Gehe zu Seite: |vorherige| Erste 2 3 Letzte |nächste|

* Neue Musik - Komponisten und Werke

+A -A
Autor
Beitrag
AladdinWunderlampe
Stammgast
#51 erstellt: 01. Feb 2007, 00:04
Liebe Musikfreunde,

vielen Dank für den Zuspruch, mit dem ihr auf die Berio-Beiträge reagiert habt.

Als kleinen Nachtrag möchte ich alle Interessierten noch darauf hinweisen, dass die diesjährige Kölner MusikTriennale einen thematischen Schwerpunkt auf die Musik von Luciano Berio legt; unter anderem wird dort am 11. Mai 2007 auch die Sinfonia erklingen - und zwar kombiniert mit Claude Debussys La Mer und Berioschen Instrumentierungen früher Mahler-Lieder. Die Ausführenden sind der Bariton Bo Skovhus, die Neue Vocalsolisten Stuttgart und die Bamberger Symphoniker-Bayerische Staatsphilharmonie unter der Leitung von Jonathan Nott.

Weitere Informationen dazu finden sich hier:

MusikTriennale Köln 2007

Ein zweiter Hinweis gilt einer DVD, die neben einer Dokumentation über Riccardo Chailly und seine Beziehung zum Royal Concertgebouw
Orchestra (Riccardo Chailly - Attrazione D'Amore) auch eine Dokumentation über Luciano Berios Sinfonia enthält ("Voyage to Cythera") [JP 2970191].



Aber natürlich gibt es neben Luciano Berio auch noch sehr viele weitere faszinierende Komponisten Neuer Musik. Darum bin ich auf eure Beiträge zu diesem Thread - vielleicht zu ganz anderer Musik - sehr gespannt. Und keine Angst angesichts der teilweise etwas ausufernden Textänge mancher vorangegangener Beiträge: Keiner muss hier Romane schreiben oder sich besonders hochgestochen ausdrücken. Erzählt, was Euch gefällt und warum, diskutiert, widersprecht - und lasst Euch zum Hören verführen.



Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 01. Feb 2007, 12:48 bearbeitet]
Uwe_Schoof
Ist häufiger hier
#52 erstellt: 02. Feb 2007, 15:43
Hallo,

die Beiträge zu Berios "Sinfonia" und das Interesse dafür finde ich prima.

Ins Auge fällt mir auch der Beitrag zu Schönbergs Streichtrio. Im Gegensatz zu vielen anderen Stücken in dieser Besetzung wirkt dieses Werk nicht dünn, d.h. ein weiteres Streichinstrument zwecks weiterer Verdichtung ist nicht vonnöten. Das op. 45 ist wirklich mitreißend. Das Interesse teile ich mit Zerebralzebra, wie auch folgende Feststellung:

Modern wirkt diese Musik nicht zuletzt durch ihren fragmentarischen Charakter, bei dem verschiedene Abschnitte immer wieder abbrechen und durch Pausen getrennt sind. Aber gerade das erinnert mich an den späten Beethoven, besonders den ersten Satz seines Streichquartetts op. 130, wo sich ja auch recht schroff Adagio- mit Allegro-Abschnitten abwechseln.

Sowohl Beethoven wie auch Schönberg gelingt es in diesen Werken trotz dieser abrupten Wechsel Einheitlichkeit und Spannungsbogen zu bewahren; es wirkt alles wie aus einem Guss.

Das ist für mich eine der besonderen Stärken dieser beiden Werke.

Gruß,

Uwe
Schneewitchen
Inventar
#53 erstellt: 02. Feb 2007, 20:09
Wer kennt Gordon Sherwood oder eines seiner Werke?
Mit 77 Jahren komponiert er noch munter drauf los,nachdem er jetzt in einem bayerischen Altersheim seßhaft geworden ist. Er beherrscht sein Metier meisterhaft. Er war Schüler von Aaron Copland. Lange Zeit trieb er sich in der Welt umher und bettelte für seinen Lebensunterhalt. Leider sind seine Werke ziemlich unbekannt. Einige werden jetzt in Deutschland uraufgeführt.


AladdinWunderlampe
Stammgast
#54 erstellt: 03. Feb 2007, 00:15
Liebe Musikfreunde,

ich muss gestehen, dass mir Gordon Sherwood vollkommen unbekannt ist. Vielleicht kann Schneewitchen uns ja noch ein bißchen mehr über seine Musik berichten?

Dagegen möchte ich Zerebralzebras und Uwes Empfehlung von Arnold Schönbergs Streichtrio op. 45 nachdrücklich unterstützen. Wie schon beschrieben, knüpft Schönberg hier - wie auch in manchen anderen seiner Spätwerke (etwa dem Überlebenden aus Warschau oder der Fantasie für Violine und Klavier - trotz der zwölftönigen Faktur des Tonsatzes wieder an den expressionistischen Gestus seiner freiatonalen Kompositionen an, für die beispielhaft so großartige Werke wie die Drei Klavierstücke op. 11, die Fünf Orchesterstücke op. 16 (die ich für eines der allerbedeutendsten und eindrucksvollsten Werke des 20. Jahrhunderts halte und die in diesem Thread dringend mit einem eigenen Beitrag versehen werden müssten...) und die musikdramatischen Einakter Erwartung und Die glückliche Hand genannt seien.

Insofern finde ich Zerebralzebras Vergleich mit der Kammersinfonie op. 9 allerdings ein wenig unglücklich: Liegt in diesem Stück die Individualisierung und Komplizierung der Form noch in der Weiterführung der auf Schubert und Listzt zurückgehenden Tradition der Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit begründet, durch die die einzelnen Formteile eine doppelte Funktion - einerseits im Rahmen einer übergeordneten Sonatenhauptsatzform und andererseits im Zusammenhang eines latenten mehrsätzigenSonatenzyklus - zu erfüllen hatten, so werden die überaus kontrastierenden musikalischen Gesten nun gerade umgekehrt gewissermaßen entfunktionalisiert - ganz im Sinne der vom Zerebralzebra beschriebenen Fragmentierung, die auch mich in mancher Hinsicht an den Spätstil Beethovens erinnert.

Selbst wenn im Schlussabschnitt des Streichtrios allerlei musikalische Gestalten der vorangegangenen Teile wiederholt werden, wirkt dies eigentlich nicht wie eine Reprise, sondern eher wie eine Montage aus disperaten Bruchstücken - zu kontrastierend, zu eigenwillig sind die einzelnen Prägungen, dieser Musik, die sich meist zu ausdrucksmäßigen Extremen polarisiert: erregte Bewegung wechselt mit plötzlicher Erstarrung, auf perkussive Repititionen folgen terzseelige melodische Gesten, Triller in höchster Lage führen in abrupte Abstürze...

Schönberg selbst hat übrigens gelegentlich die radikale Faktur dieser Musik mit einem latenten autobiographischen Programm erklärt: demnach wäre die Musik Darstellung einer schweren gesundheitlichen Krise mit Herzstillstand und Notoperation... Ich glaube allerdings, dass man die Musik auch unabhängig von diesem für die Werkentstehung möglicherweise in der Tat wichtigen privaten Hintergrund hören kann - und vielleicht hören muss (denn schließlich hat Schönberg das Werk ohne jede programmatische Dechiffrierung veröffentlich): nicht als tönende Biographie, sondern als eine Art musikalisches Seismogramm einer Katastrophe.


Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 03. Feb 2007, 00:19 bearbeitet]
Zerebralzebra
Hat sich gelöscht
#55 erstellt: 03. Feb 2007, 16:22
Hallo Aladdin,


AladdinWunderlampe schrieb:
Selbst wenn im Schlussabschnitt des Streichtrios allerlei musikalische Gestalten der vorangegangenen Teile wiederholt werden, wirkt dies eigentlich nicht wie eine Reprise, sondern eher wie eine Montage aus disperaten Bruchstücken - zu kontrastierend, zu eigenwillig sind die einzelnen Prägungen, dieser Musik, die sich meist zu ausdrucksmäßigen Extremen polarisiert: erregte Bewegung wechselt mit plötzlicher Erstarrung, auf perkussive Repititionen folgen terzseelige melodische Gesten, Triller in höchster Lage führen in abrupte Abstürze...


ich bin mir halt nicht sicher, ob dieser Schlussabschnitt, der Vorangegangenes wieder aufgreift, nicht vielleicht in gewisser Weise gerade dadurch Reprisencharakter bekommt, dass er es nicht wörtlich, sondern verkürzt und nochmal auf neue Weise polarisierend wiederholt. Denn der Anfang von Schönbergs Streichtrio hat ja einen schockartigen, katastrophischen Charakter, der in einer wörtlichen Wiederholung verblassen müsste.
Gut, diese zugegeben schon etwas verstiegene Deutung, etwas als Reprise aufzufassen, gerade weil es nicht (einfach) wiederholt, ist spekulativ und liefe wohl auf einen fragwürdigen Begriff von "Reprise im übertragenen Sinne" hinaus.
Jedenfalls leitet dieser Schlussabschnitt zu einer Coda über, die - selbst wiederum ein Gegenpol zur vorangegangenen Musik - die Brüche und Spannungen hinter sich lässt und auf mich tröstlich wirkt ohne kitschig zu sein.

Herzliche Grüße vom Zebra
herbie_zh
Ist häufiger hier
#56 erstellt: 06. Apr 2007, 13:17
Liebes Forum,

nun denn muss ich - nachdem ich einigen Anregungen aus diesem thread schon nachgegangen bin und zumindest schon eine CD davon für mich entdeckt habe (Credo mit H. Grimaud) - jetzt auch mal eine Emfehlung zum besten geben. Zuvor noch mein Erlebnis mit Credo: Ich hatte mir die CD im Laden nicht komplett durchgehört - und speziell beim Credo nur den Anfang gehört und für gut befunden. Als ich dann zu Hause die CD mal ganz habe durchlaufen lassen, hat es mich beim einsetzenden "Chaos" gegen Ende des Credo buchstäblich ins Sofa gepresst. Etwas gewöhnungsbedürftig aber genial! :-)

Nun endlich zu meinem Tipp: Frank Zappa - The Yellow Shark
Mich hat ja schon überrascht dass Adri den noch nicht vorgestellt hat, immerhin hat er FZ als Avatar gewählt!

http://www.amazon.de...TF8&n=290380&s=music

Ich kann gerne - wenn Interesse besteht - noch ein paar Zitate aus dem Booklet hier reinschreiben, die Zappas Musik charaktierisieren, für den Moment verweise ich aber mal auf folgenden link, der meinen Höreindruck recht gut wiedergibt:

Review - FZ Yellow Shark

Gruss,

Olaf


[Beitrag von herbie_zh am 06. Apr 2007, 13:17 bearbeitet]
Thomas228
Stammgast
#57 erstellt: 21. Jun 2007, 11:12
Rihm - Gejagte Form

Gestern Abend habe ich aus der abgebildeten CD das 13-Minuten-Stück „Gejagte Form“ gehört.



Rihm selbst macht zu dem Stück im Beiheft einige Anmerkungen, wobei er allerdings nahezu jede Aussage durch Einfügung von Fragezeichen relativiert. Nach meinem durch diese Anleitung(?) gewonnenen Verständnis geht es in dem Werk um das Verhältnis von Bewegung („Jagd“) und Erstarrung („Form“, gemeint ist die musikalische Form, z.B. also eine Fuge). Lebendigkeit schlägt musikalisch ausgedrückt stets irgendwann um in Erstarrung, weil die musikalische Aussage stets irgendwann Struktur, musikalische Form bekommt (sei es auf Komponistenseite durch den Kompositionsvorgang selbst oder auf Hörerseite durch die Neigung des Gehirns, gehörte Töne zu strukturieren. Dieser Moment des Umschlagens, betont Rihm, sei nicht konkret fassbar. Rihm versucht mit diesem Stück, ihn trotzdem zu packen zu bekommen, gewissermaßen in die Enge zu treiben.

Nach meinem Hördruck findet dieses Umschlagen so gut wie gar nicht statt. Ich höre fast nur „Jagd“, so gut wie keine „Form“. Gleichwohl ist die „Jagd“ derart interessant – lebendig, ideenreich, funkensprühend –, dass diese klanglich und spieltechnisch hervorragende CD eine dicke Empfehlung wert ist.

Eine Profirezension aus dem Rondomagazin findet sichhier:

Gruß, Thomas
AladdinWunderlampe
Stammgast
#58 erstellt: 09. Aug 2007, 19:06
Liebe Musikfreunde,

ich muss gestehen, dass ich zu dem von Thomas vorgestellten Wolfgang Rihm insgesamt ein eher schwieriges Verhältnis habe. Rihm ist ja im Musikleben so präsent, dass man – ob man will oder nicht – immer wieder mit neuen Stücken dieses ungemein produktiven Komponisten konfrontiert wird – von der Walzerfolge fürs Schlewig-Holstein Musikfestival über Kammer- und opulente Orchestermusik bis zu Orgelstücken und Musiktheater habe ich schon in ziemlich jede Sparte Bekanntschaft mit Rihmschen Kompositionen machen können.

Anders als Thomas Schulz in der von Thomas verlinkten „Profi-Rezension“ habe ich bei solchen Begegnungen jedoch meist nicht den Eindruck, dass Rihm „nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ […] zum Aufregendsten“ zähle, „was die Gegenwart zu bieten hat“. Auf mich wirken vielmehr zahlreiche Stücke aus Rihms Produktion der letzten beiden Jahrzehnte eher wie routinierte, wenn auch meist mit großmeisterlicher Attitüde erledigte Gelegenheitsarbeiten. Nicht, dass sich darunter nicht gelegentlich auch Spannendes, ja Faszinierendes, fände – so das eine oder andere seiner Streichquartette, die vor einigen Jahren einmal zyklisch in der Kölner Philharmonie dargeboten wurden; doch sind diese Funde angesichts von Rihms mittlerweile wirklich unüberschaubar gewordenem kompositorischen Ausstoß für mich so selten, dass ich schon seit längerem die Lust verloren habe, mich durch jede seiner Arbeiten durchzuhören. Vor einigen Monaten beispielsweise habe ich in Köln die Uraufführung seines Dyptychon für Sopran und Orchester (nach Texten des mittlerweile leider wirklich zu Tode komponierten Friedrich Hölderlin) gehört, das auf mich nur wie ein weiterer fader Aufguss abgestandener expressionistischer Gebärden wirkte – eines dieser orchestral blank geputzten Werke, die Rihm anscheinend im Dutzendpack aus dem Ärmel schüttelt und die zumindest ich schon vergessen habe, bevor ich sie ganz zuende gehört habe.

