewesen, darum gehört dann eben auch Handwerk dazu, beim Spiel- Interpretation geht ja dann ein Stück weiter- oder eben auch bei der Beurteilung dessen, was da gerade im Player läuft.

Ich selbst höre "Klassische Musik" seit meinem achten Lebensjahr, fast ausschließlich, eine "verbotene Liebe" pflege ich sonst nur noch zu Tom Waits, und habe damals ein erstes überwältigendes Erlebnis mit so einer kleinen Suite für Cembalo von Händel gehabt.

Komme vom Hören also aus der Barockmusik und habe mich dann im Laufe der Jahrzehnte durch die Jahrhunderte gearbeitet.
Das heißt aber, daß ich Musik fast immer noch aus dem Blickwinkel der Barockmusik betrachte. Zumindest, was das Handwerkliche angeht.

Außerdem habe ich sehr viel gelesen, irgendwann auch die alten Lehrbücher, eine Fundgrube ist ja Carl Philipp Emanuel Bachs "Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen".
Da CPE Bach ja DER Bach war für das 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, ist dieses Buch ja fast verbindlich für alle Komponisten dieser Epoche.
Du weißt, daß Mozart sagte "Er ist der Vater, wir sind die Söhne", Haydn schreibt: "Wer mich recht kennt, wird bemerken, daß ich alles bei ihm gelernt habe" und auch Beethoven hat das gelesen und das bis an sein Lebensende.
Haydn ist ohne CPE Bach kaum denkbar, das allerdings hört man besonders in den "Sturm- und Drang"- Sinfonien, in den frühen Sonaten mehr als in den späten.
Allerdings muß man die auch entsprechend spielen!
Und das Thema des zweiten Satzes von Mozarts Klavierkonzert KV453 ist tatsächlich Note für Note ein Zitat aus einem Klaviertrio von CPE.

Mozart allerdings geht ja dann eigene Wege, Haydn auch, aber er bleibt seinem Vorbild eher verpflichtet.
Und das Vorbild hat eben geschrieben, daß Musik das Gemüth stets bewegen müsse und die Musik soll so angelegt sein, daß sie ständig wechselt von Spannung und Entspannung.
Also der Hörer soll aktiv bleiben und nicht "eingelullt" werden.
Also legt CPE Bach hier Wert auf die Emotion und die emotionale Beteiligung des Hörers.

Nochmal kurz zum Schumann- Klavierkonzert. Möglicherweise stimmt das, was Du schreibst, mehr als Dir bewußt ist, aber nicht nur wegen der Tempi.
Das ist bei Schumann sowieso eine heikle Sache, er hat zwar Metronomangaben hinterlassen für viele seiner Kompositionen, aber Clara hielt es für angebracht, da zu korrigieren und so findet man oft ihre Angaben, aber nicht seine.
Dieses Verhältnis der beiden, im Zusammenhang mit Brahms, ist mir noch immer ein Rätsel.
Ich finde es heute oft sehr anmaßend, wie sie und Brahms mit Schumann umgegangen sind, heißt, mit seinen hinterlassenen Kompositionen und den Briefen. Und bin dabei dann wohl selbst anmaßend?
Staier jedenfalls hat sich ja eingehend mit Schumanns Tempi befaßt und für seine Einspielung, unter anderem der "Kinderszenen" an Schumanns Angaben gehalten. Um nur beim Tempo zu bleiben: das ist teilweise ganz schön anders als wir das kennen. Aus der Hörtradition heraus, dieser eben wirklich gewissen Schlampigkeit.

Im Klavierkonzert nun meine ich, wird vor allem rhythmisch nicht ernst genug genommen, was da steht.
Es ist ja gar nicht dieses fließende, romatische Klavierkonzert. Eigentlich stört Schumann diesen Fluß immer wieder mit sehr quer stehenden Sforzati an für den Fluß "falschen" Stellen, beonders die Klarinetten haben da viel zu tun. Das auch nicht von ungefähr, denn "Klarinette" ist die Verkleinerung von "Clarine" und das ist nichts anderes als eine Trompete.

