Chassis überlasten, was passiert?

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bde2
Ist häufiger hier
#1 erstellt: 01. Okt 2020, 11:41
Moin,

mich beschäftigt im Moment eine vermutlich ganz dumme Frage, auf die ich nach kurzer Internetrecherche keine zufriedenstellende Antworte finden konnte.

Angenomen, man habe einen Tieftöner, der über einen maximalen linearen Hub von +/- 5 mm und einen maximalen mechanischen Hub von +/- 10 mm (vielleicht durch die Sicke/Zentrierspinne oder Aufschlagen des Schwingspulenträgers auf die Polplatte begrenzt, keine Ahnung) vefügt. Außerdem beträgt die maximale elektrische Dauerbelastbarkeit 100 W.

Nun kenne ich eigentlich nur zwei Arten, das Chassis zu überlasten:

1. Mechanisch, das geht wohl auch mit deutlich weniger als der maximalen elektrischen Leistung, z.B. bei Betrieb deutlich unterhalb der Resonanzfrequenz.
2. Oder eben elektrisch, indem man dauerhaft mehr als die 100 W zuführt und die Schwingspule irgendwann "verglüht" oder sich vom Träger löst oder was auch immer.

Der oben genannte Tieftöner mag - je nach Gehäuse - schon mit 20 W bei 10 Hz mechanisch überlastet sein und anschlagen, bei 300 Hz und 100 W Eingangsleistung aber vielleicht nur +/- 2 mm Hub machen. Er verlässt also noch nicht mal den linearen Arbeitsbereich, wird aber auf Dauer trozdem elektrisch zerstört.

Was ich mich nun Frage: Was passiert bei kurzen Impulsen mit erheblich höherer Eingangsleistung? Also die Einwirkdauer so kurz ist, dass sich die Schwingspule nicht nennenswert erhitzt. Ich weiß wohl, dass es sowas wie "power compression" gibt, der DC-Widerstand der Spule also irgendwann steigt. Kann man das bei kurzen Impulsen vernachlässigen?

Kriege ich das o.g. Chassis z.B. mit einem 400 W - Impuls bei 300 Hz zu (doppelter Hub = vierfache Leistung?) +/- 4 mm Hub animiert, oder begrenzt dann irgendwas anderes?

Mich verwirren die Musik-/Impulsbelastbarkeitsangaben von Chassis. Wie sieht es mit den Verzerrungswerten aus, wenn das Chassis elektrisch überlastet wird, thermisch aber noch einigermaßen funktioniert (kurze Impulse) und mechanisch weit von der Belastbarkeitsgrenze entfernt ist, z.B. am oberen Ende des Übertragungsbereichs?

Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt.

Beste Grüße

bde2
SagIchNicht5582
Stammgast
#2 erstellt: 01. Okt 2020, 12:11
Ich habe aber mal einen 70Watt Tieftöner in CB mit 180Watt betrieben, im Musikbetrieb ist nichts passiert.
Bei einer Sinusfrequenz auf voller Lautstärke hat das Chassis nach 15 Sekunden angefangen zu stinken.

Verzerrt hat da nichts, das Gehäuse war sehr klein und somit wurde die mechanische Grenze nie überschritten.
Das hängt natürlich vom Chassis und der Freqenz ab wann es verzerrt.

Also ich denke dass man kurzzeitig für kleine Impulse ohne Probleme deutlich mehr Leistung zuführen kann, solange der Treiber mechanisch nicht kaputtgeht.
inex1
Stammgast
#3 erstellt: 01. Okt 2020, 21:39
Hallo,

es gibt keinen Grund, wieso es nicht gehen sollte.
Nur mit zunehmender Leistung wird das Zeitfenster immer kleiner, bis der Draht der Coil irgendwann instant verdampft

Siehe P.M.P.O. Messung. Jeder 2W Radiolautsprecher hält eine ms 100W aus


Gruß Daniel
the_flix
Inventar
#4 erstellt: 02. Okt 2020, 09:45
Du stößt hier auf das Problem der Leistungsdefinition bei AC-Signalen.
Bei DC ist die elektrische Leistung recht einfach definiert, P = U*I. Sie ist damit zeitunabhängig, da die Eingangsgrößen Strom und Spannung ebenfalls zeitkonstant sind.

Bei einem AC-Signal ist das nun nicht mehr der Fall. Wenden wir die gleiche Formel an, erhalten wir eine zeitabhängige Leistung. Damit kann man aber recht wenig anfangen. Will man einen zum DC-Fall vergleichbaren Wert erhalten (Signal erzeugt identische Wärme an einem fixen Widerstand), so muss ein zeitlicher Mittelwert gebildet werden. Diesen erhält man durch die Multiplikation der RMS-Werte (root mean square) von Strom und Spannung: P = Urms*Irms.

Betrachten wir den einfachen Fall eines unendlich langen Sinussignals konstanter Amplitude. Solange das betrachtete Zeitfenster wesentlich größer ist, als die Periodendauer der Frequenz, ist seine exakte Länge irrelevant. Die RMS-Werte sind in diesem Fall konstant und betragen das 1/Wurzel(2)-fache der Maximalamplitude.
P = Urms*Irms = Umax/sqrt(2) * Imax/sqrt(2) = Umax*Imax/2

Etwas komplizierter wird es, wenn wir es mit Sinus-Bursts zu tun haben, also einer Abfolge von hoher und niedriger Amplitude. Hier kann man bereits 2 "Leistungen" angeben, einmal über ein Zeitfenster, welches nur den Anteil mit hoher Amplitude betrachtet und einmal über ein Zeitfenster, welches das gesamte Signal umfasst.