Das war allerdings nicht immer so: Ein Werk Rihms, zu dem ich seit fast zwanzig Jahren überaus positiv stehe, ist sein Musiktheater Die Hamletmaschine. Natürlich ist schon der zugrunde liegende Text Heiner Müllers ungemein faszinierend. Aber auch Rihms Musik wirkt in dem 1983-1986 entstandenen Stück noch nicht wie jene auf Knopfdruck abrufbare Salon-Kraftmeierei, die mir aus zu vielen seiner letzten Arbeiten herauszutönen scheint; vielmehr inspirierten Müllers sprachliche Ungeheuerlichkeiten Rihm zu einer wahrhaft ungeheuerlichen Musik, die zwischen Gesten und Tonfällen, zwischen düsterstem Pathos und böser, ja zynischer Ironie schwankt – eine Musik, in der die musikalischen „Ruinen von Europa“ anders als in vielen seiner späteren Werke noch nicht zur allzeit fungiblen Knetmasse eines an seiner Virtuosität sattgewordenen Meisterkomponisten verkommen sind. Auf CD liegt dieses Stück bei Wergo vor (WER 6195-2).

Für mich ist die Hamletmaschine jedenfalls Grund genug, Rihm trotz aller Vorbehalte immer wieder eine Chance zu geben – ein Komponist, der so etwas zustande gebracht hat, kann sein musikalisches Potential später nicht einfach verloren haben. Insofern bin ich natürlich für Thomas’ Empfehlung der Gejagten Form überaus dankbar, denn der Hinweis auf dieses anscheinend überaus faszinierende Werk erspart mir, mich vorher durch einen Berg mutmaßlich langweiliger Rihm’scher Kompositionen durchhören zu müssen – und genau dazu ist dieser Thread ja da.



Herzliche Grüße
Aladdin
Thomas228
Stammgast
#59 erstellt: 09. Aug 2007, 21:09
Hallo Aladdin,

da kann ich nur hoffen, dass dir das Stück dann auch gefällt, gilt doch besonders in der Neuen Musik: Des einen Freud, des anderen Leid.

Die Hamletmaschine kenne ich noch nicht, obwohl ich mir bestimmmt schon zehn Mal vorgenommen habe, sie zu erwerben. Eigentlich müsste ich gleich bestellen...

Schönen Gruß
Thomas
AladdinWunderlampe
Stammgast
#60 erstellt: 09. Aug 2007, 21:36
Hallo Thomas,

bevor ich mich durchringe, die von Dir empfohlene Rihm-CD zu bestellen, kannst Du mir und allen anderen Interessierten vielleicht noch ein paar Takte zu den anderen Stücken erzählen, die Du inzwischen ja sicherlich gehört hast. Hat sich dabei der positiver Eindruck, den Du bei der Gejagten Form gewonnen hast, weiter erhalten? Das wäre dann ja ebenfalls ein starkes Kaufargument.



Herzliche Grüße
Aladdin
Thomas228
Stammgast
#61 erstellt: 11. Aug 2007, 14:27
Hallo Aladdin,

leider, so befürchte ich, werden meine Worte dir beim Durchringen wenig helfen. Ich habe heute die CD, um dir antworten zu können, erneut gehört – und meine Erinnerung bestätigt gefunden. Außer dem oben vorgestellten „Gejagte Form“ sind drei weitere Werke enthalten: Verborgene Form (1995/97, Chiffre I für Klavier und sieben Instrumente (1982) sowie Silence to be beaten (Chiffre II) (1983).

Verborgene Formen“ gehört wie „Gejagte Form“ zum Zyklus „Jagden und Formen“, ähnelt diesem Stück somit in Thematik und Herangehensweise. Eigentlich also müsste mir „Verborgene Formen“ auch gefallen. Tut es aber nicht. Das, was ich bei Funkensprühende, die Prägnanz des musikalischen Materials, die mir bei jenem Werk so gut gefällt, fehlt diesem leider – in meinen Ohren – völlig. Da ich zudem keinen roten Faden entdecke, ist „Verborgene Formen“ für mich leider belanglos.

Chiffre I“ halte ich hingegen für sehr interessant. „Eine Folge klingender Zeichen, meist scharf gezeichnet, wie Hieroglyphen, Keilschriften, fremde Zeichen – aber eben Zeichen im Klang“, sei zu hören, schreibt Rihm im Booklet. Das Klavier, welches als Soloinstrument behandelt werde, spiele als ob seine Attacke die Schrift erst in den Klangkörper treibe, den leeren Klangraum erst beschreibe.

Diese Beschreibung Rihms, die er am Ende als bloße Gedanken, als falsch abtut, hat mich beim ersten Lesen befremdet. Mittlerweile aber, nach mehrfachem Hören des Stückes, sehe ich das anders.

Anfangs beherrscht das Klavier tatsächlich „meißelnd“ den Klangraum. Das „Meißeln“ erfolgt in hoher Frequenz, wirkt motorisch. Die sieben Instrumente reagieren auf das Zugeworfene. Interessante Effekte entstehen. Im Duktus Rihms: Es erfolgt eine Bedeutungskonstitution durch Weitergabe von nicht sprachlichen, eben hieroglyphenartigen (nur-klanglichen) Zeichen. Wie zum Beweis wird das „Meißeln“ am Ende vom Adressaten der Zeichensendung, von den sieben Instrumenten also, übernommen.

Obwohl sich dieses Stück für mich als gedankenanregend erwiesen hat, bleibt dennoch ein Aber. Verscheucht man die hochtrabenden Überlegungen und hört nur zu, erweist sich „Chiffre I“ als nicht ausgegoren genug, um als gültiges Musikstück dazustehen. Das Werk wirkt skizzenhaft, wie eine Studie. Rihm selbst dürfte das nicht entgangen sein, leitet er seinen Booklet-Text doch ein mit der Bemerkung: „Die Stücke mit dem Titel Chiffre… sind selbständige Teile einer Art work in progress." Nimmt man diese Bemerkung ernst, ist das skizzenhafte von „Chiffre I“ gerade gewollt. Und warum auch nicht? Es erscheint in unserer Zeit ja als durchaus mutig, ein Werk zu schaffen und es als gültig vorzustellen. Die Behandlung des Oeuvres als bloße Skizze vereinfacht da manches.

Chiffre II“ hat mich wiederum eher kalt gelassen. Der Titel „Silence to be beaten“ drückt bereits aus, worum es geht: um den Widerstreit zwischen Stille – Rihm spricht im Booklet von Schweigen – und Musik. „Das Schweigen“, so meint Rihm, müsse besiegt werden, denn immer wieder wolle es übermächtig in die Musik eingreifen, diese existentiell vernichten.

Wie "Chiffre II" klingt, ist nun leicht vorstellbar, denke ich. In Grobform: Normales musikalisches Geschehen, Decrescendo, Flirren, hereinbrechendes Schlagwerk, Stille, erneut Schlagwerk, Stille Pauken(?)crescendo. Erneut normales musikalisches Geschehen.

Musiktheoretisch halte ich den geschilderten Gedankengang Rihms zu "Chiffre II" allerdings, das sei kurz angemerkt, für wenig überzeugend. Letztlich ist das Ausmaß des jeweiligen Musikbegriffs entscheidend. Zieht man das Begriffsfeld weit, bedeutet das Schweigen der Instrumente noch nicht die Abwesenheit von Musik, weil Geräusche ja dennoch vorhanden sind und als Klänge wahrgenommen werden können, wie uns Cage in 4:22 gelehrt hat.

Hier aber geht es ja nicht um dieses, sondern um die Frage, ob der Kauf der CD lohnt. Tja, lieber Aladdin, das musst du selbst entscheiden. Wissenswert ist sicher noch, dass die CD eine Spielzeit von nur 47:47 Minuten hat, also fast schon unverschämt kurz ist. Wenn einen das stört, kann man allerdings nach Ende der CD noch zwanzig Minuten vor den Lautsprechern sitzen bleiben und zuhören – ganz im Sinne Cages. Dann hat sich der Kauf der CD vielleicht doch gelohnt.

Schönen Gruß von
Thomas
(der, ginge ihm die CD heute verloren, nicht mehr als acht Euro ausgeben würde, um sie erneut zu kaufen)
AladdinWunderlampe
Stammgast
#62 erstellt: 11. Aug 2007, 19:00
Hallo Thomas,

vielen Dank für Deine ausführlichen und anschaulichen Kommentare zu den verschiedenen Stücken der von Dir empfohlenen Rihm-CD. Natürlich habe ich nicht im Ernst erwartet, dass Du mir die Entscheidung über den Kauf dieses Tonträgers abnimmst Vielmehr wollte ich Dich nur ein wenig zu ausführlicheren Beschreibungen Deiner Eindrücke und Einschätzungen provozieren, denn ich persönlich profitiere von solchen Darstellungen mehr als von dem - nicht von Dir, aber manchen anderen - gelegentlich praktizierten mehr oder weniger kommentarlosen Einstellen von CD-Covers. Die spannendsten Diskussionen entzünden sich meines Erachtens immer dann, wenn jemand nicht nur sein Wohlgefallen oder Mißfallen an einer Musik bekundet, sondern dieses Urteil - so "subjektiv", unsicher und vielleicht auch unvollkommen es auch sein mag - zu begründen versucht.

Was die von Dir mehrfach angesprochenenen Selbstkommentare Rihms betrifft, so berührst Du meiner Meinung nach ein sehr spannendes Thema. Ich frage mich nämlich unter anderem

- ob Musik grundsätzlich kommentarbedürftig ist,
- inwieweit Komponistenkommentare unserer Hören der betreffenden Musik verändern, und - wenn ja - ob dies für unsere Wahrnehmung dieser Musik immer positiv ist,
- ob Komponisten privilegierte Kommentatoren ihrer Musik sind oder nur eine (möglicherweise sogar fragwürdige oder falsche) von vielen möglichen Ansichten auf dievon ihnen komponierte Musik anbieten,
- ob es ein Maß für das Gelingen eines Werkes ist, inwieweit es den im Komponistenkommentar artikulierten Intentionen entspricht.

Dass Rihms Kommentare in ihren Formulierungen oft betont dunkel sind und dass der Komponist geradezu damit kokettiert, seine eigenen Worte in Frage zu stellen (indem er etwa - wie Thomas erwähnt - hinter jede seiner Behauptungen gleich ein Fragezeichen setzt), zeigt, dass Rihm selbst ein gewisses Misstrauen in den Sinn und Zweck von Werkkommentaren besitzt - das freilich in einer merkwürdigen Spannung zu dem Sachverhalt steht, dass er sehr viel über seine Musik schreibt. (Aber damit ist er kein Einzelfall: Im 19. Jahrhundert gehörte es einerseits zum guten Ton, ständig zu behaupten, dass kein Wort an die Sprache der Tonkunst heranreiche; aber trotzdem philosophierten und schrieben gerade diejenigen, die solches behaupteten - unter anderem E. T. A. Hoffmann, Schumann, Schopenhauer, Wagner und selbst noch Schönberg - unentwegt über Musik...


Fragen über Fragen... Auf Antworten gespannt ist

Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 11. Aug 2007, 19:03 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#63 erstellt: 01. Okt 2007, 22:04
Hallo allerseits,

gestern bin ich auf diesen Neue-Musik-Thread gestoßen und habe mir gleich das Meiste von vorne bis hinten durchgelesen -- insbesondere die anschauliche (anhörliche) Einführung von Aladdin zu Berios Sinfonia. An besagtem Werk habe ich auch schon das ein oder andere Mal herumgekaut. Geht Euch das manchmal auch so: Ihr hört ein Stück, es gefällt Euch (zunächst) eigentlich nicht, aber man ahnt, dass da noch viel drinsteckt? Irgendwann entdeckt man es dann -- manchmal durch einen Anschubser, wie Aladdin ihn gegeben hat. Ich schließe mich also den Danksagungen einiger Vorgänger in diesem Thread an. Jedenfalls habe ich mich heute im Forum angemeldet, um mich mit Euch austauschen zu können. Vor wenigen Jahren wurde ich von moderner Musik "angefixt" -- über Schönberg und Rihm; seitdem versuche ich mich im Dschungel der Komponisten und Geräusche zurechtzufinden. Da kommt dieser Thread wie gerufen, auch wenn ich fürchte, dass ich mehr von Euch habe als Ihr von mir.