Besonders das Spätwerk Schumanns ist da für mich eine Entdeckung gewesen, dieses Violinkonzert ist Neobarock pur.
Allerdings auch nur dann, wenn man Schumanns Vorschriften ernst nimmt und dann soll es so langsam gespielt werden, daß es dadurch fast unspielbar wird. Harnoncourt schlägt ja den "richtigen" Weg ein, aber wieder mit seinem Zeigefinger: Hört, SO muß man das machen, ich weiß es ganz genau.
Die Aufnahme mit Hans Heinz Schneeberger unter Florian Merz
war da viel überzeugender, auch wenn Schneeberger bei der Aufnahme schon 70 war und rein technisch nicht mehr im Vollbesitz der manuellen Fähigkeiten.
Viel eher aber hört man bei ihm, besonders im letzten Satz, dieser Polacca, das Spiel Schumanns mit der Tradition. Eine Polacca ist ein langsamer Tanz, rhythmisch gar nicht so einfach gestrickt und eben doch ein Tanz.
Schumann entwickelt im Spätwerk ja sowieso so eine ganz seltsame Heiterkeit und Freude. Ich sag immer, daß Schumann nicht verrückt war, der war in Endenich endlich frei.

Auch Brahms ist einer, der sich intensiv mit "Alter Musik" beschäftgt hat und das hört man.
Nimm mal als Paradebeispiel die Vierte. Schon das Thema des ersten Satzes ist rhetorisch nicht romatisch, sondern Sprache. Hanslick, der böse, wortgewaltige Kritiker hat ja die Worte unterlegt:" Mir fällt heut wieder gar nichts ein".

Stimmt insofern, als er verstanden hat, daß dieses Thema so eine Art erster Satz eines Romans ist, eine Keimzelle, aus der heraus das ganze Gebäude entwickelt wird. So wie, z.B. Christoph Hein seinen Roman "Der fremde Freund" mit dem Satz beginnt: "Es geht mir gut".
Auch kein großartiger Satz für einen Romananfang, aber absolut richtig und nur so ist das, was dann im Buch folgt, sinnvoll.

Und der letzte Satz der Vierten ist ja in seiner Verbindung von Sonatenhauptsatz und Passacaglia, diesem uralten spanischen Schreittanz, ohne barocken Hintergrund nicht denkbar. Salopp gesagt: Händel mit anderen Mitteln.

Die ganze Sinfonie für mich immer wieder Anlaß zu intensiver Beschäftigung, davon hab ich dann tatsächlich Dutzende Einspielungen.
Allerdings kommt keine für mich heran- und da bin ich endlich wieder beim Thraed- Thema angekommen- an die alte Aufnahme Mengelbergs aus den Dreißiger Jahren.
Mengelberg ist nun wohl wirklich der Dirigent, der mit Tempi so variabel umgeht wie kein anderer.
Er war ja neben Toscanini mal Chef der New Yorker und da geraten zwei Welten aufeinander. Toscanini war ein erklärter Feind Mengelbergs, hatte aber auch gar nichts übrig für dessen Art Freiheiten.

Dabei wollten beide werktreu sein. Und da liegt "der Hase im Pfeffer", was ist das, werktreu? Für Toscanini war das Notentreue, für Mengelberg die Suche nach der Aussage des Stücks.
Wer hat denn nun recht?
Schöne Geschichte ist dabei die Aufnahme Mengelbergs von Schuberts "Großer C-Dur Sinfonie".
Damals war als Notenausgabe nur die zu haben, die Brahms herausgegeben hatte und der hat in der Einleitung vergessen, bei der Tempoangabe das C durchzustreichen, heißt, er hat damit das Tempo mal eben halbiert.
Daher rührt, bei Furtwängler so schön nachzuvollziehen, dann beim Übergang zum Hauptteil, diese so seltsam wirkende Beschleunigung.
Mengelberg allerings ging mit einem Freund am Strand spazieren und rief laut aus: Das muß das richtige Tempo sein! Also ein zügiges Gehen, was im Widerspruch steht zu dem, was in den Noten steht.
Heute gibt es revidierte Notenausgaben und da wird dann klar, daß Mengelberg instinktiv das richtige Tempo gewählt hat. Also eben werktreuer war als Toscanini mit seiner Notentreue.
So geht Mengelberg auch an Brahms heran, um bei der Vierten zu bleiben, "spricht" das Hauptthema ja wirklich. Im Sinne der barocken Klangrede. Und darum "überzieht" Mengelberg schon in diesen ersten paar Takten die Vorhalte im Sinne einer Betonung der wichtigen Worte innerhalb des ganzen - gesprochenen- Satzes. Ein Vorhalt ist eine Dissonanz und laut Rhetorik muß die mehr betont werden als die Konsonanz, denn so wird der Hörrer bewegt und angeregt.
Eine Analyse will ich hier nun wirklich nicht abgeben,
das Hören bringt da eh mehr als das darüber schreiben.
Spannend immer wieder, wie Mengelberg das im letzten Satz hinbekommt,
den Schreittanz, der ja sozusagen starr ist im Metrum, zu achten, aber "oben drüber" sehr frei mit den Temporückungen Licht und Schatten erzeugt, verschiedene Gemütslagen und Stimmungen anregt und alles dennoch wie aus einem Guß bleibt.
Für mich dazu eigentlich nur ein Wort paßt; genial.