Richtig spannend wird es, wenn wir reale Musiksignale betrachten oder standardisierte Rauschsignale, welche für Testzwecke das Verhalten von realen Signalen nachbilden sollen. Die RMS-Berechnung ist hier sinnvoll nur über ein langes Zeitfenster möglich, sodass sich ein konstanter Wert einstellt. Dieser entspricht der thermischen Dauerleistung bzw. Belastung.
Man kann zusätzlich eine maximale Leistung angeben. Hierbei gibt es zwei Ansätze. Der erste ist einfach die Multiplikation der Maximalwerte von Strom und Spannung. Allerdings ist dieses Vorgehen meiner Meinung nach nicht korrekt. Erinnern wir uns an die Leistungsdefinition eines Sinussignals, diese beträgt die Hälfte des Produkts aus maximaler Spannung und maximalem Strom. Und genau so gibt man in der Regel auch die "Maximalleistung" eines beliebigen Audio-Signals an:
Pmax = Umax*Imax/2

Leistungsangaben werden verwendet, weil sie anschaulicher erscheinen. Bei genauerer Betrachtung stößt man damit aber schnell auf Verständnisprobleme. Was verstehen wir denn genau unter einem 400 W Impuls? Einen Sinus-Bursts mit Länge x und (RMS-)Leistung von 400 W über der Zeit der Maximalamplitude? Oder den Peak im Rauschsignal mit U*I = 400 W in diesem (Abtast-)Punkt? Oder letzteres geteilt durch 2?

Eigentlich geht es auch weniger um Leistungen, als um Spannungen. Die Endstufe stellt in erster Linie eine Spannung bereit, der Strom und damit eine Leistung ergibt sich durch die Impedanz des Lautsprechers. Da diese frequenzabhängig ist, wird die Leistungsangabe und Berechnung noch komplizierter.

Die Belastungsangaben von Chassis sind nur nachzuvollziehen, wenn der Messstandard dazu angegeben ist (z.B. nach AES Standard). Es gibt unzählige Methoden, mit der man versucht, die zeit- und frequenzabhängige Belastbarkeit (bzw. korrekter maximale Eingangsspannung) eines Chassis in einer oder wenigen Zahlen zu beschreiben. Welche davon am besten mit den realen Betriebsbedingungen übereinstimmt, ist höchst umstritten und auch in großem Maße von den konkreten Betriebsbedingungen abhängig.
Die Angabe von Leistungen für kurzzeitige Belastungen ("Musik/Impuls/Programm/...") versucht eben dem Verhalten Rechnung zu tragen, dass ein Chassis in der Regel kurzzeitig eine wesentlich höhere Eingangsspannung zerstörungsfrei verarbeiten kann, als die maximale Eingangsspannung ohne zeitliches Limit. Die thermischen Zeitkonstanten eines Chassis sind im Vergleich zu den meist auftretenden Impulsen sehr lang.

Der Aspekt der Verzerrungen wird dabei meines Wissens nach erst einmal außen vor gelassen. Er kommt bei der Messung des erzielbaren Maximalschalldruckpegels wieder ins Spiel. Was ein Chassis wirklich kann, siehst du im Grunde erst hier. Es bringt dir ja nichts, wenn es ab Leistung x zwar noch nicht kaputt geht, aber Klirr weit jenseits der 10 % THD produziert.
bde2
Ist häufiger hier
#5 erstellt: 02. Okt 2020, 10:42
Danke für eure Antworten!


the_flix (Beitrag #4) schrieb:
Der Aspekt der Verzerrungen wird dabei meines Wissens nach erst einmal außen vor gelassen. Er kommt bei der Messung des erzielbaren Maximalschalldruckpegels wieder ins Spiel. Was ein Chassis wirklich kann, siehst du im Grunde erst hier. Es bringt dir ja nichts, wenn es ab Leistung x zwar noch nicht kaputt geht, aber Klirr weit jenseits der 10 % THD produziert.


Mal angenommen, ich stecke in einen nicht eingebauten Peerless SLS 12 (8 Ohm, 100 W Nennbelastbarkeit) für eine Sekunde ein Sinussignal mit 60 V_eff bei 500 Hz. Dabei macht der Woofer kaum sichtbaren Hub und die Schwingspule wird auch noch nicht besonders heiß. Trotzdem hört sich der resultierende Ton wie aus einem Sägezahngenerator an.

Was ist denn der Grund für diese extremen und deutlich hörbaren Verzerrungen? Kommt die gesamte Membran inkl. Aufhängung nicht mit und "bricht" auf?
the_flix
Inventar
#6 erstellt: 02. Okt 2020, 11:10
Die Ursachen von Verzerrungen von Chassis sind zugegeben nicht mein Spezialgebiet. Aufhängung, Membran, da gibt es viele potentielle Ursachen.
Ich habe auf die Schnelle hier eine Verzerrungsmessung des Chassis gefunden, die darauf hindeutet, dass es bei 500 Hz schnell hohe Verzerrungen produziert:
Verzerrungsmessung SLS12
60 V_eff für 1 Sekunde sind recht viel für ein Chassis mit einer so kleinen Schwingspule (1,5"). Dabei reden wir ungefähr vom 4-fachen der Nennbelastbarkeit (die Impedanzkurve ist im Datenblatt zu grob für eine genauere Aussage). Dass ein Chassis dabei ordentlich zerrt, finde ich nicht so ungewöhnlich, zumal die Frequenz eindeutig außerhalb seines Anwendungsgebiets liegt.
Nur zur Sicherheit: Dein Anregungssignal hat einen ausreichend niedrigen Klirrfaktor? Nicht dass da schon was zerrt.
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