Aber das nur vorab. Eigentlich wollte ich ja, dem Sinn des Threads entsprechend, zu meinem Einstand hier ein Werk vorstellen. Allerdings endet der letzte Eintrag von Aladdin mit einigen auch hier relevanten, musico-philosophischen Fragen. Denn warum reicht beispielsweise das kommentarlose Benennen von Werken oder Einspielungen, das hier mehrfach kritisiert wurde, nicht aus, wird sogar das Vorstellen und Beschreiben eines Werkes gefördert, wenn doch Musik ohne (sprachliche) Erklärung funktioniert? Warum ist Aladdins Berio-Dossier so hilfreich, wenn Musik doch für sich selbst spricht? Daher einige Bemerkungen eines "Betroffenen":

Unsere Wahrnehmung -- wahrscheinliche besonders diejenige von Kunst -- ist entschieden geprägt vom Wissen, das wir (über das Wahrnehmungsobjekt) haben. Ich schätze, das ist unstrittig und wir alle können Beispiele aus unserem Alltag dafür finden. Mir zumindest geht es leider so, dass ich nicht ausreichend musikalisches Rüstzeug mitbringe, um gerade Schöpfungen der Neuen Musik bedeutungsvoll zu hören. Ein Beispiel aus nicht-neuer Musik: Der 2. Satz aus Schostakowitsch 10. Symphonie klingt brutal, aggressiv, etc. OK. dieser Gestus ist nicht zu überhören. Aber allerorten liest und hört man, dass dieser Satz ein Portrait, ja ein Psychogramm von Stalin sein soll. Mag sein, aber wie zum Teufel hört man das? Das wäre nämlich eine bedeutungsvolle Ebene. Irgendwo habe ich dann die Erklärung dafür gelesen (Zitat von Stalind Lieblinslied, Tritonus als Kennzeichen für das Böse,...). Mit diesem Wissen hat sich meine ästhetische Erfahrung dieses Satzes tatsächlich verändert, und zwar zum Positiven: es war einfach ein kohärenteres, zwingenderes Verständnis möglich. Ohne solches Wissen ist Musikhören oft sehr fließend, ortlos, an Klanggestalten (Effekten) orientiert. Auch das ein ästhetisches Erlebnis! Aber Erklärungen schaffen es, das Fließen zu verankern und damit zu vertiefen (wer hier Barthes heraushört hört richtig). Das ist wie ein Museumsbesuch mit Führung. Wir erfahren Hintergründe über die Exponate, die wir nicht ohne Weiteres (nämlich ein entsprechendes Kunststudium oder ähnliche private Vorbildung) haben. Dieses Wissen verändert unsere Sicht auf die Dinge. In diesem Sinne, nämlich dass Kunst einen Kontext, jedes Kunstwerk eine Geschichte hat, halte ich Kunst für kommentarbedürftig -- zumindest für Laien wie mich. Die Gefahr dabei liegt auf der Hand und wurde in einer von Aladdins Fragen auch benannt: Manipulation, Abhängigkeit. Diese Gefahr besteht sicher! Es gibt nicht eine einzige, wahre Interpretation eines Musikstückes oder eines Gemäldes (Was, wenn ich einen -- zugegeben recht unsympathischen -- Bekannten habe auf den der 2. Satz aus S. 10. zutrifft?). Wir müssen als Korrektiv unserer naiven ästhetischen Erfahrung vertrauen. Nur: die ästhetische Unschuld gibt es nicht! Sie ist eine Illusion. Sie kann es gar nicht geben, da wir keine unbeschriebenen Blätter sind. Ist das ein Dilemma? Nein, nicht wenn man ästhetische Erfahrung als Prozess begreift. Unser Vorwissen beeinflusst unsere ästhetische Erfahrung; diese bringt uns mit Neuem, mit neuem Wissen in Kontakt, usw. usf. Ein Kreislauf, ein Prozess. Um diesen Prozess in Gang zu halten, um, in unserem speziellen Fall, Ohren für Neue Musik zu gewinnen halte ich Kommentare im zuvor geschilderten Sinne für förderlich. Dazu soll der Thread ja auch da sein: Kennenlernen, Austausch. Und der Komponist selbst ist sicher nicht immer der beste Kommentator! Wie oft wählen wir die falschen Worte für für das, was wir eigentlich meinen? Warum sollte es Komponisten anders gehen?

Nun möchte ich aber doch noch eine auch zu dieser Diskussion nicht unpassende Musik in die Runde werfen: Helmut Lachenmann, Schwankungen am Rand. Nachdem die Musik, die auf Harmonik, Dur und Moll setzt, ausgedient hatte (ja, ist vereinfacht), sahen sich Komponisten vor das Problem gestellt: wie komponieren? Ein Reiz der Neuen Musik sind für mich eben die unterschiedlichen Antworten, die auf diese Frage gefunden werden. Ein verblüffender Ansatz stammt von Helmut Lachenmann. Er hat geschaut, ob Blech Musik machen kann. Mit Blech sind hierbei nicht Bläser gemeint, sondern dünne Stahlplatten, die er gebogen, geschlagen, geworfen hat. Der Blech-Klangkosmos, in den Lachenmann sich auf diese Weise hineingehört hat, bildet die Grundlage für sein Werk "Schwankungen am Rand", mit dem doppeldeutigen Untertitel "Musik für Blech und Saiten". Es beginnt wie Musik. Dann kommt ein Pfeifen und Schwingen und Lauten das es eine Freude ist! Stahlbleche als Orchesterinstrumente, Instrumente, die Stahlbleche "nachahmen". Es ist erstaunlich, was Bleche alles können: Allegro, Adagio, kein Problem. Zuerst fand ich es furchtbar, zugegeben. Dann hat es immer mehr Spaß gemacht. Ist das Musik? Es ist jedenfalls Musik (ja!), die auch diese Frage stellt.

Ich selbst habe die Aufnahme von Peter Eötvös mit dem Ensemble Modern (ECM). Es gibt meines Wissens weitere, die kenne ich aber nicht.

Entschuldigt den langen und auch weiligen Beitrag. Ihr habt aber auch die Latte mittlerweile rasant hochgeschraubt, mit philosophischen Fragen und so!

Ich hoffe, der Thread findet trotzdem eine Fortsetzung. Ich habe -- neben den anfangs erwähnten Benefits -- Birtwhistle und Lim kennengelernt, von denen ich vorher keinen Schimmer hatte. Wenn es etwas langsamer vorangeht, wie anscheinend im Moment, finde ich das auch nicht schlimm; dann hat man Zeit, sich alles in Ruhe durchzulesen und auch die betreffende Musik zu besorgen und/oder zuhören!

Viele Grüße,
Mellus
Martin2
Inventar
#64 erstellt: 01. Okt 2007, 22:59
Hallo Mellus,

ein herzliches Willkommen von mir und vielen Dank für Deinen interessanten Beitrag. Das wollte ich nur los werden.

Ich selber interessiere mich für avantgardistische Musik überhaupt nicht ( für neue will ich nicht sagen, John Adams mag ich, und der ist 1951 geboren und wird vielleicht noch tolle Musik schreiben). Bei Tavener und Gorecki habe ich noch kein endgültiges Urteil gefällt.

Wiegesagt: Avantgarde gefällt mir nicht, aber Du wirst hier sicher kompetente Gesprächspartner finden. Mir ging es nur darum, Dich hier freundlich zu begrüßen, weil das für jemanden, der hier ganz neu schreibt, sicher wichtig ist.

Gruß Martin
Mellus
Stammgast
#65 erstellt: 02. Okt 2007, 10:27
Hallo Martin,

vielen Dank für den Willkommensgruß! Das freut mich sehr! Mit Tavener und Gorecki habe ich bisher nur flüchtige Erfahrung gemacht. Mein Eindruck war, dass die Stücke, die ich gehört habe, obwohl neu nach Datum, doch recht "alt" klangen, "schön" (ganz unschuldig gebraucht) zwar aber ohne den "Boah-was-ist-denn-das?"-Effekt. Den fand ich in der avantgardistischen Musik. Vielleicht ist es einfach Neugierde?

Viele Grüße,
Mellus
Thomas228
Stammgast
#66 erstellt: 02. Okt 2007, 11:11
Hallo Mellus,

willkommen im Forum!

Sehr interessante Gedanken sind das, die zu deinem Einstieg beisteuerst. Sie führen mich zu der auch von dir angesprochenen Frage, ob es eine richtige Interpretation eines Kunstwerks gibt. Nur im Einzelfall, würde ich meinen. Im Allgemeinen ist das Wesen der Kunst die Bedeutungsoffenheit, ist gerade moderne Kunst geprägt durch die Interaktion zwischen Betrachtetem und Betrachtendem bzw. dem Gehörtem und dem Hörendem. Eben wegen dieser Interaktion kommt auf Seiten des Betrachtendem bzw. des Hörers dem Vorwissen eine erhebliche Bedeutung zukommt. Nur meine ich auch, dass es neben dem in den Rändern sicher unscharfen Feld der Vertretbaren Interpretationen und Bedeutungen des jeweiligen Kunstwerkes auch falsche Interpretationen gibt. Zur Richtigkeitskontrolle oder, vorsichtiger ausgedrückt, als Interpretationskorrektiv benötigen wir jedoch bedeutungserhebliche Kriterien. Geeignet hierzu sind zunächst Informationen aller Art, auch und gerade von Belang sind hier Äußerungen des Urhebers des Werkes. Welche der Informationen im Einzelfall bedeutungsfördernd sind, kann nur abhängig von den Umständen des Einzelfalles entschieden werden, denke ich – und ziehe mich so aus der Schlinge.

Hinweisen möchte ich dich auf den Thread Selbstkommentare von Komponisten,in dem wir versucht haben, einige Antworten auf die von Aladdin gestellten Fragen zu formulieren.

Zum spezifischen Reiz der Neuen Musik möchte ich dir beipflichten. Ja, gerade das Herumkauen an einem für mich neuen Werk, von dem ich ahne oder sogar weiß, dass mehr drin steckt als ich aktuell erkenne, und das allmähliche Fortschreiten der Erkenntnis – im obigen Sinne – bis hin zu dem Moment, den ich unter Verwendung des Titels einer Kindersendung, die ich manchmal mit meinem Sohn sehe, „Wissen macht Ah“ nennen möchte, empfinde ich als besonders reizvoll. Eben deshalb hoffe ich auch, dass Aladdin uns besonders in diesem Thread weiter von seinem Wissen partizipieren lässt.

Schließlich noch ein ganz praktischer Tipp: Es ist sinnvoll, das jeweils besprochene Werk graphisch hervorzuheben. Konkret hättest du „Helmut Lachenmann, Schwankungen am Rande“ fett formatieren sollen. Ansonsten überliest man leicht, worum es geht.

Viele Grüße
Thomas
Klassikkonsument
Inventar
#67 erstellt: 02. Okt 2007, 20:01
Hallo Mellus,

ein herzliches Willkommen auch von mir! Deine Ausführungen zu Lachenmanns "Schwankungen am Rand" fand ich sehr instruktiv und hat mich neugierig gemacht. Bisher habe ich von Lachenmann nur ein paar mal den "Reigen seliger Geister" und die "Tanzsuite mit Deutschlandlied" gehört.
Toll, dass insbesondere auch der Neue-Musik-Thread einen Neuzugang hat.

Viele Grüße

Klakon

Martin2
Inventar
#68 erstellt: 03. Okt 2007, 10:24

Mellus schrieb:
Hallo Martin,

vielen Dank für den Willkommensgruß! Das freut mich sehr! Mit Tavener und Gorecki habe ich bisher nur flüchtige Erfahrung gemacht. Mein Eindruck war, dass die Stücke, die ich gehört habe, obwohl neu nach Datum, doch recht "alt" klangen, "schön" (ganz unschuldig gebraucht) zwar aber ohne den "Boah-was-ist-denn-das?"-Effekt. Den fand ich in der avantgardistischen Musik. Vielleicht ist es einfach Neugierde?

Viele Grüße,
Mellus


Stimmt, die Musik von Tavener und Gorecki klingt erstaunlich konservativ. Vielleicht ist sie auch zu sehr auf Schönklang getrimmt, ich bin ehrlich gesagt schon im Zweifel über die Qualität dieser Musik. Vielleicht sind das Eintagsfliegen, obwohl Gorecki mit seiner 3. Sinfonie ja einen Bombenerfolg hatte.

Ich ziehe den kürzlich verstorbenen Malcolm Arnold oder den jüngeren John Adams vor.

Mit avantgardistischer Musik habe ich eben auch nur wenig Erfahrungen gemacht. Diese CDs sind ja leider meistens auch sehr teuer und die Radioanstalten machen zur Zeit überhaupt keine Anstalten mehr, das Volk mit neuer Musik bekannt zu machen, was ich schade finde. Meine letzte Erinnerung daran ist, daß ich den "König Lear", eine Oper von Aribert Reimann, im Rundfunk gehört habe, damals mit dem berühmten Dietrich Fischer Dieskau in der Titelrolle. Das klang schon ziemlich schräg ( ich glaube da kamen Vierteltöne zum Einsatz) aber irgendwie auch faszinierend.

Ich habe auch in jungen Jahren das Gesamtwerk von Anton Webern im Radio gehört, ebenfalls die gesamten Sinfonien von Charles Ives. Damals war das Radio noch richtig gut!

Wenn Du Charles Ives als Avantgarde durchgehen läßt, dann ist Charles Ives wohl der einzige Avantgardist, den ich gerne höre und von dem ich ein paar CDs habe.

Ich mache aber immer mal wieder ein paar Ausflüge in Richtung neuerer Musik. Die letzten Anschaffungen in dieser Hinsicht, waren eine CD mit Werken von Lutoslawski und eine von Dutelieux ( habe ich den richtig geschrieben?). Beides fand ich nicht so schlecht, hat mich aber auch nicht vom Hocker gehauen.

Eine gemäßigte Avantgarde, die weniger in Richtung "Clownerien" geht ( manches wie das neulich angesprochene "Hubschrauberquartett" von Stockhausen empfinde ich persönlich eher als Clownerien, aber das kann jeder sehen, wie er will) ist für mich auch durchaus noch interessant und das habe ich auch noch nicht abgehakt.

Da ich aber wirklich sehr viel Musik höre ( sozusagen alles von Monteverdi bis John Adams), ist es kein Wunder, daß die Avantgarde dann irgendwann auch hinten runter fällt.

Henzes Sinfonien habe ich mir aus der Hamburger Bücherei ausgeliehen, mit denen konnte ich aber überhaupt nichts anfangen. Dabei klangen die gar nicht mal so Hardcoreavantgardistisch, aber ich fand sie einfach nicht gut.