Vor ein paar Wochen habe ich die Aufnahme Gardiners gehört und konnte mir nicht verkneifen, einem Freund, der noch dazu mit Gardiner befreundet ist, in einer mail meine Meinung auseinanderzusetzen. Das kopiere ich hier mal mit rein, auch wenn, liebe Moderatoren, da sicher die Absätze fehlen.
Auch in der Hoffnung, daß das nicht ausufert vom Platz.

"Kommt da wieder der alte Klugscheißer bei ihm durch, der er früher ja so gerne war?

Totbuchstabiert das Stück! Hat er überhaupt etwas davon verstanden, vor lauter Silben, keine einzige Phrase hat noch Sinn!

Proben muß man das Stück sicher gründlich, aber es gibt doch wohl kaum eins, daß man dann einfach am besten "laufen läßt". Soll sich mal den Kleiber ansehen, der kann das, auch wenn man nicht mit allem einverstanden sein muß.

Aber ist wohl zu sehr Musikwissenschaftler, so auf die gelehrige Art, um mal Mengelberg gelten zu lassen. Gott, die spielen auch weitgehend ohne Vibrato und die Portamenti haben ihren, instinktiv richtig erfühlten Sinn, anders als das hilflose Geschlenker bei Sir John, der sie nur macht, weil Brahms sie wollte. Außerdem hat Mengelberg den Sinn übers ganze zu denken und auf ein Ziel zu musizieren, darum darf er die Tempi so (unverschämt) und unverschämt richtig rücken. Sonst hört man doch gar nicht, was Brahms auch geschrieben hat: Jedes Thema muß sein eigenes Tempo haben. Man muß nur zurückfinden können. Und Brahms hat auch gesagt" Das Leben nimmt uns mehr als der Tod" und das darf man, besonders im dritten satz unbedingt hören, dieses fast Stillstehen, das nur durch mutwillige Heiterkeit weitermachen läßt. Und nicht zuletzt ist eine Passacaglia ein Schreittanz, da zwingt sich Brahms doch geradezu zum Weitermachen im letzten Satz. Und wenns um Logik geht, die man hörbar machen möchte, dann eben doch wieder Szell, der verstanden hat, daß das ganze Stück nur ein einziges Tempo hat, nämlich das des letzten Satzes. Darum darf der erste diesen langsamen Walzer abgeben.

Hättest ihm mal die Aufnahme kopieren sollen, die ich auch von Dir habe, den Genfer Mitschnitt des Klarinettenquintetts von 49 mit dem Vegh- Quartett, da hört man diesen besonderen Brahmsschen Herbst und diese zwanghafte Heiterkeit dessen, der sich so gern hat betrügen lassen. Und sich hat heimlich seine Hosen enger machen lassen um sich einreden zu können, doch zugenommen zu haben und dessen, den Mahler so trefflich beschreibt bei seinem letzten Besuch, diesen einsamen Mann am Fenster, den er beim Gehen durch den dunklen Korridor so jenseitig empfunden hat.

Sicher, bei Brahms hat Biographie in der Musik wenig zu suchen, Aber man kann sie hören können ohne sie zu kennen, eben bei Mengelberg oder ahnen bei Szell und vermuten bei Kleiber. Bei Gardiner hört man gezählte Erbsen und das ist einfach viel zu wenig.