Gruß Martin
AladdinWunderlampe
Stammgast
#69 erstellt: 03. Okt 2007, 23:09
Hallo Mellus,

auch von mir ein herzliches Willkommen hier im Forum. Schön, dass Du gleich zum Weiterleben des Neue-Musik-Thread beigetragen hast. Helmut Lachenmann - den ich für eine der ganz zentralen Gestalten der musikalischen Gegenwart halte - vorzustellen steht schon lange auf meiner To-Do-Liste, und so bin ich froh, dass Du hier schon vorgeprescht bist. Irgendwann werde ich dann vielleicht noch mit dem einen oder anderen Lachenmanschen Streichquartett nachlegen. (Vielleicht kann inzwischen aber auch Klassikkonsument mit dem "Reigen seliger Geister" aushelfen?)


Thomas228 schrieb:
Ja, gerade das Herumkauen an einem für mich neuen Werk, von dem ich ahne oder sogar weiß, dass mehr drin steckt als ich aktuell erkenne, und das allmähliche Fortschreiten der Erkenntnis – im obigen Sinne – bis hin zu dem Moment, den ich unter Verwendung des Titels einer Kindersendung, die ich manchmal mit meinem Sohn sehe, „Wissen macht Ah“ nennen möchte, empfinde ich als besonders reizvoll. Eben deshalb hoffe ich auch, dass Aladdin uns besonders in diesem Thread weiter von seinem Wissen partizipieren lässt.


Thomas' allzu schmeichelhafter Aufforderung würde ich nur zu gerne nachkommen, doch bin ich aufgrund der Geburt meines Sohnes vor drei Wochen und allerlei beruflichen Sonderaufgaben im Moment so eingespannt, dass es augenblicklich zeitlich nicht für Postings reicht, in die man mehr als drei Minuten Nachdenkens investieren müsste. Dabei haben sich mittlerweile schon erschreckend viele Threads angesammelt, zu denen ich gerne etwas Konstruktives beitragen würde. Vorerst bleibt mir nur die Hoffnung auf zukünftige ruhigere Zeiten. Immerhin will ich - hoffentlich ganz im Sinne von Martin2, der solches in der letzten Zeit mehrfach gefordert hat - versuchen, wenigstens mit dem einen oder anderen Kurz-Posting einen kleinen Beitrag zum Klassikforumleben beizusteuern.


Herzliche Grüße
Aladdin
Thomas228
Stammgast
#70 erstellt: 03. Okt 2007, 23:57
Hallo Aladdin,

einen ganz herzlichen Glückwunsch zur Geburt!

Thomas
Mellus
Stammgast
#71 erstellt: 04. Okt 2007, 00:13
Hallo allerseits,

zunächst vielen Dank für alle Grüße, Links und Tipps (Thomas228)! Lachenmanns "Reigen seliger Geister" und "Tanzsuite mit Deutschlandlied" kenne ich nicht. Beide Titel klingen aber verdammt interessant. Vielleicht hat der Klasikkonsument ja Lust, beide Werke, oder wenigstens eines davon, mal vorzustellen. Ich bin gespannt! Das wenige, was ich von Lachenmann bisher kenne, finde ich wirklich beeindruckend. Daher fände ich es, und da schließe ich mich Thomas an, prima, wenn Aladdin die Zeit findet, ein paar Worte über Lachenmann und seine Streichquartette zu verlieren. Bei der Gelegenheit: Herzlichen Glückwunsch zur Vaterschaft und alles Gute für den Nachwuchs!

Lachenmann habe ich, man legt sich ja doch Schubladen zu, mit den Labeln "ernst" und "engagiert" versehen. Was ja kein Nachteil ist, im Gegenteil. Als "Gegenteil", also als ironische, doppelbödige Musik, habe ich von Mauricio Kagel gehört, kenne aber selbst überhaupt nichts von ihm. Daher ein Aufruf: Mag ein Kagel-Fan (meinetwegen auch Gegner, das ist ja wenigstens genauso spannend!) mal Kagel-Musik vorstellen? Das würde mich echt interessieren.

@Martin2: Ich würde nicht zögern, Ives zur Avantgarde zu zählen. Er ist zwar zeitlich älter, aber die Kompositionstechniken, die er ausprobiert hat, hat er um wenigstens eine Generation vorweggenommen. Ives ist für mich so etwas wie "die unerträgliche Leichtigkeit des Komponierens". Vielleicht hat es damit zu tun, dass er, als Amerikaner und vor allem als Sohn dieses ultra-liberalen, experimentierfreudigen Vaters (auch Musiker), nicht den Ballast europäischer Musikgeschichte mit sich herumtragen musste? Beethoven im Nacken, Bach im Gewissen. Und dann diese ganze Romantik! Er konnte sie, mit Ausnahme seiner 1. Symphonie, als musikalischen Zettelkasten benutzen, nicht als Ahnherren oder Stammesväter.

Der Clownerie-Punkt, den Du machst, ist allerdings meiner gegenwärtigen Meinung (das ist ja das schöne an Meinungen: man kann sie ändern!) nach nicht unerheblich. Ich weiß nicht mehr, woher ich eine entsprechende Kritik habe; aus diesem Forum oder woanders her (vielleicht aus der Malerei, dort gibt es ähnliche "Probleme"). Es ist jedenfalls nicht von mir, hat mich aber überzeugt. Es geht so: Wenn ein Werk eine n Denkanstoße geben möchte oder ein Problem illustrieren oder ein Herstellungsverfahren/einen Effekt/etc. ausprobieren möchte, dann hat es seine Wirkung vollständig erschöpft, wenn das erkannt wurde. Eine allzu bekannte Illustration: Wer mag nach Duchamp noch eine Kloschüssel ins Museum bringen? Das ist eine "Clownerie", die einmal funktioniert (und auch ihre Berechtigung hat! Das soll ausdrücklich festgehalten werden!), aber nicht nachhaltig ist. Streicher im Helikopter spielen, sage ich jetzt mal, etwa in der gleichen Liga. (Steinigt mich mit Gegenargumenten, wenn ihr wollt!)


Also, mehr Lachenmann, irgendwas zu Kagel und ein Hoch auf die Clowns!

Grüße, Mellus
Martin2
Inventar
#72 erstellt: 05. Okt 2007, 14:34
Hallo Mellus,

ich habe bei Ives schon den Eindruck, daß er als durchaus frischer und interessanter, aber eben doch als Romantiker gestartet ist. Ich glaube nicht, daß das nur die erste Sinfonie ist, auch das erste Streichquartett und das herrliche Oratorium "The celestial country". Ives war sicher ein begabter Melodiker im durchaus romantischen Sinne. Und diese Romantik ist nicht etwa abgestanden sondern durchaus frisch. Diese Seite an Charles Ives schätze ich durchaus. Als sehr stark ist mir auch das Klaviertrio in Erinnerung geblieben, wo im letzten Satz die sehr starke melodische Begabung von Ives auch zum Tragen kommt. Ich hatte in meiner Jugend Platten mit dem gesamten Kammermusikklavierwerk.

Ives war nicht nur Avantgardist, er war eben in jederlei Hinsicht eine sehr starke Begabung. Es ist eben die Frage, wie sich Ives entwickelt hätte, wenn er mit seinen frühen Werken, die einem breiteren Publikumsgeschmack doch durchaus nicht unereichbar gewesen sind, mehr Erfolg gehabt hätte. Insgesamt ist Ives, der doch eigentlich ein glühender Patriot war, von seinen amerikanischen Mitbürgern mit der größten Schäbigkeit behandelt worden. Die meisten Werke sind sehr spät aufgeführt worden, viele Jahre nach ihrer Entstehung. Über die vierste Sinfonie habe ich gelesen, daß sie - wohl in den 50ern - in Deutschland uraufgeführt werden sollte. Das hat aber den Amerikanern dann wohl doch nicht gepaßt und dann wurde sie mit großem Tamtam dann doch in den Staaten uraufgeführt.

Und Ives hatte eben auch Pech. Gustav Mahler wollte in seinen späten Jahren die 3. Sinfonie aus der Taufe heben, aber krankheitsbedingt kam es nicht mehr dazu.

Mich hat jedenfalls Ives schon in meinen jüngeren Jahren äußerst fasziniert. Damals wurden die Sinfonien von Charles Ives im damaligen NDR 3 ausgestrahlt.

Gruß Martin


[Beitrag von Martin2 am 05. Okt 2007, 17:22 bearbeitet]
Klassikkonsument
Inventar
#73 erstellt: 10. Okt 2007, 18:18
Hallo zusammen,

ich muss gestehen, dass das 2. Streichquartett "Reigen seliger Geister" von Helmut Lachenmann (1989) noch nicht zu meinen Lieblingsstücken zählt. Im allgemeinen mag ich am liebsten Stücke von mitreissender Dramatik (wie man bei Beethoven einige findet). Dieses knapp halbstündige Werk firmiert jedoch bei mir unter der Rubrik "Klingt interessant, muss ich noch immer mal wieder hören" - so ähnlich wie später Webern.
Der "Reigen seliger Geister" macht es einem aber auch nicht ganz leicht. Wohl wichtiger als gutes Hifi-Equipment ist nämlich eine stille Hörumgebung und eine ruhige, konzentrierte Einstellung auf Seiten des Hörers. Denn diese Musik spielt sich im allgemeinen am untersten Ende der Lautstärke-Skala ab, weshalb Lachenmann auch davor warnt, es in großen Sälen aufzuführen.
Der Titel dieses Werks scheint auf einen gleich benamsten Abschnitt in Glucks Oper "Orpheus und Eurydike" zu verweisen - ein Flötensolo wie mich das Lachenmann-Booklet unterrichtet. Ich kenne das Gluck-Stück nicht, aber wahrscheinlich würde seine Kenntnis den Zugang zu diesem Streichquartett nicht erleichtern. Aber just, wo ich diesen Beitrag begonnen habe, habe ich doch eine Interpretation des Untertitels.

Was hört man denn eigentlich?

Zunächst herrschen rauschende Klänge vor, so als ob über die Holzkörper der Instrumente gewischt würde oder jemand in ein Blasinstrument bläst, ohne dass es einen Ton gäbe. Dieser Klang kommt von verschiedenen Seiten und hat den Charakter eines unspezifischen grauen Nebels. Immer wieder tauchen kurz leiseste einzelne Töne auf - man fragt sich, ob sie der Zufall produziert hat oder ob sie da sein sollen. Doch bald brechen aus dem unspezifisch rauschenden Nebel leise, schnelle Läufe heraus, die dann wieder verschwinden - so als sei da eine eigentliche lebhafte Musik, von der der Hörer durch einen Schleier getrennt ist.

So gut hab' ich die Musik jetzt nicht auf dem Schirm, dass ich sie weiter so detailliert schildern könnte. Aber im allgemeinen gibt es da reizvolle Klänge, vielleicht auch eine gewisse Dramaturgie.
Etwas später z. B. herrschen abwechselnd von den verschiedenen Instrumenten einzeln gespielte Töne vor (eine Fortführung und Steigerung des "tonlosen Pustens"?), die sich Anhören, als würden sie von einem Tonband rückwärts abgespielt (diesen Effekt kann man z. B. auch beim Schlagzeug in "Being for the Benefit of Mr. Kite" auf dem "Sgt. Pepper" der Beatles kennenlernen): ein rasches Ansteigen von ungefähr pianissimo zu forte, worauf der Ton abreißt.
Manchmal hören sich die hereinbrechenden Läufe so seltsam umkippend an wie als ich mal ab- und aufsteigende Skalen (vielleicht auch glissando) in ein Plastikrohr hineinpfiff. Eigentlich ein sehr betörender Klang.
Gegen Ende häuft sich ein Knarren mit durchaus einem gewissen Nerv-Faktor, das wohl auf die Betätigung der Wirbel zur (Booklet: unspezifischen) Verstimmung der Saiten herrührt.
Nun zum Abschluss noch meine Deutung des Titels "Reigen seliger Geister": Ich glaube, die seligen Geister, die hier ihren mitunter gespenstischen Reigen tanzen, sind die flüchtigen und teilweise zweifelhaften Klänge, die totgeschwiegen werden als unabsichtliche Nebenprodukte unseres geräuschvollen Alltags.

@ Aladdin

Auch von meiner Seite herzlichen Glückwunsch zur Geburt Deines Sohnes und alles erdenklich Gute für ihn.

Viele Grüße
Mellus
Stammgast
#74 erstellt: 16. Okt 2007, 22:15
Hallo Klassikkonsument,

vielen Dank, für Deine Bemerkungen zum Reigen! Ich habe sie wirklich gerne gelesen. Ich finde, dass Du eine sehr angenehme, anschauliche und anregende Art hast, über Musik zu schreiben (fiel bei einem Beitrag weiter oben schon auf). Das wollte ich mal loswerden mit dem gleichzeitigen Wunsch, dass Du das mal wiederholen solltest. Bis dahin versuche ich mal eine Aufnahme des Reigens in meinen Besitz zu bringen...

Grüße,
Mellus
Maastricht
Inventar
#75 erstellt: 17. Okt 2007, 08:12


Vor einigen Wochen habe ich von diese CD zwei Stücke gehört und war sehr beeindruckt, sowohl von der Musik als von der Ausführung.

Frank Martin war für mich unbekannt - und ist es eigentlich noch immer.
(Kurze Info über ihn: http://www.naxos.com/composerinfo/2460.htm)

[Die CD werde ich mir kaufen, aber der Preis muss erstmal ein bisschen runter.]

Gruss, Jürgen
Maastricht
Inventar
#76 erstellt: 17. Okt 2007, 15:37
Inzwischen sah ich das WDR 3, Hörzeichen, auf 23 okt., 14.45-15.05, auf diese Aufnahme met Christianne Stotijn eingeht.

Gruss, Jürgen
Klassikkonsument
Inventar
#77 erstellt: 19. Okt 2007, 16:08
Hallo Mellus,


Mellus schrieb:
Bis dahin versuche ich mal eine Aufnahme des Reigens in meinen Besitz zu bringen...


ich habe die Aufnahme vom Arditti-Quartett, wo auch die "Tanzsuite mit Deutschlandlied" mit drauf ist:



Wie ich gerade sehe, bekommt man leider den "Reigen.." bei jpc gar nicht, bei amazon.de nur zu Phantasiepreisen (ab 66,53 €). Eine Aufnahme des Diotima-Quartetts ist bei amazon.de gerade nicht verfügbar.

Viele Grüße
Mellus
Stammgast
#78 erstellt: 15. Nov 2007, 02:26
Hallo allerseits,

weiter oben wurden ja bereits einige Werke von Wolfgang Rihm vorgestellt durchaus kontrovers vorestellt, ich möchte trotzdem noch auf ein Terzett aufmerkdam machen, dass zumindest ich sehr mag: es handelt sich um Wolfgang Rihm: Musik für drei Streicher von 1977. Nun könnte man damit beginnen, über den doch etwas seltsamen Titel zu reflektieren oder die musikgeschichtliche Stellung dieses Stückes zu beleuchten. Aber all das halte ich für zweitrangig angesichts dessen, was einem da zu Ohren kommt. Diese Musik macht Eindruck und ich will einfach versuchen, meine Eindrücke zu schildern. Wenn ich ein Etikett für die "Musik für drei Streicher" vergeben müsste, dann wäre es Energie. Klang gewordene Energie müsste etwa so klingen. Diese Musik funktioniert direkt, ohne den Umweg über eine Erzählung. Sie ist indexikalisch. Wie Stromschläge. Nicht Effekt sondern Affekt. Begrüßt wird der Hörer durch ein energisches, zweitöniges Motiv: ta-daaa. Dieses Motiv gibt den Charakter der ersten drei Sätze (Lento, Assai sostenuto, und Double. Molto allegro) vor. Fordernd geht es zu und kraftvoll. Die drei Streicher greifen nicht zimperlich in die Saiten. Neben einigen sehr rhythmischen Passagen deutet sich gelegentlich ein größeres Motiv an, das schon auf das Finale vorausweist. Die Sätze vier bis sechs sind dann ruhigerer Natur (alle Satzbezeichnungen beginnen mit Canzona). In diesem mittleren Teil wird ganz ähnliches Tonmaterial verwendet wie im ersten Teil (den ersten drei Sätzen), aber ein ganz anderer Charakter ausgedrückt. Hier wird mal nicht im fortissimo musiziert, sondern gemäßigtere Töne angeschlagen. Auch hier deutet sich das Finalmotiv an. Der siebte Satz, der Finalsatz (Energico), bricht dann recht unvermittelt nach dem lyrisch-leise verebbenden sechsten Satz los. Man erkennt sogleich das Finalmotiv, das in den Sätzen vorher bereits angedeutet wurde. Hier geht es energisch und rhythmisch zur Sache. Die Musik steigert sich (oder versagt (?)) bis zu einem "Schrubben" auf den Saiten, das wieder in das rhythmische Oktaven-Motiv zurückführt. Wer es bis hierher geschafft hat, meint Stromstöße zu erfahren. Über einige Ausbrüche findet die Musik dann allerdings kein Ende: sie bleibt hängen auf einem wiederkehrenden, kraftvollen Ton und klingt aus. Eins ist klar: Hier geht es nicht darum, eine (philosophische) Idee zu entwickeln, sondern um reinen Ausdruck, um Leidenschaft. Und das ca. 50 Minuten lang! Ich fühle mich jedenfalls nach der Musik für drei Streicher wie von innen nach außen gekehrt, da oute ich mich mal. Die Musik greift an, weicht auf. Daher kann ich sie, so gern ich sie mag, nicht allzu oft hören: das ist mir zu mitreißend! Wenn es mir als Hörer schon so geht, wie fühlen sich bloß die Interpreten?!

So ist mein Eindruck von Rihms Streicher-Streich. Da ich die Musik, wie anfangs erwähnt, für sehr direkt, hörer-angreifend halte, nehme ich an, dass sie deswegen auch recht unterschiedlich wahrgenommen wird. Warum sollte sie in jedem eine Wirkung auslösen, wie sie es bei mir tut? Das Label Kairos, das eine tolle Aufnahme der Musik für drei Streicher bereit hält, vertreibt auch Promo-CDs. Darauf findet sich der komplette Finalsatz. Eine Promo-CD lag z.B. der letzten Ausgabe der Zeitschrift Fonoforum bei. Auf diese Weise kann sich jeder risikofrei einen Eindruck davon verschaffen, ob ihn die Musik für drei Streicher auch so angeht wie mich und daraufhin über den Kauf einer Gesamteinspielung entscheiden.

Die CD-Empfehlung: Das Trio Recherche hat beim Label Kairos eine sensationell gute Einspielung herausgebracht.

@Klassikkonsument: Vielen Dank für die Reigen-Recherche! In der Tat ist es viel schwieriger als ich dachte, an die gewünschte CD zu kommen. Diejenige, die Du vorgeschlagen hast, wird im Moment gar nicht mehr geführt. Eine andere Einspielung ist dagegen für knapp 350 EUR (!) zu bekommen. Ich werde mich wohl gedulden müssen und die Augen offen halten...
Klassikkonsument
Inventar
#79 erstellt: 23. Nov 2007, 11:18
Hallo Mellus,


Mellus schrieb:
Das Label Kairos, das eine tolle Aufnahme der Musik für drei Streicher bereit hält, vertreibt auch Promo-CDs. Darauf findet sich der komplette Finalsatz.


ich habe einen Sampler "Kairos 2006/07", auf dem der Finalsatz leider nicht ganz drauf zu sein scheint. Nach ca. 50 Sekunden wird da anscheinend rausgefadet, aber der Track und deine Beschreibung klingen durchaus vielversprechend.

Mellus
Stammgast
#80 erstellt: 23. Nov 2007, 22:49

Klassikkonsument schrieb:
Hallo Mellus,


Mellus schrieb:
Das Label Kairos, das eine tolle Aufnahme der Musik für drei Streicher bereit hält, vertreibt auch Promo-CDs. Darauf findet sich der komplette Finalsatz.


ich habe einen Sampler "Kairos 2006/07", auf dem der Finalsatz leider nicht ganz drauf zu sein scheint. Nach ca. 50 Sekunden wird da anscheinend rausgefadet, aber der Track und deine Beschreibung klingen durchaus vielversprechend.

:prost


Hallo Klassikkonsument,

Du hast natürlich recht: der Sampler enthält nur eine 50-Sekunden Auszug. Es ist aber immerhin der Finalsatz. Ansonsten habe ich mal wieder einiges durcheinander gebracht. Im Original ist der Finalsatz nämlich knapp 13 Minuten lang; den gibt es auf gar keinem Sample (soweit ich weiß). Kairos hat noch eine Einführungs-CD mit dem Titel "Neue Musik kommentiert: Einführung in die neue Musik", Teil 1, herausgebracht, die immerhin einen 2:18 Minuten langen Auszug aus Rihms "Musik für drei Streicher"-Finalsatz bietet. Das ist immer noch weit entfernt von "komplett", aber immerhin.

Ich möchte meinen blöden Fauxpas nun lieber mit der Vorstellung eines anderen Stückes überspielen. Und zwar handelt es sich um Bernd Alois Zimmermann: Requiem für einen jungen Dichter. Lingual für Sprecher, Sopran- und Baritonsolo, drei Chöre, elektronische Klänge, Orchester, Jazz-Combo und Orgel nach Texten verschiedener Dichter, Berichten und Reportagen von 1967/69. Dieser umständliche Titel zeigt auch schon an, dass es dem Komponisten selbst nicht ganz klar war, was das denn nun sein sollen, was er komponiert hat. Man kann es als vielleicht als Collage beschreiben, als Hör-Spiel aus verschiedenen, miteinander in Beziehung gebrachter und verwobener Materialien (s. Liste im Titel oben). Ich weiß nicht recht, ob das unter Neue Musik fällt; ich mag es trotzdem vorstellen, da ich es für ein tolles, kulturell-philosophisches Werk halte. Das klingt jetzt groß, schwer und vielleicht aufgesetzt; Das Requium ist dennoch gut durchhörbar. Da es auch mit Texten und anderen Zitaten arbeitet, ist es auch semantisch gut zugänglich. Es stellt auch, das kann wohl gesagt werden, ein Panorama des letzten Jahrhunderts dar (gut, bis 1969, da wurde es ja abgeschlossen und mit Schwerpunkt auf der westlichen Welt). Bezüge zu historischen und kulturellen Ereignissen machen diese Panorama aus und stellen gleichzeitig Bezüge her, die man bisher bestimmt nicht nicht bemerkt hat, häufig aus der klanglichen Qualität des Materials heraus. Genannt sei nur die Passage, in der die Rezitation des Grundgesetztartikels 2;3 ("Jeder hat ein Recht auf Leben...") mit Auschnitten aus einer Rede von Mao Tse-Tung kontrastiert wird: gleicher Sprachduktus. Da gerät man ins Nachdenken... Neben der Zeitpanoramaebene heißt das Stück nun mal "Requiem für einen jungen Dichter". Und auch als Psychogramm eines Künstlers lässt es sich verstehen. Nicht alle Zitate sind deutlich verstehbar -- das ist auch nicht immer nötig. Eines sticht jedoch heraus, und das wird alle Sprachphilosophen unter Euch freuen: Den sprachlichen Beginn, der zudem deutlich artikuliert und meist nicht durch andere Texte überlagert ist, ist ein Auszug aus Wittgensteins "Philosophischen Untersuchungen" zum Sprachspiel. Da muss man kein Philosoph sein, um auch einen "gebrauchstheoretischen Blick" auf das, was dann kommt, zu entwickeln. Das Requiem ist also ein Stück, das für den Hörer viele Einsichten und Anregungen bereithalten kann. Ein paar Anflüge meiner eigenen Eindrücke habe ich ja gerade genannt. Mehr möchte ich auch gar nicht sagen: erstens ist vieles, was mir einfiel, auch nur trivial; zweitens möchte ich nicht den Hörspaß derjenigen, die sich das Requiem zu Gemüte führen, durch beeinflussende Worte beeinträchtigen. Ist also alles prima mit dem Requiem? Nun ja, eine Befürchtung habe ich doch: es könnte recht schnell "durch sein". Weil es so ein Semantik-betontes Werk ist, erschöpft es sich vielleicht schnell, wenn es erst mal den Dreh raus hat. Andererseits: gute Bücher kann man ja auch mehrmals lesen, auch wenn man das Ende bereits kennt.

Ein anregendes Hörerlebnis wünscht,
Mellus
Klassikkonsument
Inventar
#81 erstellt: 02. Dez 2007, 14:29
Hallo Alladin und alle Musikfreunde,

Aus einem anderen thread:

AladdinWunderlampe schrieb:
Darüber hinaus ist vielleicht auch hier ein rückwärts gewandtes Vorgehen - von der Gegenwart in die Vergangenheit - sinnvoll, da die ersten Pionierarbeiten Pierre Schaeffers, Karlheinz Stockhausens und Herbert Eimerts doch unter technisch sehr primitiven Bedingungen stattfinden mussten, weshalb sich ihre Schönheit sicherlich weniger schnell erschließt als bei Werken aus jüngerer Zeit.


Das wäre wohl sogar ein Thema für einen weiteren Thread, wobei ich mir im Moment nur die Bemerkung nicht verkneifen will, dass ich zwar Stockhausens "Gesang der Jünglinge im Feuerofen" oder Berios teilweise auch elektronische Elemente enthaltenden "Laborintus 2" sehr reizvoll fand, aber die elektronischen Klänge mich doch sehr an uralte Flipperautomaten erinnern.
In dem Punkt scheint die elektronische Unterhaltungsmusik weiter zu sein.

Viele Grüße
AladdinWunderlampe
Stammgast
#82 erstellt: 02. Dez 2007, 17:03
Hallo Klassikkonsument,


Klassikkonsument schrieb:
... wobei ich mir im Moment nur die Bemerkung nicht verkneifen will, dass ich zwar Stockhausens "Gesang der Jünglinge im Feuerofen" oder Berios teilweise auch elektronische Elemente enthaltenden "Laborintus 2" sehr reizvoll fand, aber die elektronischen Klänge mich doch sehr an uralte Flipperautomaten erinnern.
In dem Punkt scheint die elektronische Unterhaltungsmusik weiter zu sein.


Einspruch!

Als Pierre Schaeffer um 1948 in Paris und Herbert Eimert um 1951 in Köln anfingen, mit elektroakustischer Klangmanipulation oder elektronischer Klangsynthese zu arbeiten, dachte im Bereich der Unterhaltungsmusik noch niemand an derartige Verfahren der musikalischen Produktion - sieht man einmal von (klanglich recht stereotypen) elektronischen Spielinstrumenten wie Trautonium, Ondes Martenot oder Theremin ab, die aber nicht anders als konventionelle Instrumente behandelt wurden. Elektronische Unterhaltungsmusik im größeren Stil gibt es erst, seit um 1970 die ersten kommerziell vertriebenen Synthesizer auf den Markt kamen - und was Popgruppen wie Emerson, Lake and Palmer, Pink Floyd ("Wish you were here") oder Kraftwerk unter weidlicher Ausnutzung des Pitch- und des Modulationsrädchens auf ihren Mini-Moogs farbrizierten, klingt rückblickend in der Tat nach Flipperautomaten. Da waren Stockhausen, Koenig, Bayle, Xenakis & Co inzwischen schon weiter.