Brrrr, genug. Verzeih mir meinen Zorn. Icke hab ja sonst nüscht zu tun."

War nun wirklich eine private mail und eigentlich nie für ein offizielles Forum bestimmt, also eine ganz persönliche Meinung und darum anfechtbar. Man möge mir verzeihen!
Genug jetzt aber, Dir und allen einen schönen Tag,
Mike
Joachim49
Inventar
#17 erstellt: 20. Okt 2010, 13:18
Hallo Mike,
Dein Beitrag macht mir schmerzlich bewusst, wie wenig ich von Mengelberg habe und vor allem, dass mir sein Brahms fehlt. Ich habe gerade Schuberts Neunte im Hintergrund mal wieder laufen - die hatte mir auf Anhieb sehr gut gefallen. Im Bruch Violinkonzert mit der grossartigen, aber kaum noch bekannten Giulia Bustabo, ist es mir zum ersten Mal passiert, dass mich die "Orchesterbegleitung" genau so in den Bann gezogen hat wie die Solostimme. Wer das Bruchkonzert nichtmehr ertragen kann, sollte sich diese Aufnahme mal anhören. Dann hab ich noch die hochinteressante Mahler 4, die ja schon in der ersten Sekunde aufhorchen lässt, weil sie vom üblichen Trott glaubhaft abweicht.

Gut, auf die nächste jpc bestellung muss der Brahms mit Mengelberg. Auf Sir Johns Brahms war ich sehr neugierig - und er hat mich sehr enttäuscht. Hat mich völlig kalt gelassen, was ich eigentlich für unmöglich hielt. Auch sein Deutsches Requiem habe ich emotionslos 'beobachtet' (auf dvd). Inzwischen beginnt Herreweghe Brahms zu spielen, da hab ich noch berechtigte Hoffnung auf einen überzeugenden HIP-Brahms.

Bei deinen früheren postings hatte ich den Eindruck, dass du aus den "neuen" Bundesländern, also der Ex-DDR oder SBZ kommst. (links zu websites in kyrillischer Schrift sind ja verdächtig ). Da würde es mich sehr interessieren, ob du den Brahms, oder andere Aufnahmen mit Abendroth kennst. (Auch er hat eine sehr gelungene Schubert 9 aufgenommen).

Und dem Händelsuitenfreund noch die Empfehlung Ragna Schirmer - oder darf's nur auf dem Cembalo?

mit freundlichen Grüssen
Joachim
Martin2
Inventar
#18 erstellt: 20. Okt 2010, 13:52
Hallo Mike,

zum Schumann noch mal. Ich hörte vor ein paar Wochen eine Radiosendung, die sich genau mit diesem Thema beschäftigte. Diese Sendung setzte sich auch besonders mit den Tempoangaben von Schumann auseinander. Es gab dann auch eine Einspielung des Schumannschen Klavierkonzerts, die den Schumannschen näher kam; ich bin allerdings wirklich ein Dummkopf, den Interpreten vergessen zu haben.

Der andere Fokus der Sendung waren eben die auch von Dir angesprochenen Kinderszenen, wo man die Einspielung Weissenbergs mit einer fürs Radio angefertigten Einspielung verglich, die sich genau an die Schumannschen Vorgaben hielt. Nun ich muß zum einen sagen, daß ich den Vergleich mit dem Weissenberg nicht fair finde, weil der die Tempi viel mehr schleifen ließ als Kempff und Demus.

Ich mag den Kempff immer noch sehr gerne und die Schumannschen Tempovorgaben haben mich nicht überzeugt. "Von fremden Ländern und Menschen" und die "Träumerei" werden da wirklich in einem sehr schnellen Tempo gespielt, das mir nicht zusagt.

Erlaubt ist letzlich, was gefällt, und mir gefallen die Schumannschen Tempoangaben eben nicht und ähnlich sieht es beim Beethoven aus.