Natürlich klingen die Arbeiten aus der Pionierzeit der elektroakustischen Musik um 1950 aus heutiger Perspektive in mancher Hinsicht holprig und klanglich spröde; Pierre Schaeffers erste Stücke entstanden - lange, bevor DJs entsprechende Praktiken mit weiter entwickelten technologischen Mitteln wiederentdeckten - noch mithilfe mehrerer Schallplattenspieler, auf denen Schellackplatten mit geschlossenen Rillen simultan abgespielt wurden, und Stockhausen musste sich die Sinusgeneratoren für seine ersten Stücke bei der Messtechnik des WDRs ausleihen, Bänder zerschnipseln und aus teils wenige Milimeter großen Stücken neu zusammenkleben, Klänge durch weit entfernte Hallräume schicken, riesige Bandschleifen über diverse Umlenkrollen durchs ganze Tonstudio laufen lassen u. s. w. So sind beispielsweise die ersten zwanzig Sekunden des 1956-1957 komponierten Gesangs der Jünglinge das Resultat einer dreiwöchigen Montagearbeit. Insofern sind Vergleiche mit Musikern der Laptop-Generation à la Aphex Twin, Autechre oder Björk einigermaßen schief.

Darüber hinaus merkt man spätestens Stockhausens Kontakten von 1960 (ein Stück, dessen rein elektronische Version ich der gemischten, um Schlagzeug und Klavier ergänzten sogar vorziehe) keinerlei technische Beschränkungen mehr an. Der unglaubliche Reichtum neuartiger, unerhört frischer Klänge, die Stockhausen hier lange vor der digitalen Ära gleichsam in Handarbeit und ohne jeden Rückgriff auf irgendwelche Samples auf rein elektronischen Wege erzeugt hat, ist noch heute atemberaubend. Dazu kommt der (freilich auf CDs nicht nachvollziehbare) Aspekt, dass Stockhausen in dem vierkanaligen Stück (wie übrigens zuvor auch schon im Gesang der Jünglinge) die Bewegung der Klänge im Raum minutiös mitkomponierte, wofür er unter anderem eigens einen sogenannten Rotationstisch konstruierte. Heutzutage ist im elektroakustischen Bereich mindestens achtkanalige Wiedergabe der Normalfall, und schon in Stockhausens Oktophonie wird dabei auch mit dreidimensionalen Raumbewegungen gearbeitet. Entsprechendes findet sich in der elektronischen Unterhaltungsmusik aufgrund von deren Fixierung auf massentaugliche Tonträger bis heute bestenfalls in Ansätzen - ganz abgesehen davon, dass man angesichts der alten Quadro-Fassungen von Wish you were here oder der 5.1-Surroundfassungen mancher Pink-Floyd-, Björk-, Peter-Gabriel- oder Talking-Heads-Alben wohl eher von Raum-Effekten als von wirklicher Raum-Komposition sprechen kann.

Und schließlich hat sich seit 1960 die Technik nicht nur im Bereich der elektronischen Popmusik weiterentwickelt. Stockhausen - der in den letzten Jahrzehnten zugegebenermaßen den Kontakt zu neueren Entwicklungen ein wenig verloren hat, aber immerhin wird der Mann auch bald 80 Jahre - und viele andere haben bereits in den 1970er Jahren mit dem EMS Synthie 100 gearbeitet, und heutzutage setzen Komponisten wie Jean-Claude Risset, Fracois Bayle, Ludger Brümmer, Hans Tutschku, Flo Menezes und Gilles Gobeil selbstverständlich modernste digitale Technologien bis hin zur Granularsynthese oder zum Physical Modelling ein, die in Institutionen wie der Pariser GRM, dem Pariser IRCAM oder dem ZKM in Karlsruhe eigens für die entsprechenden Zwecke entwickelt werden. Gerade Komponisten wie Brümmer und Tutschku insistieren darüber hinaus darauf, nicht auf vorgefertigte Software-Tools (etwa die allgemein beliebten GRM-Tools) zurückzugreifen (wie das in der kommerzialisierten Popmusik weitgehend üblich ist), sondern ihre Klangwerkzeuge selbst zu programmieren, um über jeden Aspekt des Klanges wirklich kompositorische Kontrolle zu bewahren.

Wenn Du einmal die aktuelle elektronische Unterhaltungsmusik (die freilich, sofern sie klanglich interessant ist, meistens nicht mehr sehr "unterhaltend" und darüber hinaus oftmals formal unzureichend ist) mit den Werken zeitgenössischer Komponisten wie Tutschku oder Brümmer vergleichst, wirst Du Deine Ansicht, dass man in der elektronischen Unterhaltungsmusik "weiter" sei, vermutlich sehr schnell korrigieren.


Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 02. Dez 2007, 18:49 bearbeitet]
Klassikkonsument
Inventar
#83 erstellt: 02. Dez 2007, 18:00
Hallo Aladdin,

vielen Dank für Deine ausführlichen und weiterführenden Anmerkungen. Auf jeden Fall interessiert mich weiterhin auch das Verhältnis von elektroakustischer Avantgarde und (mehr oder minder) "unterhaltender" Elektromusik aus dem Bereich der Subkultur, weil ich mehrere Leute kenne, die über letzteren einen Draht zur Klassik (z. B. Webern oder Ligeti) gefunden haben.

Viele Grüße

teleton
Inventar
#84 erstellt: 03. Dez 2007, 13:36
Hallo Aladdin,

ich weis ja, dass Du ein großer Verfechter von Moderner Musik bist.

Du schreibst eine ganze Menge über Stockhausen, was sich durchaus interessant anhört. So, als sollte man sich unbedingt mit ihm befassen.

Was ich allerdings von Stockhausen gehört habe, hat mir nie gefallen.
Wer hört heute Stockhausen ??? Wo werden noch CD´s angeboten ???
Ist das nicht Musik für eine winzige Gruppe ??? Solche die sich avantgardistisch hervortun wollen ???
Was bringt Dir diese Musik (wobei ich die Bezeichnung Musik oft verfehlt finde) ???
Ich habe den Eindruck, als wenn er ziemlich aus dem Konzertleben verschwunden ist.
Irre ich mich da ?


Zu elektronischer Musik:
Ich selber mache seit meiner Jugend auch elektronische Musik und habe dazu verschiedene Synthesizer von KORG, KAWAI und YAMAHA zur Verfügung. Dies natürlich aus praktischen Gründen, da man selber ja kein Orchester zur Verfügung hat.

Du nennst da einige Komponisten: Jean-Claude Risset, Fracois Bayle, Ludger Brümmer, Hans Tutschku, Flo Menezes und Gilles Gobeil.
Das sind Namen, die ich noch nie irgendwo gehört oder gelesen hätte !?!

Meine Vorliebe der elektrobischen Musik rührt noch von der WDR-Rundfunksendung SCHWINGUNGEN her, die bis Mitte der 90er-Jahre im WDR1; wöchentlich von 22:00 bis 0:00Uhr lief. Da spielten aber auch eher Namen eine Rolle, die sich mit der damaligen Richtung NewAge befaßten, die Grundelemente des modernen Jazz verwendet:
Tangerine Dream an der Bekanntheitsspitze (um nur einen der zahlreichen Namen zu nennen).
Da finden sich CD-Alben, die heute noch auf dem Label IC zu Höchstpreisen gefragt sind.
Die Alben von Dancing Fantasy sind auch nach 15Jahren noch beliebt und gefragt, was ich nachvollziehen kann - ich habe sie alle.
Das würde jetzt natürlich ein OT-Thema, bei dem ich vom Allgemeinbegriff Klassik abgewichen bin.
Aber egal - das ist Musik !
AladdinWunderlampe
Stammgast
#85 erstellt: 08. Dez 2007, 10:34
Hallo Wolfgang,

aus traurigem aktuellen Anlass habe ich den Stockhausen betreffenden Teil Deiner skeptischen Anfragen hier beantwortet.
Zum Rest äußere ich mich, sobald ich etwas mehr Zeit habe.


Herzliche Grüße
Aladdin
Mellus
Stammgast
#86 erstellt: 11. Dez 2007, 13:33
Hallo Klassikkonsument und alle anderen,

nochmal kurz zu Lachenmann und seinem Streichquartett "Reigen seliger Geister". Es war ja offenbar eine Weile lang nicht möglich, eine CD mit diesem Stück zu bekommen -- zumindest nicht zu bezahlbaren Preisen. Aber nun hat das Warten ein Ende! Vor ganz Kurzem hat das Label KAIROS eine Lachenmamm-CD mit dem gesuchten Stück und noch mit "Grido" und "Gran Torso" herausgebracht. Es spielt das Arditti-Quartett. Vielleicht ist das ja noch für jemand anders von Interesse.

Viele Grüße,
Mellus
Mellus
Stammgast
#87 erstellt: 31. Jan 2008, 15:39
Hallo zusammen,

vor langer Zeit ga es in diesem Thread einen Beitrag, unter den


AladdinWunderlampe schrieb:
Insofern auch weiterhin
getreu der Cage-Devise
Happy New Ears


Zwar kannte ich den "Gruß", wusste aber nicht, dass er von John Cage stammt. Ich dachte immer an Hans Zender, da er ein Buch mit eben diesem Titel geschrieben hat.

Obwohl der wortwörtliche Spruch wohl von Cage stammt, ist es vielleicht aber gar nicht seine Devise. Vor Kurzem habe ich mal wieder den Antichrist von Friedrich Nietzsche zu Hand genommen und was lese ich da im Vorwort?


Nietzsche schrieb:
Neue Ohren für neue Musik.


Die Ähnlichkeit ist doch verblüffend, oder nicht!? Zumindest wenn man den Satz aus dem Kontext des restlichen Vorworts reißt.)

Viele Grüße,
Mellus
AladdinWunderlampe
Stammgast
#88 erstellt: 31. Jan 2008, 15:56

Mellus schrieb:

Die Ähnlichkeit ist doch verblüffend, oder nicht!?


Es zeigt immerhin, dass die Rezeptionsprobleme, die man der Neuen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder anzulasten pflegt, musikgeschichtlich nichts Neues sind. Ähnliche Aufforderungen von Frescobaldi und anderen Komponisten der musikalischen Vergangenheit erweisen vielmehr, dass es eine fixe "Natur" des Hörens - der dann eine ebenso fixe Natur der "Musik" zu entsprechen hätte - nicht gibt und dass anscheinend das Musikpublikum aller Epochen im Umgang mit jeweils neuartiger Musik seine Hörgewohnheiten erst einmal neu zu fokussieren hatte.

Vielleicht macht gerade dies sogar einen besonderen Reiz im Umgang mit sehr neuer (und sehr alter) Musik aus: Die Widerstände, die sie dem prompten Verstehen entgegensetzt, verdeutlichen, wie perspektivisch und damit unabschließbar jeglicher Verstehensprozess ist - und lassen den Rezipienten vielleicht auch ein wenig an der Vorstellung irre werden, vermeintlich Vertrautes endgültig durchschaut zu haben.

In diesem Sinne wünsche ich jedem Musikliebenden gelegentlich Ohren, in denen auch Bach, Mozart und Chopin so fremd, ja befremdlich zu klingen beginnen, dass neu entdeckendes Hören wieder möglich wird...



Herzliche Grüße
Aladdin
Mellus
Stammgast
#89 erstellt: 13. Feb 2008, 02:00
Hallo allerseits,

bei der einen oder anderen Gelgenheit in diesem Forum habe ich ja schon auf eine kleine Orchesterpraline hingewiesen. Sie passt aber auch prima in diesen Thread, der ja quasi meine HiFi-Forum-Wiege ist. Daher möchte ich mit einigen Worten mehr das Orchesterstück hier noch einmal anpreisen. (Aus dem Jubiläumsbeitrag ist nichts geworden, ich habe zwischendurch das Zählen verlernt .)

Den meisten dürfte Peter Eötvös als Dirigent vor allem zeitgenössischer Musik bekannt sein. Der Komponist Peter Eötvös hingegen ist vielleicht weniger geläufig. Daher möchte ich ein kleines, aber feines Werk von ihm vorstellen: Shadows.

Peter Eötvös wurde 1944 in Transsylvanien (Ungarn) geboren -- er ist damit Landsmann von Béla Bartók und György Ligeti. In Budapest und Köln studierte er Komposition und Dirigieren. Einer seiner prägenden Lehrer war Karl-Heinz Stockhausen. Von 1992-1998 hatte Eötvös eine Professur an der Musikhochschule Karlsruhe inne, seit 1998 ist er Professor an der Musikhochschule Köln.

Shadows ist ein etwa 15-minütiges, dreisätziges Stück für Flöte, Klarinette, Celesta, kleine Trommel, Pauken, zwei kleine Streichergruppen, Holzbläser, Blechbläser. Sechs Lautsprecher verstärken und reflektieren einzelne Klänge oder Instrumente. Die Flöte und die Klarinette stehen als Soloinstrumente im Mittelpunkt und werden von den anderen Instrumentengruppen begleitet. Trotz des Titels ist es keine Programmmusik (abgesehen wahrscheinlich vom letzten Satz). Vielmehr handelt es sich um musikalische "Schattenspiele". Die Idee der Schatten wird auf drei Ebenen umgesetzt: In der Orchesteraufstellung, im musikalischen Verlauf und als Sujet im dritten Satz.

Die Spieleraufstellung, die in der Partitur vorgesehen ist, platziert Klarinette und Flöte in der Mitte des Bühnenraumes. Dicht dahinter (vom Publikum vor der Bühne aus gesehen) stehen die kleine Trommel und die Celesta. Diese Instrumentenkombo ist umringt von den restlichen Spielern, die jeweils zum Mittelpunkt, also zur Flöte und Klarinette hin ausgerichtet sind. Mittig hinter der zentralen Kombo (Perspektive wie ebend) befinden sich die Pauken, hinten links die ersten, hinten rechts die zweiten Steicher. Vorne links stehen die Holzbläser, vorne rechts die Blechbläser. Da die Instrumentengruppen jeweils zur Mitte hin ausgerichtet sind, sieht das Publikum von den Bläsern nur den Rücken -- und hört einen indirekten Bläserklang. Diese Spieleraufstellung ermöglicht das erste Schattenspiel: Die Streicher schaffen eine Art Grundschicht (Schatten müssen ja auf etwas fallen). Die Pauke ist ein Schatten der kleinen Trommel. Die Flöte wirft Holzbläser als Schatten, die Klarinette Blechbläser.

Das in der Orchesteraufstellung reflektierte Schattenwerfen wird natürlich nur durch einen entsprechenden Tonsatzes deutlich -- die zweite Schattenebene. Auffallendstes Klangphänomen: Phrasen, die von einem der aufstellungsmäßig zentralen Instrumente vorgebracht werden, werden von ihren Intrumentalschatten aufgenommen. Vor allem im ersten Satz klingen die Hauptdarsteller selbst sehr schattenhaft. Eötvös zaubert hier kleine Klangperlen, verschleierte Schönheiten in den Konzertsaal/auf die CD. Der zweite Satz hat etwas jazziges: Die Instrumente treten in Dialog, spinnen Gedanken fort, die woanders auftauchen, finden zusammen in sehr eingänglichen rhythmischen Passagen. Da muss viel Licht sein, wo so viel Schatten ist. Das Booklet nennt das "Dramaturgie der Form".

Eine dritte Schattenebene wird im dritten und letzten Satz -- dem längsten -- eingelöst. Man muss dazu wissen, dass Peter Eötvös diesen Satz seinem im ALter von 25 Jahren ums Leben gekommenen Sohn gewidmet hat. Hier klingt uns das Schattenreich in dunklen, langsamen Takten entgegen. Sie Soloinstrumente haben Sendepause. Bis ein kurzes, schrilles Crescendo von Pauke und Streichern (Der Riss des Lebensfadens?) die Einleitung beendet. Danach umspielen sich Flöte und Klarinette in einem schwermütigen Gesang. Unter dezenter Hinauskomplementierung von Celesta, kleiner Trommel und sanften Paukenschlägen klingt der Satz und mit ihm das ganze Stück in Ungewisse aus. Schatten halt.

Shadows ist auf einer Kairos-CD zusammen mit Chinese Opera und Steine enthalten. Es spielt das Klangforum Wien unter der Leitung des Komponisten selbst.

In Ermangelung eines Schatten-Wortspiel-Grußes einfach nur viele Grüße,
Mellus
Mellus
Stammgast
#90 erstellt: 19. Feb 2008, 00:01
Hallo ihr da draußen,

eigentlich sollte dieser Thread in erster Linie der Musik und nicht den Interpretationen auf CD gewidmet sein. Aber Musik ist nunmal, um mit Nelson Goodman zu sprechen, eine zweistufige Kunst: die eine Stufe ist die Partitur, die andere die Aufführung. Durch Aladdins großartige Analyse von Berios Sinfonia sind wir ja alle Fans dieses Werkes geworden. Aladdin hatte auch eine Einspielungsempfehlung parat, der letzlich nicht zu widersprechen ist:


AladdinWunderlampe schrieb:
Die „klassische“ Einspielung der Sinfonia hat Pierre Boulez mit den „New Swingle Singers“, und dem Orchestre National de France vorgelegt. Diese Aufnahme ist heutzutage recht günstig in der Reihe „APEX“ zu haben. Ich kann aber noch eine weitere Einspielung dieses Werks wärmstens empfehlen, in der mir durch die etwas mehr zurückgenommenen Stimmen die Balance gelegentlich noch besser getroffen zu sein scheint als in der (hervorragenden) Boulez-Einspielung:

Luciano Berio: Formazioni / Folk songs / Sinfonia; Jard van Nes, Electric Phoenix, Royal Concertgebouw Orchestra, Leitung: Riccardo Chailly (Decca 425 832-2).


Trotzdem möchte ich meinen Senf dazugeben, vielleicht ist sich ja noch jemand unschlüssig, ob es sich lohnt über 10 EUR mehr für den Chailly auszugeben.

Kennengelernt habe ich die Sinfonia durch die Boulez-Einspielung. Mittlerweile kenne ich aber auch die Chailly-Version. Im Vergleich der beiden Einspielungen muss ich sagen, dass ich die Boulez-Version tatsächlich für den besseren Einstieg in die Sinfonia halte. Sie hat zum einen eine geringere Lautstärkedynamik. Unterschiede in der Betonung durch Amplitude sind zu Anfang eh nicht nachvollziehbar, sie sind eher ein zusätzlicher, erschwerender Parameter. Die Stimmen sind bei Boulez auch deutlich im Vordergrund. Das schafft eine Art "Hörgeländer" v.a. im 3. Satz, an dem man sich entlanghangeln kann. Da Sprache ganz natürlich das Medium ist, das für menschliche Organismen höchst bedeutungsvoll ist und sowieso die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, erleichtert es Boulez dem Hörer durch die Betonung des Gesangs/Sprech-Parts. Der Boulez ist in meiner Sicht eine "didaktische" Einspielung, die als Einstieg in die Sinfonia wirklich toll ist.

Wenn die Einstiegsphase überwunden ist und die Begeisterung für die Sinfonia anhält, dann lohnt es sich auf jeden Fall den Chailly anzuschaffen. Denn wenn man die Sinfonia gut im Ohr hat und die Reizüberflutung der ausgewogenen Dynamik zu schätzen weiß, dann (und wohl nur dann) macht die Chailly-Version richtig Sinn -- mehr Sinn als die Boulez-Konkurrenz.

"Thank you, Mr. Wunderlampe" , Grüße,
Mellus
AladdinWunderlampe
Stammgast
#91 erstellt: 22. Feb 2008, 21:13
Liebe Freunde der Neuen Musik,

gerade in Hinblick auf die Musik des 20. Jahrhunderts scheint mir 2008 ein ganz besonderes Jahr zu sein: jähren sich doch die Geburtstage von gleich vier der bedeutendsten Komponisten des letzten Jahrhunderts:

Vor einhundert Jahren, am 10. Dezember 1908, wurde in Avignon Olivier Messiaen geboren. Genau einen Tag später, am 11. Dezember 1908, kam Elliott Carter in New York City zur Welt; da er als einziger der vier Komponisten noch lebt, hat er gute Chancen, in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag zu feiern. Vor neunzig Jahren, am 20. März 1918, wurde in Erftstadt-Bliesheim Bernd Alois Zimmermann geboren; und am 22. August 1928 erblickte in Möderath (Kerpen) Karlheinz Stockhausen das LICHT dieser Welt...

Insbesondere die Biographien und die Musik Messiaens, Zimmermanns und Stockhausens sind auf vielfältige Weisen miteinander verwoben:

Messiaen, der sicherlich neben Arnold Schönbergs der bedeutendste und einflussreichste Kompositionslehrer des 20. Jahrhunderts war (zu seinen Schülern zählen unter anderem Pierre Boulez, Iannis Xenakis, Francois Bayle, Gérard Grisey und Tristan Murail) war auch für Stockhausen, der in den 1950er Jahren in Paris bei ihm studierte, ein wichtiger Impulsgeber - insbesondere natürlich mit Stücken wie dem berühmten Mode de Valeur et d’intensités von 1949, der in Stockhausens frühen punktuellen Werken (Kreuzspiel) deutliche Spuren hinterlassen hat.

Und dass Zimmermann Messiaens Musik ebenfalls sehr schätzte, wird nicht nur aus einigen Texten, sondern vor allem auch daran kenntlich, dass er in mindestens zwei seiner Kompositionen - den Monologen sowie dem Requiem für einen jungen Dichter - Ausschnitte aus Messiaens L'Ascension zitierte.

Die Beziehung zwischen Zimmermann und Stockhausen, die beide seit den 1950er Jahre in Köln wirkten, war dagegen überaus schwierig, empfanden sich die beiden doch offenbar als Konkurrenten und haben sich teils sehr kritisch über den jeweils anderen geäußert. (Zimmermann hat sogar im Klaviertrio Présence sowie in seiner Musique pour les soupers du Roi Ubu Zitate aus den Zeitmaßen sowie dem Klavierstück X von Stockhausen verwendet, die aber - anders als die Messiaen-Zitate - durch den Kontext eindeutig negativ markiert sind.)

Doch obwohl Zimmermann und Stockhausen sehr unterschiedliche Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Neuer Musik und musikalischer Tradition besaßen, haben sie sich in bestimmten Aspekten vom Werk des jeweils anderen beeinflussen lassen: Zimmermann knüpfte seit 1960 an Stockhausens in den Gruppen für 3 Orchester entwickelte serielle Verfahren an und band sie höchst originell in den Kontext seines eigenen zeitphilosophischen Konzepts ein; und Stockhausen (der entsprechende Einflüsse freilich notorisch verleugnete) griff spätestens seit den späten 1960er Jahren bestimmte Aspekte von Zimmermanns Collagetechnik und deren gedanklichen Überbau auf.

Dies alles scheint mir Grund genug zu sein, dieses Jahr Messiaen, Zimmermann und Stockhausen im Neue-Musik-Thread besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Ich selbst habe vor, einige entsprechende Beiträge zu verfassen. Aber natürlich möchte ich auch alle anderen ermuntern, uns ihre Gedanken zur Musik und zum musikalischen Denken der drei genannten Komponisten (und gerne auch über Elliott Carter, von dem ich bisher viel zu wenig kenne) darzulegen. Ich bin schon auf Eure Beiträge gespannt!



Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 22. Feb 2008, 21:19 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#92 erstellt: 17. Mrz 2008, 18:41
Leute, hört (mehr) B.A. Zimmermann!

Verzeiht meinen überfallartigen Auftritt, aber in letzter Zeit hat mich wenig so sehr begeistert wie folgende CD mit Kammermusikwerken von Bernd Alois Zimmermann: Hans Zender dirigiert das SWR Sinfonieorchester mit Cello Concerto, Impromptu, Antiphonen, und Photoptosis.



Zwar kannte ich Zimmermanns Requiem, seine sonstigen Werke -- mit Ausnahme von Stille und Umkehr -- waren mir bisher unbekannt.

Dummerweise kann ich gerade nicht so recht etwas Sinnvolles über die Musik sagen, die es auf der angepriesenen CD zu hören gibt. Sie ist jedenfalls von vorne bis hinten extrem spannend! Ständig passiert etwas Neues, entwickelt sich die Musik in Richtungen, die ich nicht vermutet hätte. Manchmal gibt es aber auch Stillstand. Und Schichten, gerne gebildet aus musikalischer Tradition. Das ist auch was für Intuitiv-Hörer wie mich. In Photoptosis beispielsweise kommt immer mehr Dynamik in eine "stehende Welle", die dann in einem ersten Höhepunkt kulminiert in ... -- nein, das verrate ich doch nicht, vielleicht mag es ja noch jemand hören. In dieser Schicht, in die man dann vorgestoßen ist, wehen noch einige vertraute Klänge herüber, bis sie wieder untergehen im photoptosischen Strom.

Eine ganz entscheidende Dimension in der Zimmermannschen Musik ist wohl die Zeit -- ich bilde mir ein, das in der Musik gehört zu haben (Stillstand vs. Fluss, Entspannung vs. Druck, Linearität vs. Gleichzeitigkeit, ...). Da ich aber natürlich von Zimmermanns philosophischer Position der "Kugelgestalt der Zeit" gehört habe, kann ich nicht ausschließen, davon beeinflusst zu sein.

Die Stücke auf der genannten CD sind wirklich alle toll und bei dem fast schon lächerlichen Preis findet sie hoffentlich noch viele Hörer!

Nicht nur da ich selbst so wenig zur Musik sagen kann, obwohl ich sie wirklich großartig finde, bin ich gespannt auf Eure Meinungen und auf Aladdins Zimmermann-Essay.

Viele Grüße,
Mellus
Mellus
Stammgast
#93 erstellt: 20. Mrz 2008, 16:31
Passend zum voherigen Eintrag sendet WDR3-Radio heute abend ab 20:05 Uhr zum 90. Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann ein
B.A. Zimmermann Special. Frequenzen und Live-Stream gibt es auf der WDR-Homepage.

Grüße,
Mellus
AladdinWunderlampe
Stammgast
#94 erstellt: 20. Mrz 2008, 17:56
Hallo Mellus,

herzlichen Dank für den Radio-Tipp zu Zimmermann, dessen heutiger 90. Geburtstag in diesem Forum wirklich nicht sang- und klanglos vorübergehen sollte.


Mellus schrieb:
Nicht nur da ich selbst so wenig zur Musik sagen kann, obwohl ich sie wirklich großartig finde, bin ich gespannt auf Eure Meinungen und auf Aladdins Zimmermann-Essay.


Ich befürchte, einen "Essay" zu Zimmermann darf hier niemand von mir erwarten. Ehrlich gesagt drücke ich mich seit längerem schon vor meinen angekündigten Zimmermann-Beiträgen herum, weil mich die Größe des Gegenstandes ein wenig einschüchtert. Die Musik Zimmermanns - zumindest die der 1960er Jahre - finde ich so beeindruckend, dass ich kaum wage, ein Wort über sie zu sagen.


Herzliche Grüße
Aladdin
Mellus
Stammgast
#95 erstellt: 20. Mrz 2008, 18:46
Hallo Aladdin,

es wäre natürlich sehr schade, falls es mit Deinem Zimmermann-Beitrag doch nichts wird, weil wir Deine Beiträge immer gerne lesen (wie Dir ja im Schubert-Thread erst bestätigt wurde).


AladdinWunderlampe schrieb:

Die Musik Zimmermanns - zumindest die der 1960er Jahre - finde ich so beeindruckend, dass ich kaum wage, ein Wort über sie zu sagen.


Nach dem, was ich bisher von Zimmermann kenne, kann ich Deine Beeindruckung nachvollfühlen (habe ich weiter oben ja auch allen mitgeteilt ). Jedoch würde es bei mir nicht "wage" sondern "vermag" heißen...