Trotzdem sollte man natürlich den Komponistenwillen nicht übergehen. Dabei hielte ich es für falsch, den Tempoangaben einfach sklavisch zu folgen, aber eine Interpretation, die "in der Tendenz" dem Komponisten mehr folgt, ist möglicherweise einer davon völlig abweichenden Interpretation tatsächlich vorzuziehen. So fand ich die 14 Mimuten für den Trauermarsch von Beethovens Eroica beim Krips tatsächlich sehr überzeugend und sie ging, im Vergleich zu Karajan, Solti oder Blomstedt, in die Richtung der Authentizität, während ich heute oft den Eindruck habe, daß "vollkommene Authentizität" erreicht werden soll und der ist am "Authentischsten", der am genauesten die vorgegebenen Tempoangaben erreicht.

Übrigens gibt es vom Mahler auch die von ihm eingespielten Velte Mignon Rollen, die natürlich in ihren Tempi auch einen gewissen Komponistenwillen dokumentieren. Dabei wirkt der 1. Satz der 5. Sinfonie in Gestaltung und Tempo "völlig normal", der 4. Satz der 4. Sinfonie "von den himmlischen Freuden" dagegen vollkommen überhastet. Auf der CD, die ich habe, wird dann noch der Versuch gemacht, die von Mahler eingespielten Liedsätze mit Sängern aufzuführen und die brechen sich dann teilweise einen ab, um dem schnellen Tempo Mahlers überhaupt folgen zu können.

Der von Dir geschätzte Szell spielt in seiner großartigen Einspielung von Mahlers 4. ( liebe diese Einspielung sehr) den letzten Satz dann auch mindestens 50% langsamer als Mahler - aber mir gefällt er so sehr und ich möchte ihn auch nicht anders hören.

Gruß Martin


[Beitrag von Martin2 am 20. Okt 2010, 14:02 bearbeitet]
Szellfan
Hat sich gelöscht
#19 erstellt: 20. Okt 2010, 14:20
Hallo Joachim,
ja, ich bin "Ossi", aus der Nähe von Berlin.

Jetzt auch Dir Dank für Deine Antwort, Du erinnerst mich an das Bruch- Konzert mit Bustabo/Mengelberg.
Als ich das das erste Mal hörte, ging es mir ganz genauso wie Dir.
Auch muß ich mir diese "Streicher"- CD unbedingt mal wieder anhören, die Tschaikowsky- Serenade ist meine "Leib-und Magen- Musik" nun eben nicht, aber mit Mengelberg habe ich sie als etwas Besonderes im Ohr.

Abendroth habe ich vor vielen Jahren das letzte Mal gehört, auch den Schubert, aber ich kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern.
Damals hat er mich kalt gelassen. Da Du das aber schreibst, muß ich mal forsten und wieder etwas anhören, man lernt ja immer noch.
Bei mir läuft gerade die Brahms Dritte mit Scherchen, die höre ich immer wieder sehr gerne. Scherchen eben, voller Energie.

Tja, Gardiner. Einige der alten Erato- Platten mag ich immer noch sehr, sein Händel bei Philips und DG haben mich fast gelangweilt und spätere Sachen ja manchmal fast geärgert.
Oder belustigt, so wie das Bonus- Interwiev in der ersten Ausgabe der Beethoven- Sinfonien, auf der man doch tatsächlich hören konnte: "Als Joseph Joachim zu Beethoven sagte..." Aber auch die Aufnahmen selbst sind stromlinienförmig in ein Ohr rein und aus dem anderen wieder raus bei mir.
Savalls "Eroica" war dann dagegen ein Aha- Erlebnis.

Und dann kamen die Bach- Kantaten bei SDG.
Der Freund, von dem ich oben schrieb, riet mir, mir die mal anzuhören.
Da war ich wirklich platt, manche Kantate ist mir erstmal richtig aufgegangen und auch zu Herzen.
(Übrigens: SDG heißt nicht nur Soli Deo Gloria, sondern, so Gardiner selbst: Scheiß Deutsche Gramophon)
Darum also hatte ich ja Hoffnung, daß der Brahms auch ein Gewinn sein könnte. Und sah mich, so wie Du, schwer enttäuscht.
Das "Deutsche Requiem" habe ich vor einer Weile am Radio gehört mit Arsys, Pierre Cao und dem Concerto Köln, das fand ich ausgezeichnet.
Klar, ohne Romantizismen, aber eben doch nicht kalt. Und Rosemary Joshua war mit Abstand die bessere Besetzung für den Sopranpart als Frau Fuge mit ihrem Stimmchen, das nichtmal richtig sitzt.
Naja, in der Mengelberg- Box, die ich habe, ist das Deutsche Requiem ja auch mit drin.

Jetzt aber hast Du mich dann doch erwischt: Händel gehört für mich aufs Cembalo. Bei Bach ist mir das egal, selbst bei Scarlatti, aber Rameau und Händel geht für mich nur an der "Nähmaschine". Einfach weil Händel ja in den Noten nur das Skelett notiert hat und der Spieler auffüllen muß ohne Ende, um da Fleisch draufzukriegen. Und da eignet sich das Cembalo eben besser, weil es bei den dann zahllosen Verzierungen leichter anspricht als das Klavier, der Satz nicht verunklart wird.
Warum hat Gould für Händel das Cembalo gewählt?
Und eine nicht oder wenig verzierte Händel- Suite am Klavier klingt für mich immer wie ein ganz schwacher Bach. Obwohl ich sonst doch beide gleichermaßen schätze, die unterschiedlichen Welten, in denen beide lebten und komponierten, nicht zum Anlaß nehme, sie zu vergleichen.
Und für Händel am besten ein richtig großes Instrument, erste Wahl ein Hamburger Hass mit 16- Fuß- Register. (Rampe bei MDG, wenn auch wieder so verhangen aufgenommen.)

Ich weiß, daß Brüggen alle Brahms- und Schumann- Sinfonien längst im Kasten hat, es ist wohl nur eine finanzielle Frage, die fertig zu produzieren. Ein wenig kenne ich davon schon, seine Schumann- Vierte war wirklich famos. Läßt hoffen. Mir ist Herreweghe manchmal vom Grundansatz etwas zu melancholisch, der Biss fehlt, aber ich will ja nicht vorab urteilen.
Wird jetzt kein Roman, hab mich erkältet. Ohren leider mit zu beim Schnupfen, ärgerlich.
Dir und Euch herzliche Grüße, Mike
Szellfan
Hat sich gelöscht
#20 erstellt: 20. Okt 2010, 14:46
Hallo Martin,
da ich mich erkältet hab und mir tüchtig der Schädel brummt, wirds ne knappe Antwort.
Ist doch auch mal schön.
Aus meiner Hörerfahrung heraus neigen Komponisten als Interpreten eigener Werke fast immer zu sehr schnellen Tempi, Mahler ist da keine Ausnahme.
Außerdem, hoffe ich, habe ich nicht den Eindruck erweckt, Authentizität sei für mich "Maß aller Dinge" und wenn doch, dann hoffentlich nicht aufs Tempo reduziert.
Eigentlich schreibst Du ja genau auch meine Meinung dazu, diese Freiheiten dürfen und sollen auch sein.
Und doch ist es sinnvoll, wenn der Interpret diese ganzen Hintergründe kennt und so manche Temporelation ergibt sich in den "vorgeschriebenen" Tempi von selbst.

Ist Dir mal aufgefallen, daß gerade im Trauermarsch der "Eroica" die Pauke das Motiv der Kontrabässe zu Beginn übernimmt? Das geht nur bei einem relativ zügigen Tempo, also die Bässe streichen das weniger als das sie es anstoßen und erst dann kann man das hören.

Mich persönlich überzeugen Beethovens und auch Schumanns Metronomangaben durchaus, nur sind zwei Dinge nicht unerheblich dabei.
Ein Metronom soll ja den Dirigenten nicht ersetzen, der dann eben doch variable und nicht sklavisch mit den Angaben umgehen sollte.
Und zweitens sind wir halt groß geworden mit einer kuschligen Träumerei und da weigern wir uns innerlich schon ganz gern, vom Gewohnten abweichend zu hören.
Der altbekannte innere Schweinehund.
Soweit erstmal,
herzliche Grüße, Mike
Martin2
Inventar
#21 erstellt: 20. Okt 2010, 15:06
Hallo Mike,

gute Besserung, aber meistens geht so etwas schnell vorbei, war bei mir neulich auch so.

Gruß Martin
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