Vielleicht könntest Du aber anstelle eines "Essays" einfach Deine Lieblingsstücke von Zimmermann nennen? Ich bin an mehr interessiert und was ich kenne, weißt Du ja.

Übrigens gefällt mir Liza Lim ausgesprochen gut. Kann es sein, dass das Musik ist, die -- ob nun intendiert oder nicht -- sehr anspielungsreich ist? Bei mir evozierte sie zumindest viele Erinnerungen an andere Musik, die ich kenne (vielleicht sogar an Musik, die ich nicht kenne). Insofern kann man Lims Musik wohl, paradox, mit einem akustischen Geruch vergleichen; Gerüchen schreibt man ja die Eigenschaft Hervorrufens von Erinnerungen gemeinhin zu.

Beste Grüße,
Mellus
AladdinWunderlampe
Stammgast
#96 erstellt: 20. Mrz 2008, 21:37

Mellus schrieb:
Übrigens gefällt mir Liza Lim ausgesprochen gut. Kann es sein, dass das Musik ist, die -- ob nun intendiert oder nicht -- sehr anspielungsreich ist? Bei mir evozierte sie zumindest viele Erinnerungen an andere Musik, die ich kenne (vielleicht sogar an Musik, die ich nicht kenne).



Hallo Mellus,

komischerweise ist mir dieser Aspekt an Liza Lims Musik bisher noch gar nicht aufgefallen - vielleicht kenne ich aber nur nicht genug andere Musik, um derartige Anspielungen zu bemerken? Ich bin mir aber auch nicht sicher, ob ich Deine Bemerkung richtig verstehe, daher wäre ich um nähere Erläuterungen dankbar.


Herzliche Grüße
Aladdin
Mellus
Stammgast
#97 erstellt: 21. Mrz 2008, 11:39
Hallo Aladdin,


AladdinWunderlampe schrieb:
daher wäre ich um nähere Erläuterungen dankbar.


Gerne. Ein paar Beispiele: Voodoo Child, insbesondere die Gesangsstimme, erinnert mich sehr an Gagok von Isang Yun. Die Elefanten- oder Walartigen Blechblastöne, die in Veil verwendet werden, klingen nach Erkki-Sven Tüür, Architectonis IV "Per Cadenza ad Metasimplicity". Die kleine Phrase, auch in Veil, das erste Mal bei 2:04-2:10 auftritt ist, meine ich, aus der Melodie einer Fernsehserie oder eines Fernsehfilmes. Ich komme nur nicht drauf, welche/welcher -- wenn das überhaupt stimmt. Harmonisch-melodiöse Einsprengsel, wie sie in The Heart's Ear auftreten, erzeugen bei mir immer die flüchtige Vorstellung von romantischer Musik, ohne eindeutig Zitate ausmachen zu können (darauf spielte das kryptische "Musik, die ich nicht kenne" aus dem vorherigen Posting an). Im gleichen Stück werden auch ungewöhnliche Spielweisen benutzt, die von anderen Komponisten geprägt wurden, wie den Bogen wie einen Flummi auf den Saiten aushüpfen zu lassen.

Zugegeben, vieles kann Zufall (wie die Ähnlichkeit zu Yuns Musik, der ja, wie offenbar Lim in Voodoo Child, auf asiatische, in Yuns Fall: koreanische, Gesangstraditionen zurückgreift) oder einfach Ergebnis meiner Einbildung sein. Beim ersten anhören hatte ich jedenfalls einige solcher Assoziationen und der erste Eindruck hat nunmal des Erstsprachrecht.

Viele Grüße,
Mellus


[Beitrag von Mellus am 21. Mrz 2008, 11:39 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#98 erstellt: 30. Mrz 2008, 23:35
Hallo zusammen,

es soll noch einmal um Iannis Xenakis gehen. In einem früheren Beitrag wurde dieser Komponist samt seinem eigenwilligen Kompositionsansätzen von Aladdin bereits vorgestellt; entsprechende Angaben kann ich mir deshalb bequemerweise sparen.

Im Laufe dieses Monats habe ich einige Orchesterwerke von Xenakis gehört, die ich Euch ans Ohr legen möchte: Ata, N'Shima, Metastaseis, Ioolkos, Jonchaies. Eins ist klar: man wird keine Freude an Xenakis' Musik haben, wenn man sie hört wie, beispielsweise, ein Quartett, in dem vier individuelle Stimmen im Zusammenklang eine musikalische Gesamtstruktur ausmachen. Bei Xenakis ist im Gegenteil der Gesamtklang das Kompositionsprimitiv; er ist das Material, das der Komponist bearbeitet, verformt, behandelt. Vergleichbar einem Bildhauer "haut" Xenakis seine Werke aus dem Ausgangsmaterial. Xenakis verdinglicht den Klang, den er dann transformiert, verschlankt, auffächert, aufsteigen, entropieren lässt. Der Charakter, der klangliche Eindruck der einzelnen Stücke, bestimmt sich zu einem großen Teil durch das "Klangding", das jeweils zugrunde liegt: Das Spektrum reicht von Mamorblöcken (Metastaseis, Ata) bis hin zu Schilffeldern (Jonchaies). Xenakis' Orchesterwerke haben die Sinnlichkeit eines Faustschlage in die Magengrube. Das verdeutlicht aber nur die archaische Wirkung (trotz der wissenschaftlichen Methodik) seiner Musik: Ethnologische Allusionen wie die "Volksmusik" aus N'Shima, Klangkaskaden, die in den Weltraum aufsteigen (Ioolkos), rhytmische Frühlingsopfer alá Strawinsky in Jonchaies. Das letztgenannte Stück halte ich auch für eine Erstbegnung am geeignetsten, da es in weiten Teilen im klaren Metrum fortschreitet, eine einfache rhythmische Form, die (zumindest in meinen Ohren) für leichte Hörbarkeit sorgt.

Die CD, auf die ich mich beziehe, ist ist vom Label Col Legno herausgebracht worden und versammelt die Uraufführungsversionen der genannten Kompositionen (und zusätzlich noch Charisma, ein Duo für klarinette und Cello).

Viele Grüße und viel Spaß mit xenakischer Orchesterwucht,
Mellus

PS: Häufig findet sich auch die Schreibweise "Metastasis"; ich weiß nicht, was richtig ist.

PPS: Hat eigentlich mal jemand (außer Aladdin) Bernd Alois Zimmermann gehört? Mich interessiert schon, ob er auch andere begeistern konnte oder nicht (und warum oder eben nicht).
AladdinWunderlampe
Stammgast
#99 erstellt: 01. Apr 2008, 18:14
Hallo Freunde der Neuen Musik,

unter den von Mellus empfohlenen Orchesterwerken von Iannis Xenakis, die ich freilich nicht alle kenne, schätze ich - natürlich neben dem "Klassiker" Metastaseis, der das Xenakis'sche Idiom freilich noch nicht ganz lupenrein ausprägt, da zumindest im Mittelteil des Werks noch deutliche Einflüsse der seriellen Musik hörbar werden - insbesondere Jonchaies. Dieses Stück, das ungefähr zeitgleich mit der in meinem früheren Beitrag vorgestellten elektroakustischen Komposition La Légende d'Eer entstanden ist und übrigens die größte Orchesterformation in Xenakis' gesamten Oeuvre verlangt, weist meines Erachtens eine für Xenakis' eher monolithischen Kompositionsansatz eher ungewöhnlichen Fülle an unterschiedlichen Texturen auf. Interessant ist dabei auch, dass Xenakis hier einige Partien aus La Légende d'Eer gewissermaßen für den großen Orchesterapparat transkribiert: Die Schlusspartie der Piccoloflöten in Jonchaies ist eine Übertragung der Rahmenteile aus der elektroakustischen Komposition mit ihren wirklich schmerzhaften Sinustönen in höchster Lage und Lautstärke; und die auf- und abwogende Partie in der Mitte - die wohl für Mellus' Allusion an Strawinskys Sacre du Printemps verantwortlich sein dürfte - ist eine instrumentale Reformulierung der beinahe technoartigen elektronischen Pulsationen am Höhepunkt der Légende d'Eer. Interessant sind diese Parallelen nicht zuletzt, weil sie - in vollkommen anderen Medien realisiert - im Kontext der jeweiligen Komposition ganz andere Wirkungen und Bedeutungen zu entfalten vermögen.

Neben der bereits von Mellus genannten älteren Einspielung - deren Interpretationen freilich auch heute noch manche jüngere Aufnahmen weit in den Schatten stellen - kann ich auch die Aufnahme des Orchestre Philharmonique du Luxembourg unter der Leitung von Arturo Tamayo (Werke für großes Orchester Vol. 2, Timpani) empfehlen, die übrigens Teil einer sehr verdienstvollen Gesamtaufnahme der großen Orchesterwerke Xenakis' darstellt.



Für die Légende d'Eer bleibt weiterhin die vor einiger Zeit erschienenene 5.1-Abmischung auf DVD (Mode 148) die erste Wahl, die übrigens den ersten Teil einer - dringend notwendigen - geplanten Gesamteinspielung der elektroakustischen Musik von Xenakis' im Surround-Format bildet.




Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 01. Apr 2008, 23:46 bearbeitet]
Klassikkonsument
Inventar
#100 erstellt: 03. Apr 2008, 17:59
Hallo Mellus und alle Lim-Interessierte,


Mellus schrieb:
Die kleine Phrase, auch in Veil, das erste Mal bei 2:04-2:10 auftritt ist, meine ich, aus der Melodie einer Fernsehserie oder eines Fernsehfilmes. Ich komme nur nicht drauf, welche/welcher -- wenn das überhaupt stimmt.


Veil und Voodoo Child habe ich jetzt ein paar mal gehört, hatte jedoch in beiden Stücken zu der von Dir genannten Zeit keine Assoziation zu irgend einer bekannten Melodie.

Um Eingehenderes zu der Musik zu sagen, muss ich sie noch häufiger hören. Auf jeden Fall finde ich Voodoo Child und Veil sehr ansprechend. Wenn vielleicht auch nur aus äußerlichen Gründen wie der ähnlichen Besetzung (besonders bei 'V C' wegen der Gesangsstimme) erinnert mich diese Musik an Schönbergs Pierrot Lunaire. Und überraschende, neuartige Klänge gibt's auch.

Viele Grüße
Mellus
Stammgast
#101 erstellt: 07. Apr 2008, 21:44

Adri schrieb:
In diese Reihe passt sehr gut

Harrison Birtwistle


Hallo Adri,

ich hoffe, dass Du hier noch vorbeischaust. Mittlerweile bin ich Deinen beiden Birtwistle-Tipps nachgegangen und bereue es nicht. Zwar muss ich sagen, dass ich zu Birtwistles Musik keinen unmittelbaren Zugang gefunden habe -- außer vielleicht bei Earth Dances. Birtwistle hat irgendwie zu einer eigenen Art des Komponierens gefunden. Wohl nicht zuletzt deshlab ist aber unüberhörbar, dass es sich um gute und gut gemachte Musik handelt. Je mehr ich mich reinhöre, desto mehr meine ich davon zu verstehen. Also: ein harter Brocken für mich, aber danke für den Tipp!

Viele Grüße,
Mellus

Nachtrag: Gestern habe ich glatt vergessen danach zu fragen: Im Booklet zu The Triumph of Time steht, dass das Stück vom gleichnamigen Kupferstich Pieter Breughels d.Ä. inspiriert wurde. Diesen Kupfersstich konnte ich leider nicht ausfindig machen, wohl ein Gemälde namens The Triumph of Death. Weißt Du, Adri, oder weiß jemand anderes, was es damit auf sich hat?


[Beitrag von Mellus am 08. Apr 2008, 13:40 bearbeitet]
Suche:
Gehe zu Seite: |vorherige| Erste 2 3 Letzte |nächste|
Das könnte Dich auch interessieren:
* Alte Musik - Komponisten und Werke
JohnD am 22.08.2006  –  Letzte Antwort am 04.10.2013  –  32 Beiträge
Nordische Komponisten.
lapje am 21.08.2011  –  Letzte Antwort am 17.12.2011  –  14 Beiträge
Langweilige Komponisten?
Sir_Vival am 27.03.2006  –  Letzte Antwort am 29.03.2006  –  4 Beiträge
Huber, Hans: Werke des Schweizer Tonsetzers Hans Huber
Kratopluk am 02.10.2004  –  Letzte Antwort am 02.10.2004  –  3 Beiträge
Bach: Werke gesucht
fast-eddie am 27.11.2007  –  Letzte Antwort am 04.12.2007  –  4 Beiträge
Unterbewertete oder zu unrecht unbekannte Komponisten klassischer Musik
bluerockerflam am 14.10.2011  –  Letzte Antwort am 21.01.2012  –  10 Beiträge
* Komponisten im Schatten der Wiener Klassik
Martin2 am 09.08.2014  –  Letzte Antwort am 26.08.2014  –  40 Beiträge
Bedeutende deutsche Zeitgenossen von J.S. Bach und ihre Werke.
Alfred_Schmidt am 14.04.2004  –  Letzte Antwort am 15.04.2004  –  17 Beiträge
Nielsen, Carl (1865-1931): Werke von Carl Nielsen
FreakOfNature am 15.09.2004  –  Letzte Antwort am 08.11.2022  –  105 Beiträge
Südamerikanische Komponisten - außer Villa Lobos
Martin2 am 12.11.2009  –  Letzte Antwort am 24.11.2009  –  10 Beiträge

Anzeige

Aktuelle Aktion

Partner Widget schließen

  • beyerdynamic Logo
  • DALI Logo
  • SAMSUNG Logo
  • TCL Logo

Forumsstatistik Widget schließen

  • Registrierte Mitglieder925.731 ( Heute: 7 )
  • Neuestes Mitglied-MoritzL-
  • Gesamtzahl an Themen1.551.091
  • Gesamtzahl an Beiträgen21.537.936